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»Was wir doch eigentlich für ein wunderliches, abenteuerliches Leben führen,« brach Felix endlich das Schweigen, denn Könnern's Herz war heute, wo er sich dem Platze wieder näherte, an dem er Elisen zum ersten Mal gesehen, schwer und gedrückt, und wie die Ahnung eines großen Unglücks lag es auf seiner Seele. – »Heute hier, morgen da, heute philisterhaft sich mühend, um das tägliche Brot zu verdienen nur des täglichen Brodes wegen, und morgen wieder im Sattel – wie wir Beide heute – als Rächer und Verfolger: ein paar richtige Romanhelden, wie man sie nicht brauchbarer erfinden könnte.«
»Mein lieber Graf,« sagte Könnern, »wie oft auch gleicht unser Leben einem künstlich erdachten und selbst unnatürlich combinirten Roman, mit all' den Zufälligkeiten, die hineingreifen und alle Pläne über den Haufen werfen. Und wir brauchen dazu nicht einmal nach Brasilien auszuwandern; Tausende und Tausende solcher Beispiele finden wir eben so gut daheim, ebenso in den anscheinend hausbackensten Verhältnissen, die nach außen die glatte, nichtssagende Oberfläche zeigen. Könnten wir oft den Schleier heben, der darauf liegt, was für wunderbare und interessante Dinge würden wir zu sehen bekommen!«
Graf Rottack lächelte still vor sich hin, denn er dachte in diesem Augenblick an seine Scene mit der Madame Baulen.
»Apropos,« sagte er, »haben Sie kürzlich nichts von unserer Gräfin gehört? Ich vergaß in der kurzen Zeit, die ich Santa Clara war, ganz, nach ihr zu fragen – oder kennen Sie die Dame gar nicht?«
»Ich habe sie wohl ein paar Mal auf der Straße gesehen,« sagte Könnern, »aber nie das Vergnügen ihrer persönlichen Bekanntschaft gehabt. Ja, ich muß sogar zu meiner Schande gestehen, daß ich selbst meine Schuldigkeit versäumt habe: ihr nämlich meine Aufwartung nach der unbenutzten Einladung zu machen. Wie ich aber neulich von Jeremias zufällig gehört, so scheinen Mißhelligkeiten in der Familie ausgebrochen zu sein.«
»In der gräflichen?« lachte Felix.
»Allerdings; da ich mich jedoch für die Leute nicht interessire, sind mir auch die Einzelheiten wieder entfallen – ich hatte überhaupt damals den Kopf voll genug. Nur so viel erinnere ich mich, daß die Verbindung zwischen der Comtesse und Herrn von Pulteleben abgebrochen ist . . .«
»Ha!« rief Felix, sich erstaunt im Sattel aufrichtend.
»Und daß sich die Comtesse sogar von ihrer Mutter getrennt hat,« fuhr Könnern fort, »was vielleicht Aufsehen in der Colonie erregt hätte, wenn die Leute nicht in der Zeit gerade mit wichtigeren Dingen beschäftigt gewesen wären. Gesprochen wurde aber doch viel darüber.«
»Helene fort?« sagte Felix nachdenkend; »was mag da vorgefallen sein? – Und wo wohnt sie jetzt? – Wo konnte sie hin?«
»Das habe ich zufällig bei Rohrlands gehört, ohne der jungen Dame selber aber dort zu begegnen. Sie hat sich in Rohrland's Hause ein Zimmer gemiethet und einen Theil ihrer Möbel wie ebenfalls ihr Pferd an Director von Reitschen verkauft.«
»Wunderbar, wunderbar!« murmelte der junge Mann kopfschüttelnd vor sich hin. »Von der Mutter getrennt, und die Verbindung mit dem Bräutigam abgebrochen, da muß etwas ganz Absonderliches geschehen sein. Sehen Sie, Könnern, da haben Sie gleich wieder einen kleinen Familienroman mit den interessantesten Persönlichkeiten: einem schönen Mädchen, einer intriguanten Mutter und – einem überflüssigen Bräutigam. Schade nur, daß der wirkliche Geliebte fehlt, der zu einem wünschenswerten Schluß gehört, denn die Damen, die in einem Buche immer zuerst die letzten Seiten lesen, betrachten das als eine stillschweigende Bedingung. – Und da drüben auch,« fuhr er fort und deutete mit der linken Hand nach der Stelle hinüber, wo des alten Meier Haus lag – »dort hat sich ebenfalls eine anscheinend glückliche Familie plötzlich ohne bekannt gewordene Veranlassung zerstreut – die Mutter ist in's Wasser gesprungen, Vater und Tochter sind verschwunden – verdorben vielleicht, und Alle hatten die Berechtigung an dieses Leben wie wir – gerade so gut wie wir, und jetzt Alles – Alles zerstoben wie ein Traum! Sonderbare Geschichte das, höchst sonderbare Geschichte, und man weiß zuletzt wirklich nicht einmal ganz gewiß, wer von uns Allen denn auch sicher wacht.«
Könnern, dem die Worte des Grafen den alten Schmerz auf's Neue wach riefen, ohne daß Felix eine Ahnung davon haben konnte, wie erbarmungslos er in die frische Wunde eingeschnitten, ritt schweigend an seiner Seite, und da auch durch Rottack's Seele eine Menge von alten Erinnerungen und Bildern zuckte, trabten die Beiden eine lange Strecke still und schweigend neben einander hin.
