Friedrich Gerstäcker
Die Colonie
Friedrich Gerstäcker

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7.

Die neuen Colonisten.

Der scharfe Ritt that dem wilden Reiter wohl, und weil er der Unsicherheit des Weges halber sein Thier fest im Zügel halten mußte, sammelten sich seine Gedanken auch wieder mehr auf seine äußere Umgebung.

An der Grenze des Städtchens schon fiel ihm das rege Leben auf, das er hier traf und das er gestern und vorgestern lange nicht so gefunden. Eine Menge von fremden abenteuerlichen Gestalten, die meisten mit Gewehren auf dem Rücken, als ob sie sich zu einem Kriegszuge gerüstet hätten, liefen hin und wieder, und als er sich des Direktors Hause näherte, fand er dieses von einem ganzen Menschenschwarm ordentlich belagert.

Glücklicher Weise traf er Einen der Hausleute, der ihm sein Pferd abnehmen konnte, und dieser theilte ihm auch mit, daß das Auswandererschiff angekommen sei.

Mit Mühe arbeitete er sich durch das Gedränge im untern Theile des Hauses, denn die Leute schienen der Meinung zu sein, daß Jeder von ihnen sein Haus und Feld schon fertig vorfände, und sie wollten sich jetzt nur beim Direktor erkundigen, »wo es läge«, damit sie gleich einziehen könnten.

Den Direktor fand er oben in einer ganz verzweifelten Stimmung, wie er sich gerade mit einem etwas zu frechen Burschen herumzankte und im Begriffe stand, diesen eigenhändig die Treppe hinunter zu werfen. Könnern behielt noch eben Zeit, dem Hinunterpolternden auszuweichen.

»Da haben wir's!« rief ihm der Direktor schon oben entgegen. »Jetzt sind sie da und nichts fertig – nichts in Ordnung, daß man sich auch noch von den Flegeln im eigenen Hause muß Grobheiten sagen lassen!«

»Nun, die Strafe folgte wenigstens auf dem Fuße,« lachte Könnern.

»Da soll einem Andern die Galle nicht überlaufen! Ich hätte mich an dem Lump eigentlich nicht vergreifen sollen, aber, bei Gott im Himmel, sie treiben's zu arg! Er nannte mich geradezu einen Ochsen und da gebrauchte ich mein Hausrecht!«

»Recht ist ihm geschehen,« sagte Könnern; »aber was nun? – Wo wollen Sie mit der ganzen Gesellschaft hin?«

»Sie können mir dabei helfen, Könnern.«

»Von Herzen gern, wenn ich eben nur weiß wie.«

»Ich habe für diesen Fall, da ich ja schon vorgestern von der Ankunft hörte, ein paar Häuser in der Stadt gemiethet; wir dürfen die armen Teufel, besonders die Frauen, doch nicht im Freien liegen lassen, denn es kann noch jede Nacht ein tüchtiger Regen einsetzen. In dem Auswandererhause bringe ich aber höchstens noch Acht oder Zehn unter, bei mir vielleicht auch noch Zwei oder Drei und die Uebrigen müssen in jene beiden Häuser einlogirt werden. Kommen Sie mit hinunter; wir sehen uns die beiden Baulichkeiten gleich noch einmal an, und dann sind Sie vielleicht so freundlich und übernehmen die Hinüberschaffung der Leute. – Apropos, wo waren Sie die Nacht? – Verirrt?«

»Nein; bei einem Herrn Zuhbel auf der Chagra.«

»Ah, bei meinem Freunde Zuhbel; nun, da hatten Sie wenigstens Concert und Wein,« sagte der Director trocken.

»Das sei Gott geklagt!« lachte Könnern.

»Und haben auch gleich einen Ueberblick über die Privatverhältnisse der Einzelnen bekommen. Doch lassen wir das. Jetzt an die Arbeit, und nachher müssen Sie mir von Ihrer Jagd erzählen!« – –

In dem kleinen Städtchen sah es heute wirklich bunt aus, denn gestern Abend noch, schon nach elf Uhr, waren die Einwanderer mit Booten heraufgekommen, wo sie natürlich an der Landung liegen bleiben mußten. Der Capitain hatte ihnen freilich abgerathen, die Fahrt noch so spät zu unternehmen, aber die Leute wollten so rasch als möglich brasilianischen Grund und Boden betreten und nur wenige waren klug genug gewesen, den nächsten Morgen abzuwarten, um ihren Einzug in Brasilien zu halten. Jetzt strömten sie nun nach allen Richtungen in der Stadt umher und als man sie haben wollte, um ihren nächsten Aufenthalt zu ordnen, war eben Keiner zu finden.