»Hol' der Teufel die Grillen,« sagte Felix plötzlich mit seinem früheren wilden Humor, »man ist bei Gott ein Thor, sich ihnen hinzugeben, wenn man selbst überflüssige Zeit hat, und das – haben wir hier nicht einmal! Wir wollen an die Jagd denken, Könnern, Diebsfänger, die wir doch jetzt einmal sind, an den mörderischen Schuft und an das glückliche Gesicht der jungen allerliebsten Frau – um die ich den Gefangenen, aufrichtig gesagt, beneide. Sie mögen mich auslachen wie Sie wollen, aber ich tauschte den Augenblick mit ihm, selbst mit seinem jetzigen Aufenthalt in dem ungesunden Loch, wenn ich nur wüßte, daß mich beim Herauskommen ein Paar solcher Arme in Glück und Seligkeit umschlingen würden. – Aber was haben wir Beiden, wenn wir zurückkommen? – Quartier bei Bodenlos für unser gutes Geld und ein einschläfiges Gastbett, zweischläfig mit Flöhen versehen – es ist zum Todtschießen!«
»Ich denke, Sie wollen nicht mehr sentimental werden?« lächelte Könnern.
»Wollt' ich auch nicht,« sagte der junge Graf; »aber unwillkürlich steckt die sentimentale Fratze den Kopf durch jedes Gespräch, selbst wenn man sich von Mördern und Dieben unterhält. Wo haben Sie denn jenen Bux – so heißt der Kerl ja wohl – zum letzten Mal gesehen?«
»Wir biegen an der nächsten Chagra links in den Wald,« sagte Könnern, »und können den Ort dann etwa mit Dunkelwerden erreichen.«
»In den Wald? Wie, zum Henker sind Sie denn da hineingekommen – auf der Jagd?«
»Wo streift ein Maler nicht überall umher,« war Könnern's ausweichende Antwort – »noch dazu, wenn er sein Gewehr auf dem Rücken hat!«
»Von dem sind Sie unzertrennlich?«
»Bei unserem jetzigen Ritt war es nöthig, denn wir wissen nicht, wie wir es gebrauchen können. Es ist wenigstens unwahrscheinlich, daß sich jener verwegene Bursche so gutwillig wird gefangen geben. Sind Sie kein Jäger?«
»Nein, und nie gewesen,« sagte der junge Mann; »zu Hause hätte ich dazu Gelegenheit genug gehabt, aber ich konnte nie Freude daran finden, mich irgendwo in den Hinterhalt zu legen und ein armes, ahnungslos daherkommendes Stück Wild wie ein Meuchelmörder niederzuschießen. Die Jäger nennen das freilich »auf dem Anstand«, ich hielt es aber für unanständig – wie ich denn überhaupt mein ganzes Leben lang mit den verschiedenen Menschenklassen verschiedener Meinung gewesen bin. Ich habe auch nur selten ein Gewehr in die Hand genommen; desto häufiger hetzte ich aber dafür Füchse und Hasen im freien Felde. Das ist List gegen List, Muskel gegen Muskel und ein viel gleicherer Kampf, als mit Pulver und Blei, dem das arme Wild keine ähnliche Waffe entgegen zu setzen vermag.«
»Aber eine Tigerjagd mit der Büchse hier in Brasilien würden Sie doch nicht für so ungleichen Kampf halten?«
»Nein,« meinte Felix; »wenn die Tiger nur nicht anderer Meinung wären. Aber Wochen lang hier im Gestein und Dorngestrüpp umherkriechen, von Durst und Hitze halb aufgerieben werden und dann nicht einmal einen Tiger zu Gesicht zu bekommen, nur höchstens einmal seine Fährte zu finden, wo er seinen Durst löschte, während ich auf irgend einem unwirthbaren Bergrücken saß und schmachtete, dafür danke ich ebenfalls. Dazu gehört eben eine Passion, die mir fehlt, und ich überlasse es denen, die wirklich Freude daran finden.«
Die Reiter hatten indessen die nächste Chagra, die ebenfalls einem Deutschen gehörte, erreicht, und Könnern hielt hier, ohne das Haus zu berühren, gleich schräg in den Wald hinein, umritt die Umzäunung und traf auf der andern Seite derselben wieder einen schmalen Weg, der fast direct nach Westen hinüberlief. Diesem folgten sie mehrere Stunden lang und mußten sogar Einer hinter dem Andern reiten, so schmal war die Bahn an vielen Stellen und so viel hineingebrochenes Holz lag darin. Hier und da führte auch manchmal ein schmaler Pfad rechts und links ab; Könnern schien aber völlig vertraut mit seiner Bahn und zögerte nur immer lange genug, ehe er die als richtig erkannte verfolgte, bis er die Abwege genau und sorgfältig untersucht hatte.
Endlich erreichten sie einen Fleck, wo Reisende eine Nacht zugebracht hatten. Halb durchgebrannte Stücke zusammengetragenen Holzes lagen dort, und abgebrochene, nicht mit Messer oder Beil abgehauene Zweige waren mit unkundiger Hand verwandt worden, eine Art von Schutzdach gegen den Nachtthau herzustellen.
Könnern erfaßte ein herbes, bitteres Weh, als er den Platz wieder sah, denn hier hatte – dem Berichte der Leute nach, die in der nächsten Colonie wohnten – seine arme Elise mit dem Vater eine Nacht im Walde zugebracht und mit ihren zarten, solcher Arbeit ungewohnten Händen Holz herbeigetragen, sein Lager weich mit trockenem Laube bereitet und versucht, eine Hütte für ihn zu spannen. – Und an der nächsten Chagra eben verlor sich vollständig ihre Spur. Der Pfad war von da an steinig, da er in das Gebirge hineinlief, aber selbst in der nächsten menschlichen Wohnung wollte Niemand etwas von ihnen gesehen haben. Weit noch war er damals herumgestreift, rechts und links vom Wege ab, durch Dornen und Dickicht brechend, immer das eine, theure Ziel im Auge – umsonst, wie in den Boden hinein schien das hülflose Paar verschwunden, und es blieb keine andere Möglichkeit, als daß sie vom Wege abgekommen seien und sich verirrt hätten, wo sie dann rettungslos in der furchtbaren Wildniß verderben mußten.
Wieder durchlebte Könnern, als er sich dieser Gegend auf's Neue näherte, alle jene furchtbaren Stunden, die damals so schwer auf seinem Herzen gelegen; aber er scheute sich, dem Begleiter sein nagendes Leid mitzutheilen – was konnte er ihm auch helfen, wie durfte er selbst hoffen, daß er ihn verstehen würde?
»Hier haben Reisende campirt,« sagte Rottack, als Könnern unwillkürlich sein Pferd neben dem alten Lagerplatz anhielt und darauf niederstarrte, – »ob das unsere Familie gewesen ist?«
»Nein – Andere,« sagte Könnern leise – »Bux hat mit seiner Familie an dem nächsten Hause gelagert und sich Essen auf der Chagra geben lassen. – Aber vorwärts, oder wir versäumen hier die schöne Zeit!«
Weiter und weiter ritten sie durch den wilden Wald, bis sie plötzlich wieder eine Hochebene erreichten, in der sich ebenfalls Deutsche niedergelassen hatten und zwar unbesorgt vor Indianern, welche der Direktor zur Entschuldigung brauchte, sich eine Polizei- und Militärmacht in die Colonie zu legen.
Die Sonne neigte sich indessen dem Horizont zu, und die Reisenden beschlossen, hier zu übernachten. Essen und Trinken fanden sie auch genug. Die deutschen Colonisten brachten willig was sie hatten, und waren außerdem froh, wieder ein menschliches Wesen in ihrer Einsamkeit zu sehen.
Felix fragte sie auch, was um Gottes willen sie nur bewogen haben könnte, sich in dieser Einöde nieder zu lassen, wo sie ihre Producte nicht einmal verwerthen konnten. Die Sache war einfach genug: die Regierung hatte früher die Absicht gehabt, an dieser Stelle eine neue deutsche Colonie anzulegen, die mit Santa Clara sollte in Verbindung gebracht werden. – Aehnliche Projecte haben an vielen Stellen stattgefunden und anstatt einen Centralpunkt anzunehmen und von dem aus weiter in das Land hinein zu bauen, versuchte man es auf andere Art, wählte im Walde zerstreute Punkte und wollte von diesen aus gleichzeitig nach dem Centralpunkt zu arbeiten – aber es ging nicht.
Diese in den Wald mitten hinein gezwungenen Colonien konnten mit den besser gelegenen nicht concurriren, weil ihnen der Transport ihrer Producte zu viel Geld kostete. In der Regenzeit wurden außerdem noch die, nie von einem Sonnenstrahl getrockneten, engen Waldpfade zu bahnlosen Morästen, und die von allem Verkehr abgeschnittenen Colonisten verließen fast alle ihr Land wieder, um sich an einer Stelle anzubauen wo sie mit der Welt noch in Verbindung standen.
Einzelne blieben aber trotzdem zurück; es gewährte ihnen einen eigenen Reiz, so mitten im Walde zu sitzen und mit keinen Nachbarn etwas zu schaffen zu haben. Land konnten sie ebenfalls in Besitz nehmen, so viel sie wollten, kein Mensch hatte etwas dawider; die Jagd bot ihnen auch hier und da Unterhaltung und im Stillen hofften sie immer noch, daß die für jetzt aufgegebene Colonie doch wieder erneuert werden könnte. Dann aber stieg ihr Land natürlich bedeutend im Werth und ihre Producte fanden schon unter den frischen Einwanderern raschen und günstigen Absatz.