Nur mit großer Mühe gelang es Könnern und dem Director, die Leute endlich in die allerdings engen Räumlichkeiten hinein zu bringen, und sie fanden hier wieder bestätigt, daß alle die, denen man es ansah, wie sie früher in besseren und behäbigeren Verhältnissen gelebt, am leichtesten zu befriedigen waren und sich die größten Unbequemlichkeiten gern gefallen ließen, während gerade die abgerissensten und verwahrlostesten Subjecte sich mit nichts zufrieden zeigten und die größten Ansprüche machten.

Noch drei Familien waren übrig geblieben, die im Anfang auch gar kein Verlangen nach einem Unterkommen zu haben schienen und unten ruhig am Wasser saßen, dem Treiben der Anderen zuzusehen. Der Director hatte sich gefreut, daß sie vernünftig abwarteten, bis die Reihe an sie kam, und schon beschlossen, sie so gut als irgend möglich zu quartieren.

Jetzt ging er, während Könnern sich noch mit einer andern Familie oben in der Stadt abquälte, zu ihnen und sagte:

»So, Ihr Leute, Ihr sollt nicht zu kurz gekommen sein, daß Ihr mir das Leben nicht auch schwer gemacht habt. Die Frauen mögen nun noch bei den Sachen bleiben und Ihr Männer packt indessen auf den Karren, der da gerade wieder die Straße herunterkommt, was Ihr eben laden könnt. Ich habe für den Augenblick nur noch das eine Fuhrwerk zur Verfügung.«

»Ja, das ist schon gut,« sagte der eine Mann, der auf einer Kiste saß und auch keine Miene machte aufzustehen; »wann kommt denn aber nun eigentlich das Schiff?«

»Welches Schiff?«

»Nun, unser Schiff!«

»Das Euch hergebracht hat?«

»Nein, das andere.«

»Das andere? Was für ein anderes?«

»Nun, das uns von hier nach Rio Grande bringen soll.«

»Nach Rio Grande? Ja, Leute, wollt Ihr denn schon wieder fort? Ihr seid doch eben erst angekommen!«

»Ja, Wir haben alle unsere Freundschaft bei Rio Grande.« sagte die eine Frau, »und die Passage auch dorthin bezahlt.«

»Aber hier legt nie ein Schiff nach Rio Grande an,« sagte der Director; »da müßtest Ihr erst wieder nach Santa Catharina fahren, und das kann noch sechs oder acht Wochen dauern, bis sich dazu Gelegenheit findet. Wenn Ihr dahin wolltet, so mußtet Ihr doch wahrhaftig mit keinem Schiffe nach Santa Clara fahren. Da hättet Ihr Euch vorher erkundigen sollen.«

»Ja, das haben wir doch gethan!« sagte der eine Mann; »der Herr Agent in Antwerpen hat uns ja auch gesagt, das Schiff hier brächte uns nach Santa Clara, und Rio Grande wäre dicht dabei – er hat's uns ja auch auf der Karte gezeigt – keinen Finger breit von einander war's.«

»Und Euer Schiffscontract ist bis nach Rio Grande gemacht?

»Da – hier steht's,« sagte der Mann und zog das Papier aus der Tasche.

Der Director nahm es; aber auf den ersten Blick sah er schon, daß in dem Contracte stand: Von Antwerpen nach Santa Clara. »Da steht ja kein Wort von Rio Grande?« fragte er den Auswanderer.

»Na, natürlich nicht, weil's dicht dabei liegt,« brummte dieser verdrießlich; »das hat uns ja der Herr Agent ganz genau auseinander gesetzt, daß das Schiff nur bis Santa Clara ginge und daß dann ein anderes daneben liege, welches uns gleich hinüberbringe. Die Schiffe fahren ja doch alle hier erst in Santa Clara an – so dumm sind wir auch nicht, daß wir das nicht genau ausgemacht hätten.«

Der Director faltete den Contract langsam zusammen und gab ihn dem Manne zurück.

»Lieber Freund,« sagte er ruhig, »die Sache ist höchst einfach die, daß Ihr Euch in Antwerpen habt anführen lassen – weiter nichts. Der Agent dort hatte gerade dieses Schiff liegen und seinem Contracte nach Passagiere dafür zu schaffen; deshalb seid Ihr da mit ausgepackt und fortgeschickt. Zwischen hier und Rio Grande besteht gar keine regelmäßige Verbindung; nur zu Zeiten bietet sich Gelegenheit durch einen der kleinen Küstenfahrer, der Euch nach Santa Katharina bringen könnte. Dort müßt Ihr aber wieder auf ein Dampfschiff. Was außerdem die kleine Entfernung betrifft, so könnt Ihr die Reise nach Santa Catharina vielleicht in Vier bis fünf Tagen machen, wenn der Wind gut ist – im andern Falle nimmt sie eben so viele Wochen in Anspruch, und von da sind auch wieder drei bis vier Tage nach Rio Grande nöthig. Außerdem wird Euch diese Tour fast noch eben so viel kosten, als die Reise von Deutschland hierher.«

»Aber Du großer, allmächtiger Gott, wir haben ja keinen Pfennig Geld mehr!« schrie die eine Frau.