Hier erhielten die Verfolger Nachricht von Bux, denn dies war der Platz, an dem ihm sein Esel damals zusammenbrach und mit der zu großen Last nicht weiter konnte. Der alte Deutsche hier hatte aber kaum Worte dafür, wie roh und niederträchtig er die arme Frau sowohl wie auch sein überladenes Lastthier behandelt habe. Seiner Aussage nach wollte er nach einer andern Colonie hinüberschneiden, nach der zu ein Weg von der nächsten Chagra aus abging. Er hatte angegeben, daß er das Schmiedehandwerk verstehe – was recht gut sein konnte – und als er hier erfuhr, daß sie dort einen Schmied nothwendig brauchten, schien er den Entschluß gefaßt zu haben. Was sein eigentliches Ziel gewesen und weshalb er hierher in den Wald gekommen sei, darüber sollte er kein Wort geäußert haben und die Colonisten waren auch froh gewesen, als sich sein Esel wieder so weit erholt hatte, daß er weiter konnte.
Die beiden jungen Leute erwähnten kein Wort davon, weshalb sie hinter dem Burschen her seien und daß sie ihn überhaupt suchten, machten sich die Nacht ihr eigenes Lager mit ihren Sätteln und Satteldecken zurecht und brachen am nächsten Morgen mit Tagesgrauen wieder auf. Die nächste Chagra lag etwa zwei Legoas entfernt und dort konnten sie recht gut frühstücken.
Jene Chagra erreichten sie etwa um neun Uhr Morgens und hörten hier zu ihrem Erstaunen, daß Bux bis gestern dort gehalten habe und in der That noch länger geblieben sein würde, wenn die Deutschen nicht seiner überdrüssig geworden wären. Ein Theil seiner Ladung lag aber noch hier, denn der ermattete Esel, der sich in den ersten Tagen nothdürftig wieder erholt, war nicht im Stande gewesen, seine frühere Last noch einmal aufzunehmen. Der Meinung des Bauers nach konnte der Bursche indessen kaum zwei oder drei Legoas entfernt sein, denn die Frau war ebenfalls krank geworden und so schwach, daß sie sich mit dem Kinde kaum vorwärts schleppte.
Nachdem Könnern und Rottack gefrühstückt und ihre Pferde gefüttert hatten, folgten sie in scharfem Trab dem Flüchtigen, der ihnen jetzt nicht mehr entgehen konnte. Ueberall an weichen Stellen im Wege sahen sie die kleinen, zierlichen Spuren des Esels und die der nägelbeschlagenen Schuhe des Mannes; nur gegen Mittag etwa waren die Spuren plötzlich verschwunden und der Weg hier augenscheinlich wohl von Pferden, aber von keinem kleinen Eselshuf und keinem nägelbeschlagenen Mannesschuh berührt worden. Sie fanden ein paar Stellen, wo sich in dem weichen Boden jede Fährte hätte abdrücken müssen und die Wanderer, des Gebüsches wegen, auch weder rechts noch links ausweichen konnten, und trotzdem keine Spur der Verfolgten irgendwo hinein.
»Nun, durch die Luft sind sie nicht,« tröstete sich Könnern, »und jedenfalls hat sich der Bursche rechts oder links irgendwo abgewandt, um etwaige Verfolger irre zu führen; daß sie ihm so dicht auf den Fersen wären, dachte er wohl nicht. Wir müssen also ein Stück zurück, Graf Rottack und jetzt aufgepaßt, wo wir den schmalen Eselshuf zuerst wieder in Sicht bekommen.«
Sie wandten ihre Pferde, hatten aber kaum zweihundert Schritt zurückgelegt, als sie wieder auf die Spur kamen, und jetzt entdeckte Könnern's scharfes und an den Wald gewöhntes Auge auch einen ganz schmalen Fußweg, der, von Gras überwachsen, links in den Wald führte und kaum zu passiren war. Und doch wurde der Eselshuf und der nägelbeschlagene Schuh hier wieder sichtbar.
»Wohin, im Namen jedes gesunden Menschenverstandes,« rief Felix, »hat sich der unglückselige Mensch gewandt? Er wird doch nicht mitten in den Wald hinein gelaufen sein, denn in diesem brasilianischen Urwald einer Fährte zu folgen, davor habe ich allen möglichen Respect!«
»Ich habe mich nur gewundert,« sagte Könnern, »daß er nicht schon lange vorher einen solchen Abstecher gemacht hat, denn die Möglichkeit einer Verfolgung war doch da und der konnte er auf solche Weise am allerleichtesten entgehen. Jetzt möchte ich aber die größte Wette eingehen, daß wir ihn am nächsten Wasser finden.«
»Ja,« sagte Felix leise, »und seine Frau und Kinder auch. Hören Sie, Könnern, wir haben uns die Geschichte eigentlich doch nicht ordentlich überlegt, und hätten es am Ende lieber der Polizei überlassen sollen, den entflohenen Verbrecher einzufangen. Das wird jedenfalls eine Scene geben, an die wir später einmal mit Schaudern und Entsetzen zurückdenken. Den Schuft selber, ja mit Wonne wollt' ich ihn einfangen und vor Gericht schleppen, aber wenn nachher eine jammernde Frau dazu kommt – und krank soll sie ohnedies sein – und kleine Kinder – verfluchte Geschichte und daß mir das gerade erst jetzt einfällt, wo es natürlich schon ein paar Posttage zu spät ist!«
»Ein angenehmes Amt ist's gerade nicht,« sagte Könnern ernst, »aber ich habe die feste Ueberzeugung, daß der Frau gar kein größerer Segen widerfahren kann, als von diesem nichtsnutzigen Galgenstrick befreit zu werden, und wer weiß, ob sie uns nicht unendlich dankbar dafür ist. Keinesfalls können wir's jetzt ändern, und denken Sie nur immer an Köhler's junges Weibchen, das sich jetzt die Augen roth weint, weil ihr nicht einmal verstattet wird, den erkrankten Mann zu pflegen. Der müssen wir ihren Frieden wiederbringen und ich denke, nachher werden wir auch wohl im Stande sein, für das arme Weib mit ihren Kindern zu sorgen. Meinen Sie nicht?«
»Sie haben Recht!« rief Felix jetzt entschlossen aus – »der armen Frau soll es an nichts fehlen, damit sie nicht an dem unverschuldeten Leid zu tragen hat, und eine Beschäftigung für sie wird sich auch schon finden. So denn jetzt mit allem Eifer hinter dem Mörder her. Ich freue mich wie ein Kind auf den Augenblick, wo wir ihn gebunden dem Herrn Director überliefern können. Aber sind wir denn noch auf der Fährte? Ich sehe hier gar nichts mehr.«
»Hier laufen die Spuren hin, gerade nach jenem Thal hinab,« erwiderte Könnern, der kein Auge vom Boden verwandt hatte.
»Und dort unten liegt auch eine Ansiedelung,« rief Felix plötzlich, denn Könnern hatte gar nicht voraus und nur auf die Spuren gesehen – »das da unten muß doch eine Chagra sein?«
»Wahrhaftig, dort liegt eine Hütte,« sagte Könnern, der Richtung mit den Augen folgend – »wie hat sich denn nur ein Colonist dort hinunter in das enge Thal verloren? Aber hier biegen die Fährten wieder links ab, als ob er die Stelle hätte umgehen wollen.«
»Er wird nicht geradeaus gekonnt haben,« sagte Rottack, »denn wir verdanken den Blick auf das Haus wahrscheinlich einem steilen, dazwischen liegenden Hange, den er umgehen mußte.«
Dieses erwies sich in der That so. Die Lehmwand, mit röthlichen Porphyrblöcken untermischt, fiel ein kleines Stück weiter vor so schräg ab, daß die Passage mit Lastthieren, wenn nicht gefährlich, doch sehr beschwerlich gewesen wäre und die beiden Reiter suchten sich eben einen Platz aus, an dem sie bequemer und sicherer zu Thal kommen konnten, als Könnern plötzlich leise rief:
»Halt! Ich höre Stimmen!«
Beide hielten ihre Pferde an und horchten und deutlich ließ sich jetzt, unmittelbar vor ihnen, aber noch durch das Dickicht verdeckt, die rauhe Stimme eines Mannes hören, der wilde Flüche ausstieß. Dazwischen klagte die Stimme einer Frau.
»Das ist er!« flüsterte Rottack – »gleich dort hinter der Palmengruppe muß er stecken.«
Könnern winkte ihm, zu folgen, lenkte sein Pferd einer etwas offeneren Stelle zu und spornte es dann, so rasch es ihm der hier sehr rauhe Weg erlaubte, vorwärts. Kaum hatte er auch eine Distanz von etwa hundert Schritten in dieser Richtung zurückgelegt, als er die kleine Karawane vor sich sah und nun sein Thier anhielt, um nicht zu rasch über sie zu kommen. Er wußte, daß ihm der Bursche nun nicht mehr entgehen konnte. Rottack hielt sich dicht an seiner Seite.
Es war in der That der würdige Bux mit seiner Familie, dem – wie Könnern ganz richtig vermuthet hatte – der unbehagliche Gedanke gekommen war, daß er doch am Ende verfolgt werden könne. Wie der Verdacht auf ihn fallen sollte, wußte er freilich nicht, denn hatte er auch sein Messer in der Zeit vermißt, so war es sehr die Frage, wann das je einmal gefunden und ob es überhaupt Jemand kennen würde, und bis dahin war er weit von hier. Wer ihm damals in der Nacht konnte aufgelauert haben, darüber zerbrach er sich freilich den Kopf, aber erkannt hatten sie ihn in der Dunkelheit nicht, so viel blieb sicher, sonst wäre er schon lange vorgefordert worden, und wer das Geld jetzt hatte, – er knirschte mit den Zähnen, wenn er daran dachte – sagte ohnehin nichts weiter von der Geschichte. Die Vorsicht wollte er nur gebrauchen, den Weg für kurze Zeit zu verlassen und lieber ein paar Wochen im Walde, in irgend einer einsamen Hütte sitzen und seine Zeit abwarten, als sich, wie er bei sich dachte, »ewig den Kopf abdrehen, ob Jemand hinter ihm her käme.« So verstockt der Bube auch sein mochte, das Gewissen hatte ihn doch nicht ruhen lassen.
Als Könnern zuerst die kleine Karawane entdeckte, hielt sie still. Die Frau war am Weg niedergesunken und der Mann stand vor ihr und fluchte.