»Und der Agent hat gesagt, daß uns die Reise von hier nach Rio Grande keinen Heller kosten sollte.«

»Dann hat der Agent einfach gelogen,« sagte der Direktor ruhig, »und es ist eine Betrügerei, wie sie schon mehrfach vorgekommen.«

»Oh, Du mein gütiger Heiland,« jammerte eine andere Frau, »dann sind wir verrathen und verkauft und müssen hier elend verderben!«

»Beruhigt Euch, so schlimm ist die Sache noch nicht,« tröstete sie der Direktor – »wenn Ihr Euch nicht vielleicht doch noch entschließt, hier zu bleiben und Euch hier niederzulassen.«

»Aber wir haben unsere ganze Freundschaft bei Rio Grande; meiner Schwester Sohn und der Elias und die Dorothea sind auch drüben und warten auf uns.«

»Gut, gut, ich sehe jetzt schon, wie die Sache steht; ich will einen Versuch machen und an die Regierung nach Rio schreiben, welche schon mehreren anderen armen Auswanderern, die von betrügerischen Agenten in eine ähnliche Lage gebracht worden, geholfen hat, und vielleicht läßt sich doch noch Alles einrichten.«

»Und wann können wir fort?« fragte die Frau rasch – »kommt das Schiff bald?«

»Ja, liebe Frau,« sagte der Director, »so rasch geht die Sache nicht; wenn ich Euch in zwei oder drei Monaten hier wegbringe . . .«

Ein lautes Gejammer der Frauen unterbrach ihn, aber es war hier gar nichts weiter zu thun. Die Leute hatten sich einmal betrügen lassen und es blieb nichts Anderes übrig, als die Regierung um Hülfe anzusprechen, was freilich nicht in ein paar Tagen gethan war. Der Brief allein brauchte acht Tage, bis er hinkam. Diese Leute mußten aber eben doch untergebracht werden und wie sie in der ganzen Zeit erhalten werden sollten, blieb außerdem noch zu bedenken Die Männer waren indessen kräftig und konnten arbeiten, und Arbeit gab es immer, wenn es auch nur zu Wegebauten gewesen wäre.

Daß der Director nicht viel ruhige Stunden bei all' diesem Wirrwar hatte, läßt sich denken, und außerdem wollte auch noch der Bursche, den er etwas unsanft aus seinem Hause gesetzt, die Einwanderer gegen ihn aufhetzen und lief von einer Gruppe zur andern, ihre Hülfe fordernd, weil er nichtswürdig behandelt sei und sich das nicht gefallen zu lassen brauche. Die Leute hatten aber heute zu viel mit sich selber zu thun; außerdem kannten sie den Gesellen schon von der Reise her und mochten sich nicht mit ihm einlassen.

Es war eine verwilderte Gestalt, der Bursche, eine Persönlichkeit, wie man sie daheim besonders in Meßbuden und herumziehenden Banden oder Menagerien trifft. Er trug einen hellblauen, fleckigen und zerrissenen Rock, schmutzige Soldatenhosen, keine Weste und auf dem Kopfe eine dunkelblaue Mütze mit einem Stück schmaler Silbertresse darum genäht. Schnurrbart und Knebelbart ließ er sich ebenfalls wachsen. Mit den blonden Haaren hatte sein Gesicht auch trotz der markirten Einschnitte etwas Jungenhaftes behalten, was durch den übergeschlagenen schmutzigen Hemdkragen noch unterstützt wurde und man wäre versucht gewesen, ihn auf den ersten Blick für einen verwahrlosten Burschen von achtzehn bis zwanzig Jahren zu halten.

Während er aber mitten auf der Straße stand und schimpfte und fluchte, saß neben ihm sein bleiches, abgehärmtes Weib, ein Kind an der Brust und ein Mädchen von etwa acht und ein Junge von zehn Jahren neben ihr stehend – ein Bild des Jammers, mit großen Thränen in den Augen.

Eine ganze Lebensgeschichte von Jammer und Leid lag in ihrem Antlitz, in der ganzen gebrochenen Gestalt – aber sie klagte nicht, kein Wort kam über ihre Lippen. Nur das Kind beschwichtigte sie mit der einen Hand, während sie mit der andern sich das Blut von der Stirn wischte, wohin sie der Unmensch, als sie ihn gebeten hatte, keinen Streit am ersten Tage anzufangen, mit roher Faust geschlagen.

Doch nicht nur solche traurige Bilder bot die Scene. Auf einem kleinen Leiterwagen, dem man nur durch eine Partie Strohschütten einige Elasticität abgewonnen und der, von ein paar kräftigen braunen Pferden gezogen, lustig dahergerasselt kam, wurden im scharfen Trabe ein Mann und eine Frau die breite Straße entlang geschüttelt, die in die Stadt hinein führte. Der Mann sah sonnverbrannt, aber kräftig und gesund aus und verrieth auch in seiner ganzen einfachen, aber saubern und passenden Kleidung den behäbigen Bauer. Die Frau neben ihm, die ein Kind aus dem Schooße hielt und dasselbe des bösen Stoßens wegen mehr hob, als vor sich sitzen hatte, war jedenfalls seine Frau; der forschende Blick, den aber Beide unablässig nach rechts und links sandten, verrieth, daß sie etwas suchten und als der Wagen den belebteren Theil der Straße erreichte, hielt der Mann seine Pferde an und die Frau rief fast ängstlich einige der Vorübergehenden an:

»Ja, wo sind sie denn nur – wo sind sie denn hingebracht?«

»Wer?« fragte der Angeredete.

»Nun, die mit dem neuen Schiffe gekommen sind.«

»Ja,« lachte der Mann, »die stecken überall herum, wo man sie eben unterbringen konnte, Einer da, Einer dort.«

»Wen sucht Ihr denn?« fragte eine Frau, die gerade des Weges kam und auch zu den neuen Einwanderern gehörte.

»Die alte Frau Mecheln aus dem Würtembergischen, aus Bellstadt,« rief die Frau vom Wagen herunter und griff ihrem Manne in die Zügel, weil die Pferde nicht stehen wollten.

»Oh, die alte Mecheln, die ist mit bei uns! – Gleich da drüben um die Ecke, wo der große Baum vor dem Hause liegt.«

»Und sie ist wohl?«

»Kerngesund, die ganze Reise gewesen.«

Der Mann hatte bei der Erwähnung des Hauses schon seine Pferde in die bezeichnete Straße eingelenkt; die Frau winkte dankend mit der Hand, fort rasselte das Geschirr, daß die Funken stoben und hielt gleich darauf vor dem genannten Hause. Und sie brauchten hier nicht lange zu warten. Sobald der Wagen hielt, ging die Thür auf und die alte Frau, die mit Schmerzen darauf gewartet hatte, daß sie Einer der Ihrigen hier erwarten solle, trat in die Thür.

»Großmutter!« schrie die Frau ihr schon vom Wagen aus entgegen – »Großmutter – wie geht's – wie geht's?«

»Oh Du mein himmlischer Vater!« rief die alte Frau und hielt sich an dem Thürgeländer, an dem sie stand. Aber ihre Enkelin war schon bei ihr – wie sie mit dem Kinde vom Wagen gekommen, wußte sie selber nicht – mit Einem Satze war sie unten und bei der Großmutter, ließ das Kind auf die Erde niedergleiten, umfaßte die alte, zitternde Frau und schluchzte, als ob ihr Herz brechen solle vor nichts als Wonne und Seligkeit.

Der Mann hatte noch mit den Pferden zu thun, die nicht stehen wollten, aber ein Bekannter kam die Straße herunter, der ihm dabei half und dieselben hielt, und er stieg nun auch ab, warf erst die Stränge los, daß kein Unglück geschehen konnte, und ging dann ebenfalls langsam zur Großmutter hinüber, die er beim Kopfe nahm und herzhaft abküßte.

Dann aber faßte er auch die Sache praktisch an, denn ein einziger Blick in den inneren Raum sagte ihm schon, daß die alte Frau hier nicht länger bleiben konnte. Ohne sich deshalb weiter um etwas Anderes zu bekümmern, ging er in das Haus und ließ sich die sämmtlichen Sachen von der »Großmutter« geben, die schon alle zusammen in der einen Ecke standen, lud dieselben mit Hülfe einiger der Auswanderer auf den Wagen, und nahm dann die alte Frau selber wie ein Kind auf den Arm, um sie auf den schon für sie bereiteten Sitz zu tragen.

»Aber Junge, Junge,« rief die Alte halb erschreckt über die gewaltsame Entführung – »meine Sachen! Alle meine Sachen stehen ja noch in der Stube.«

»Schon Alles auf dem Wagen droben, Großmutter.«

»Auch die blaue Kiste?«

»Da hinten steht sie.«

»Und der kleine Holzkoffer?«

»Alles oben.«

»Aber der Korb mit dem Tuche oben drauf, und die rothe Lade . . .«

»Alles da; es fehlt nichts.«

»Aber den Regenschirm seh' ich nicht.«

»Den Regenschirm?« sagte der Enkel verblüfft, denn da war wirklich etwas, was er vergessen hatte.