»Aber ich kann ja nicht mehr, Bux,« sagte die Unglückliche – »laß mich nur eine kleine halbe Stunde hier ausruhen, nachher wird's schon wieder gehen.«
»Aber das Haus muß dicht vor uns sein,« rief der Mann mit einem abscheulichen Fluch – »wir haben die Hähne von da oben ganz deutlich krähen hören – es kann nicht mehr weit sein.«
»Ich bin's nicht im Stande,« stöhnte die Frau und sank mit dem Kinde, das sie den ganzen Weg geschleppt hatte, unter einen Baum – »mach' mit mir, was Du willst, schlag mich todt oder laß mich liegen und hier umkommen, aber ich kann nicht weiter.«
»Dann komm allein nach,« fluchte der Bursche; »warten thu' ich, Gott straf' mich! nicht mehr auf Dich, Du gottverdammte« – er fuhr erschreckt empor, denn dicht dabei hörte er den Schritt der Pferde im Laub, und erstaunt starrte er die beiden Reiter an.
Rottack ritt dicht an ihn hinan und sagte finster:
»Seid Ihr denn auch ein Mensch, daß Ihr die arme Frau zu Tode hetzt? Ihr geht leer, Euren Stock auf der Schulter, und das schwache, kranke Weib muß auch noch das schwere Kind schleppen – 's ist doch wahrlich eine Schande.« Und ohne weiter auf ihn zu achten, stieg er ab, nahm seine Feldflasche, und zu der Frau tretend fuhr er fort: »Da trinkt einmal einen Schluck Wein, das wird Euch gut thun – Ihr seht aus, als ob Ihr's nöthig hättet.«
»Das weiß der Allerbarmer!« stöhnte die Frau – »und der mag's vergelten – Ihr seid doch auch Menschen, Ihr werdet mich nicht hier im Walde allein liegen und mit dem Kinde verhungern lassen.«
»Hier in Brasilien kann Jeder thun, was ihn freut,« sagte der Mann finster, aber doch scheu zu Könnern emporsehend, der, sein Gewehr vor sich auf dem Sattelknopfe, schweigend neben der Gruppe gehalten und den Mörder finster und ernst betrachtet hatte. Daß er den Rechten vor sich hatte, daran zweifelte er keinen Augenblick mehr. Die scheue, ekle Gestalt paßte vollkommen zu der Beschreibung, und der unächte Tressenstreifen um die blaue schirmlose Mütze lieferte noch den letzten Beweis, wenn es dessen bedurft hätte.
»Na,« sagte Bux endlich, dem der Blick des Fremden unbehaglich wurde – »was stiert Ihr mich so an, als ob Ihr in Eurem ganzen Leben noch keinen Menschen mit einem kaputen Esel und einer miserabeln Frau gesehen hättet? Das glaub' ich! Ihr könnt's aushalten auf Euren Pferden oben, aber so ein armer Teufel, der muß sich wie ein Hund durch's Leben schinden – na, was habt Ihr denn an mir zu gucken?«
Könnern hatte kein Wort erwidert und nur den Blick fest auf dem Mörder gehalten, den dieser nicht ertragen konnte. Jetzt sagte er langsam:
»Ihr heißt Bux, nicht wahr?«
»Wie ich heiße, darum hat Niemand 'was zu fragen,« knurrte der Gesell – »ich bin ein Colonist und suche einen Fleck Erde, wo ich mich niederlassen und mein Brod ehrlich verdienen kann.« Er hatte dabei einen scheuen Seitenblick auf Rottack geworfen, der, seine Flasche in den Händen der Frau lassend, von der Seite gegen ihn herantrat, und machte jetzt einen Schritt zurück, um Beide besser im Auge behalten zu können.
»Es ist eine verwünschte Geschichte!« rief der junge Graf Könnern in französischer Sprache zu – »die Frau und die Kinder werden ein Jammergeschrei erheben, wenn wir ihn fassen. Sollten wir nicht lieber warten, bis wir ihn allein haben?«
Ehe aber Könnern etwas darauf erwidern konnte, überhob sie Bux selber jeder weiteren Bedenklichkeit. Der Bursche war, wie sich später herausstellte, aus dem Elsaß und verstand recht gut die französisch gesprochenen Worte. Hatte er aber vorher schon Mißtrauen gegen die beiden Reiter gefaßt, von denen er sich recht gut erinnerte, den Einen in Santa Clara gesehen zu haben, so wurde das jetzt zur Gewißheit. Sie waren gekommen ihn zu verhaften, und sein einziger Gedanke war jetzt Rettung – Flucht!
»Aha, darauf läuft's hinaus!« schrie er, und ehe Rottack eine Ahnung von dem Vorhaben des Verzweifelten hatte, riß dieser ein gewöhnliches langes Küchenmesser aus der Weste, wo er es versteckt gehalten, führte einen Stoß nach dem ihm im Wege Stehenden, und flog dann mit einem Satz in Dorn und Gebüsch hinein, den steilen Hang mehr hinab stürzend wie laufend.