»Er steht gleich neben dem Fenster in der Ecke,« – aber einer der Jungen aus dem Hause war schon hineingesprungen, um das Vermißte zu holen, und kam gleich darauf im Triumph damit zurück.

»So, Großmutter,« sagte der Mann, »ist nun Alles da?« Die Enkelin hatte mit dem kleinen Kinde schon neben ihr Platz genommen.

»Alles, meine Kinder – und sind wir denn jetzt wirklich in Brasilien?«

»Na, ob!« sagte der Mann, gab seinen Pferden einen kleinen Peitschenhieb, und fort rasselte der Wagen wieder, die glücklichen Menschen ihrer eigenen Heimath zuzuführen.

Gerade als das Fuhrwerk wieder die Stadt verließ, landete noch ein kleines Boot, die Capitainsjolle, worin dieser einige Kajüten-Passagiere an's Land brachte. Drei oder vier andere waren schon gestern Abend mit den Zwischendecks-Passagieren gelandet und gleich in den Gasthof gegangen, um dort Unterkunft zu finden. Eben dahin hatte sich aber auch eine Anzahl von Zwischendecks-Passagieren gewandt, die sich in dem ihnen von der Direction angewiesenen Raume nicht wohl fühlten und noch Geld genug bei sich führten, wenigstens die erste Zeit davon leben zu können. Waren sie dann erst einmal acht oder vierzehn Tage in der Kolonie, so ließ sich mit mehr Muße eine bequemere Einrichtung treffen.

In dem letzten Boote befanden sich ein paar junge Kaufleute und ein junger Baron, ein Herr von Pulteleben mit einer wahren Unmasse von kleinem Handgepäck, das er im Boote um sich her aufgeschichtet hatte. An der Landung konnte er aber natürlich nicht gleich Jemanden finden, der es ihm trug, und die Folge davon war, daß er, das »Hotel« eine halbe Stunde später als die Uebrigen erreichend, keinen einzigen Platz mehr fand, keinen Platz wenigstens, wie er ihn wünschte, d. h. ein Zimmer allein, wie er auf dem Schiffe auch eine Koje für sich selber gehabt. Der junge Herr hatte übrigens Geld und glaubte, darauf pochend, Alles durchsetzen zu können.

Der Wirth »Bodenlos«, wie er von den Colonisten genannt wurde – eigentlich hieß er Bohlos – stand schon etwas halbselig in der Thür, denn er hatte es sich nicht nehmen lasten, mit all' seinen neu angekommenen Gästen den sogenannten Willkommenstrunk zu leeren, und betrachtete, die Hände in den Taschen, den von zwei endlich gefundenen Lastträgern begleiteten Fremden.

»Ist dieses das Hotel?« fragte der Angekommene rasch.

»Aufzuwarten,« sagte der Wirth und überflog mit einem lächelnden Blick die um die Thür hergestreute Bagage; »Hotel zum Hoffnungsanker in Santa Clara. Wollen Sie ein Bett?«

»Ich wünsche ein Zimmer – allein, wo möglich mit Cabinet – vorn heraus und im ersten Stock.«

»Kann ich mir wohl denken,« sagte Bodenlos mit unerschütterlicher Ruhe, ohne selbst die Hände aus den Taschen zu nehmen – »das wünschen sich mehr, können es aber nicht kriegen.«

»Nicht kriegen?« sagte der junge Mann erstaunt – »ich heiße von Pulteleben.«

»Ist mir sehr angenehm, Ihre werthe Bekanntschaft zu machen,« sagte der Wirth – »ich heiße Bohlos, Christian Bohlos; das Lumpenvolk in der Colonie nennt mich aber Bodenlos; bleibt sich indessen ganz gleich, wie wir Beide heißen.«

»Aber ich muß ein Zimmer haben,« sagte von Pulteleben, der noch gar nicht recht wußte, was er aus dem Benehmen des Wirthes machen sollte.

»Natürlich, wenn Sie nicht unter freiem Himmel bleiben wollen,« meinte der Wirth, – »und wenn's regnete, wäre das fatal – besonders für alle die Schachteln.«

»Dann bitte ich nur, daß Sie Anstalt machen,« sagte von Pulteleben, »denn es ist nicht angenehm, hier draußen zu stehen, und ich möchte mein Gepäck hier los sein.«

»Na, das wäre das Leichteste,« lachte der Wirth – »wenn Sie's nur hier eine Stunde allein draußen stehen ließen. Aber, Herr von Bulleben, ich will Sie nicht lange hinhalten. Verlangen Sie hier ein Bett, um irgendwo mit Drei oder Vier in einem Zimmer zu schlafen, so denke ich, daß ich es möglich machen kann – ich will mir wenigstens Mühe geben, und Essen genug haben wir im Hause, aber ein Zimmer allein können Sie hier nicht bekommen, weil ich eben keins mehr habe, und andere Gäste hinauswerfen geht eben so wenig. Also damit basta!«

»Und existirt hier kein anderes Hotel in der Stadt?« fragte der sichtlich sehr Enttäuschte.

»Gegenwärtig nicht,« bemerkte äußerst artig Herr Bohlos; »wenn Sie aber vielleicht noch drei oder vier Monate warten wollen, so wird sich wahrscheinlich ein Rheinbaier hier etabliren und ein Hotel zur Bellevue errichten; das Grundstück ist wenigstens schon dazu angekauft.«

Herr von Pulteleben stand in einer wahren Verzweiflung mitten auf der Straße, denn die Ironie dieses gemeinen Menschen, des Wirthes, dem er nicht das geringste entgegenstellen konnte, ließ ihn noch vollkommen unschlüssig, was er thun solle – erst grob werden und den Burschen dann mit Verachtung strafen, oder das letztere lieber gleich zuerst thun.

»Sie wollen ein hübsches Zimmer, vorn heraus und mit Aussicht?« redete ihn da plötzlich eine Stimme an, nach der sich von Pulteleben überrascht umschaute. Jeremias, denn niemand Anderes war es, der vor ihm stand, sah aber auch in der That wunderlich genug aus, um Jemanden zu überraschen, der frisch aus Deutschland herüberkam und an jene exotischen Individuen noch nicht gewöhnt war, die man über ganz Amerika wild zerstreut findet.

Jeremias war, wie schon vorher einmal angedeutet, eine Art von Factotum in der Colonie. Er trieb eigentlich gar keine bestimmte Beschäftigung, sondern nahm nur da Arbeit an, wo er sie gerade bekam, so daß er oft fünf oder sechs verschiedene Herren zu gleicher Zeit und dann wieder einmal gar keinen hatte. Dazwischen ließ er sich Wege schicken, putzte den Honoratioren Stiefel und Röcke, reinigte Gewehre und Pfeifen, kurz, er schien überall unentbehrlich und sich und Anderen stets in gleichem Maße nützlich.

Jeremias ging auch demnach gekleidet, denn während der Seidenhut (Cylinder, Schraube, Angströhre, oder wie die Namen alle heißen mögen) in höhere Gesellschaft hineinragte, stand er mit den groben, schweren, nägelbeschlagenen Schuhen mitten im Proletariat, und der übrige Mensch trug außerdem nur die Kleider der übrigen Menschen – abgelegte Hosen, Westen und Röcke, wie sie ihm von den Honoratioren abfielen und meist noch alle aus Deutschland herübergekommen waren. Leider paßten sie nur nicht immer, und Jeremias schien darin eine eigene Geschicklichkeit erworben zu haben, seinen Körper allen derartigen Errungenschaften, so gut das nur möglicher Weise gehen wollte, anzuschmiegen.

Heute nun fand er reichliche Beschäftigung bei den neuen Ansiedlern, theils um Gepäck auf einem Handkarren von der Landung herauf zu schaffen, theils die verschiedenen Parteien an passenden Stellen unterzubringen. Daß er seine übrigen und alten Kunden dadurch vernachlässigte, störte ihn nicht im Geringsten. Die liefen ihm nicht weg, aber Alles, was er unter der Zeit hier verdiente, war rein gewonnen.

Jeremias schwitzte, daß ihm das Wasser ordentlich in Strömen von Stirn und Schläfen herunterlief, und von Pulteleben lachte, trotz seiner unangenehmen Situation, doch gerade heraus, als Jeremias ein blaues Taschentuch zu Tage brachte – wobei er die Hosentasche auch mit nach außen drehte – dann mit der rechten Hand seine brennend rothe Perrücke lüftete und sich darunter den vollkommen kahlen Kopf wischte.

»Na, Sie brauchen nicht zu lachen,« sagte Jeremias; »ich wollte einmal sehen, wie Sie schwitzten, wenn Sie so ein Ding auf dem Kopf hätten; das ist wie ein Pelz – nun, wie steht's?«

»Also Sie haben eine Stube zu vermiethen?« fragte der junge Mann, dem jetzt vor allen Dingen daran lag, ein Unterkommen zu finden – »in angenehmer Lage?«

»Ich nicht,« meinte Jeremias, »das bleibt sich aber gleich, denn ich weiß eine, wo Sie gleich einziehen können.«

»Allein?«

»Mutterseelen,« sagte Jeremias lakonisch.

»Weit von hier?«

»Gar nicht.«

»Aber wie bekomme ich meine Sachen dorthin?«

»Handkarren« erwiederte der kleine praktische Bursche, sprang, ohne weiter eine Antwort abzuwarten, hinter das Haus, holte dort seinen eingeschobenen Karren vor, lud die Habseligkeiten des Fremden darauf, schnürte das Ganze mit einem Seile fest zusammen und war in wenigen Minuten schon unterwegs, und zwar nach keinem andern Hause, als dem der Gräfin Baulen, in welchem er den Fremden ohne Weiteres einzuquartieren gedachte.