Rottack brauchte in der That seine ganze Gewandtheit, um dem Stoß auszuweichen, der ihn nur leicht am Arm streifte, seinen Rock durchschnitt und ihm die Haut ritzte, kam aber dadurch in's Straucheln und fiel auf den rauhen Boden, so daß der Flüchtling, ehe er sich wieder aufraffen konnte, wenigstens zehn bis zwölf Schritt Vorsprung vor ihm hatte.
Könnern spornte allerdings in dem Moment, wo er die erste drohende Bewegung sah, sein Pferd gerade auf ihn ein. Das Terrain war aber hier dem Reiter nichts weniger als günstig, und während sein junger Begleiter mit einem Wuthschrei wieder auf die Füße schnellte und rücksichtslos um seine eigene Sicherheit hinter dem Flüchtling hersprang, bäumte Könnern's Pferd vor den Dornen und schwankenden Schlingpflanzen zurück und wollte nicht vorwärts.
»Um Gottes Barmherzigkeit willen, was habt Ihr mit dem Mann?« gellte die Frau in Todesangst und fuhr, ihre Mattigkeit bezwingend, empor, und auch die Kinder stießen ein Wehegeschrei aus. Könnern aber riß das Pferd zurück, warf sich aus dem Sattel, und ihr nur rasch zurufend, daß sie nichts zu befürchten hätte, griff er sein Gewehr aus und folgte der Jagd.
Den Mörder jagte die Verzweiflung, aber er war von dem heutigen Tagesmarsch und der ungewöhnlichen Hitze nicht allein ermattet, sondern hatte auch, um seinen Durst zu löschen, mehr Branntwein heute Morgen getrunken als ihm gut war. Rottack dagegen, jung, gewandt und unermüdet, mit kaltem Blut und frischen Kräften, mit denen er jede Oeffnung in den Büschen benutzte, während der Fliehende rücksichtslos mitten hindurchbrach und damit seine Kräfte schwächte, sah bald, daß er dem Flüchtigen an Schnelligkeit überlegen war, und suchte ihm deshalb den Weg abzuschneiden.
Bux hatte gar kein bestimmtes Ziel. Er wollte nur fort – weiter – aus dem Bereich seiner Verfolger, und in demselben Augenblick, wo sich Rottack nach links wandte, brach er selber nach rechts hinüber – vergrößerte er dadurch doch wieder den Vorsprung. Aber sein zweiter Verfolger gewann an ihm, denn dieser konnte, den nämlichen Hang jetzt hinunterspringend, ihm nach rechts zu besser den Weg abschneiden, und erst als Bux auch diesen zu Fuß bemerkte – denn daß ihm hier kein Pferd folgen konnte, wußte er – sah er, daß er verloren war. Aber er ließ deshalb in seiner Flucht nicht nach, nur weder rechts noch links schaute er mehr, vorwärts brach er über Alles, was ihm im Wege stand und lag – vorwärts! Dort war Freiheit und Leben, hinter ihm folgten die Rächer! – Er stürzte, aber er raffte sich wieder empor – er blieb mit seinem Rock in einem Dornbusch hängen; mit rasender Gewalt riß er sich los, daß ihm die Fetzen am Leibe hingen – seine Mütze hatte er verloren, das lange, struppige Haar flatterte ihm um die blutig gekratzte Stirn – vorwärts – vorwärts – bis seine Kräfte ermatteten und er mit einem Wuthgeheul zusammenbrach.
Mit dem nächsten Satze war Könnern an seiner Seite und stand, mit der Flinte im Anschlag, neben ihm, während Rottack jetzt ebenfalls mit einem Jubelruf herbeisprang. Er hob etwas Blinkendes in der Hand empor und zeigte es dem Freunde.
»Haben Sie ihn?« schrie er schon von Weitem.
»Hier liegt er – er ist sicher – aber was haben Sie dort?«
»Des Schneiders Uhr, die der Schuft auf der Flucht von sich warf. Ich sah, wie er etwas Blankes in die Büsche schleuderte und sprang danach, da ich Sie dicht hinter ihm wußte. Die Uhr hebt den letzten Zweifel. Da liegt die Canaille – ist er todt? Den Teufel auch, wie wir aussehen, der hat uns noch eine hübsche Hetze gemacht! – Wenn ich nur meine Hunde hier gehabt hätte!«
Bux lag auf dem Gesicht und rührte sich nicht – nur sein schweres, hastiges Athmen verrieth, daß er noch lebe. Könnern sah schaudernd auf die vor ihm ausgestreckte, regungslose Gestalt.