Glücklich für ihn und seinen kühn entworfenen Plan war Oskar gerade nicht zu Hause, sondern mit Helenen auf einem Spaziergange begriffen, um die neu angekommenen Ansiedler ein wenig zu besichtigen. Als Jeremias mit dem Karren vor dem Garten hielt, saß die Frau Gräfin gerade in ihrem Zimmer und schrieb ein paar Briefe.

»Das ist aber kein Hotel,« sagte der junge Fremde das Haus betrachtend.

»Privatwohnung,« meinte Jeremias – »aber famos – charmante Leute – werden Ihnen gefallen, besonders die Tochter« – und damit rückte er sich ohne Weiteres einen der schweren Koffer auf die Schulter und schritt damit in das Haus hinein, während von Pulteleben bei seinen übrigen Sachen zurückblieb. Nach einer Weile kam er wieder zurück und holte den andern Koffer, und als er zum dritten Mal kam, packte er dem Fremden selber ein paar Hutschachteln und ein leichtes Kistchen mit Schirm und Stock auf, ergriff dann das Uebrige und sagte:

»Nu kommen Sie, jetzt wollen wir einziehen.«

Der Fremde folgte ihm auch, vollkommen ahnungslos, daß ihn der kleine Bursche hier ohne die geringste Berechtigung in ein wildfremdes Haus als Miethsmann einführe, und nur erst, als sie die erste Treppe erstiegen hatten und Jeremias voran die zweite hinaufstieg, blieb er stehen und sagte:

»Noch höher?«

»Kommen Sie nur,« ermunterte ihn jedoch sein Führer – »famose Aussicht, wie gemalt,« und da er ihm mit seinen Sachen voranging, blieb auch nichts weiter übrig, als ihm zu folgen; mußte er doch überhaupt froh sein, nur ein Unterkommen zu finden. Kaum hatte er übrigens etwa zehn Stufen der zweiten Treppe erstiegen, als eine Thür im ersten Stock geöffnet wurde und die Frau Gräfin, welche den Lärm draußen gehört hatte, erstaunt auf ihrer Schwelle stehen blieb. Sie erkannte übrigens, vor dem Fremden, noch gerade den aufsteigenden Jeremias und rief:

»Nun, was ist denn das für Gepäck?«

»Alles in Ordnung!« rief Jeremias zurück, ohne sich weiter stören oder außer Fassung bringen zu lassen.

Die Gräfin schüttelte den Kopf, doch sie konnte nicht anders glauben, als daß Oskar, der gewohnt war, sehr selbstständig aufzutreten, ihr irgend einen Gast in das Haus gebracht habe, der ihr allerdings zu keiner Zeit hätte unbequemer kommen können. Gewohnt aber, sich in seine Launen oder unbedachten Streiche zu fügen, seufzte sie nur tief auf, trat in ihr Zimmer zurück und zog die Thür hinter sich in's Schloß. Wenn Oskar übrigens nach Hause kam, wollte sie ihm tüchtig den Kopf deshalb zurechtsetzen.

Der Fremde erreichte das kleine Zimmer, wo Jeremias schon seine übrigen Sachen eingestellt hatte, und sah sich hier allerdings etwas überrascht um. So freundlich das Local auch liegen mochte, denn es bot einen Ueberblick über einen Theil der Ansiedelung und nach den fernen Bergen hinüber, so fehlte ihm doch auch jede Bequemlichkeit. Kein Stuhl, kein Tisch, kein Bett, kein Spiegel, nichts, nichts war zu sehen, als die kahlen geweißten Wände, und Herr von Pulteleben rief:

»Nun, das ist ein hübsches Logis, in dem nicht einmal ein Stuhl steht! Wohin haben Sie mich denn gebracht, Meister Ungeschickt?«

»Nur keine Ueberstürzung,« sagte Jeremias, indem er den Rest der Sachen auf die beiden Koffer legte; »wir haben Zeit, und nach und nach macht sich Alles. Vorerst sind Sie einmal untergebracht, und was wollen Sie mehr?«

»Mehr?« rief von Pulteleben erstaunt – »Möbel will ich – meine Bequemlichkeit, wofür ich bezahle, und vor allen Dingen einen Waschtisch.«

»Waschtisch?« sagte Jeremias – »giebt's nicht. Vor der Hand setzen wir das Waschbecken auf einen Stuhl, wenn wir erst eins haben.«

Herr von Pulteleben, der anfing, sich über den Burschen zu amüsiren, lachte, und Jeremias, sich im Zimmer umsehend, fuhr fort:

»Hauptsächlich brauchen Sie einen Tisch und einen Stuhl, das ist wohl das Nothwendigste.«

»Ich dächte auch,« sagte der junge Mann, »um nur die bescheidensten Ansprüche zu befriedigen.«

»Das, denk' ich, kann ich schaffen,« nickte Jeremias, »und was weiter loszueisen ist, wollen wir nachher sehen. Decken haben Sie doch bei sich?«

»Decken? Denke nicht daran; nur meinen Plaid. Die Leute, welche ein Zimmer vermiethen, müssen doch auch ein Bett dazu haben.«

»Puh!« meinte Jeremias, »reden wir nicht davon; aber ein Plaid ist für das warme Wetter genug zum Zudecken und der Boden hier im schlimmsten Falle,« fuhr er fort, indem er mit dem Hacken auf die Diele trat, »von weichem Holz – Lust und Liebe zu einem Ding machen jede Müh' und Arbeit gering.«

»Den Teufel auch,« rief der junge Mann erschreckt, »ich werde doch nicht sollen auf der nackten Erde schlafen?«

»Nackten Erde? Bst!« sagte Jeremias mit einem ermahnenden Gesicht – »es sind Damen im Hause!«

»Sie sind ein ganz verrückter Mensch!« lachte von Pulteleben; »aber jetzt verschaffen Sie mir wenigstens das Nöthigste. Es soll Ihr Schade nicht sein,« setzte er hinzu, indem er ihm einen Milreis in die Hand drückte; »aber ich bin in Eile, ich muß mich umziehen und dem Director noch meine Aufwartung machen.«

»Aufwartung?« fragte Jeremias, der mit einer dankenden Bewegung das Geld nahm, betrachtete und dann in seine Westentasche schob – »Aufwartung giebt's hier nicht – aber einerlei, wollen schon Alles besorgen,« und damit verschwand er aus der Thür. Jeremias war übrigens nicht der Mann, etwas Begonnenes halb zu thun; ohne deshalb weiter bei der Besitzerin des Hauses anzufragen, ging er in Oskar's Zimmer, wo er zwei Tische wußte, nahm einen davon und trug ihn hinauf. Dann suchte er sich in Helenen's Stube und Schlafzimmer zwei Stühle, und das erst einmal erobert, nahm er auch Oskar's Waschbecken und Handtuch, Mit Kamm, Seife, Zahnbürste und Allem, was dabei lag, und trug es seinem einquartierten Gaste zu.

»Zum Henker auch,« rief Pulteleben, als er damit ankam, »das ist ja ein schon gebrauchtes Handtuch!«

»Herr Du meine Güte, sind Sie eigen!« sagte Jeremias; »ich brauche gar keins, ich nehme immer mein Schnupftuch. Was fehlt nun noch?«

»Wasser und ein reines Handtuch.«

Jeremias schüttelte mit dem Kopfe, stieg aber doch noch einmal hinunter und kam bald mit dem Verlangten zurück. Nur statt des Handtuchs hatte er eine reine Serviette gebracht, die er auf Helenen's Toilettentisch gefunden und ohne Weiteres als gute Beute mitgenommen.

»Und wie steht's mit dem Bette?« fragte der Fremde, indem er den Rock auszog und die Hemdärmel in die Höhe streifte.

»Bett? giebt's nicht!« sagte Jeremias trocken, »wenigstens jetzt nicht. Sie wollen sich doch jetzt noch nicht schlafen legen?«

»Nein – aber doch den Abend.«

»Gut, bis dahin wird Alles besorgt werden.«

»Und kann man hier im Hause etwas zu essen bekommen?«

»Zu essen? Hm« – sagte Jeremias, der darüber noch nicht recht mit sich im klaren war – »danach müssen wir erst fragen. Für heute sind die Leute vielleicht noch nicht darauf eingerichtet. Aber da gehen Sie lieber in's Gasthaus zu Bodenlos – der hat's.«

»Und wie heißt der Eigenthümer dieses Hauses?«

»Spenker, Bäckermeister.«

»Gut, dann schicken Sie ihn mir nachher einmal herauf – ich will mich erst waschen – damit ich mit ihm reden kann. Das ist ein verwünscht öder Aufenthalt hier, und wenn er mir das nicht ein wenig behaglicher einrichten will, ziehe ich wieder aus.«

»Auf die Straße?« fragte Jeremias, »denn weiter giebt's keinen Platz, Sie müßten denn vielleicht in einem von den Gärten eine Laube zu miethen bekommen.« Damit aber, als ob er jetzt seine Schuldigkeit gethan habe, zog er sich zurück und drückte sich leise an dem Zimmer der Frau Gräfin vorbei, der er jetzt nicht gern begegnen mochte. Der Fremde da oben konnte nun sehen, wie er mit »der Alten« fertig wurde.



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