»Wir haben's übernommen, Graf,« sagte er ernst, »und jetzt auch durchzuführen, denn den Cadaver hier müssen wir in die Colonie schaffen, und wenn er sich zu gehen weigert, bleibt uns nichts Anderes übrig, als ihn auf ein Pferd zu binden.«
»Wir wollen ihm schon Beine machen,« sagte Rottack finster, »denn Mitleid verdient die Canaille nicht. – Aber dort drüben ist ein Weg, Könnern, bei Gott – und da hinten liegt das Haus – wir sind dicht an der Chagra.«
»Desto besser« sagte Könnern, »dann können wir vielleicht von dort Hülfe bekommen. Vor allen Dingen müssen wir den Burschen erst einmal binden. Hat er Sie verwundet? Sie bluten?«
»Es ist gar nichts,« lachte der junge Mann – »eben nur geritzt, nicht einmal so schlimm wie einer von den verdammten Dornen – das ist wirklich niederträchtiges Zeug! Aber der Gesell kann hier nicht liegen bleiben – holla, Freund – steh auf, Deine Zeit ist um und Du mußt wieder wandern.«
»Nehmen Sie sich in Acht, Rottack,« sagte Könnern – »trauen Sie ihm nicht!«
»Er ist fertig,« rief aber der junge Graf, Bux an der Schulter nehmend und heftig schüttelnd. – »Sei jetzt vernünftig; Widerstand kann Deine Sache nur noch verschlimmern, denn in die Colonie mußt Du mit zurück und wenn ich Dich auf meinen Rücken hineintragen sollte.«
Bux regte sich nicht.
»Willst Du nicht gehorchen? – gut, dann darfst Du Dich auch nicht beklagen!« und mit den Worten hatte er ein dünnes, aber festes Seil aus der Tasche genommen, legte die obere Schlinge desselben leicht um die ausgestreckte Hand des Regungslosen und wollte eben den andern Arm ergreifen, um beide zusammen zu ziehen. Wie aber Bux die Fessel an der Hand fühlte, schnellte er sich in letzter Verzweiflung vom Boden empor – doch zu spät. Könnern, der ihn scharf beobachtet hatte, ließ in demselben Moment sein Gewehr fallen und faßte seinen andern Arm. Bux wollte sich losreißen, aber seine Kraft reichte nicht aus, und zwei Minuten später, während er mehr wie ein wildes Thier als wie ein Mensch um Hülfe brüllte, war er gebunden und in den Händen seiner Verfolger.
»So,« sagte Könnern, indem er das Ende der Leine um den nächsten jungen Stamm schlug, »jetzt seien Sie so gut, nehmen Sie mein Gewehr und halten Sie bei dem Burschen eine kurze Wache, während ich hinunter in das Haus springe und nachsehe, was dort für Leute wohnen und ob sie uns etwas nützen können.«
»Thäten wir nicht besser, wir schafften ihn gleich zum Hause hinunter und holten dann seine Familie und unsere Pferde nach?«
»Vielleicht kann ich Jemanden aus dem Hause nach den Thieren schicken, daß wir den Hang nicht wieder hinauf brauchen. Es ist jedenfalls besser, wir wissen erst, wer hier unten wohnt.«
»Gut, dann bleiben Sie nur nicht zu lange; daß er mir indessen nicht erwischt, dafür will ich schon sorgen.«
Könnern kletterte zu dem Weg hinunter, von dem sie hier nur noch durch einen kleinen, terrassenartigen Felskamm getrennt wurden, und schritt darauf rasch dem Hause zu, als er von dort her einen Mann sich entgegenkommen sah.
»Habt Ihr um Hülfe geschrieen?« fragte ihn dieser schon von Weitem in portugiesischer Sprache. »Was ist denn geschehen? Seid Ihr angefallen?«
»Gerade das Gegentheil, Señor,« erwiderte Könnern – »wir haben einen Verbrecher verfolgt und eingeholt, der von Santa Clara entflohen war und, wie es scheint, die Richtung nach Eurer Chagra genommen hatte. Könnt Ihr uns helfen, ihn zu transportiren?«
»Jetzt nicht,« sagte der Mann, der stehen geblieben war und Könnern erwartete, indem er traurig mit dem Kopf schüttelte – »ich habe einen Sterbenden oder Todten da drin in der Hütte und kann den nicht verlassen.«
»Das thut mir recht leid, daß wir Euch zu so ungelegener Zeit gestört haben,« sagte der junge Mann teilnehmend; »Ihr habt Krankheit in Eurer Familie gehabt?«
»Wir, Gott sei Dank, nicht,« erwiderte der Brasilianer, »aber ein Fremder, der vor kurzer Zeit mit seiner Tochter zu uns kam, legte sich und wird nicht wieder aufstehen. Er war aber schon krank, als er mein Haus betrat.«
»Ein Fremder? – mit seiner Tochter?« rief Könnern und fühlte, wie ihm dabei das Blut in den Adern stockte.
»Ja, Señor.«
»Ein Mann mit weißen Haaren?«
»Kennt Ihr ihn?«
»Großer, allmächtiger Gott!« rief Könnern erschüttert aus – »hier also – hier – aber da komm' ich doch vielleicht noch zur rechten Zeit! – Laßt mich zum Hause gehen, Señor, und wenn Ihr mir eine Liebe erzeigen wollt, so haltet Euch indessen nur etwa hundert Schritt die Straße hinauf. Ruft nur dort, mein Freund wird Euch antworten, und gebt ihm einen guten Rath, was er mit seinem Gefangenen machen soll.«
»Seid Ihr ein Verwandter von dem Alten?«
»Sein nächster und einziger, der ihm in Brasilien lebt.«
»Dann hat Euch der Himmel selber hierher geführt – und nun macht nur, daß Ihr hinaufkommt, wenn Ihr ihn noch am Leben finden wollt. Das Andere will ich schon mit Eurem Freund besorgen.«