Friedrich Gerstäcker
Die Colonie
Friedrich Gerstäcker

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18.

Ein Vielliebchen.

Könnern verbrachte eine unruhige Nacht. Nicht etwa, daß Sarno's Warnung irgend einen Zweifel in seiner Brust wach gerufen oder seinen Entschluß erschüttert hätte, aber die Aufregung, daß sich mit dem morgenden Tage sein Schicksal entscheiden sollte, ließ ihn nicht schlafen und erst gegen Morgen fielen ihm die müden Augen zu, nur um einer Masse von tollen und abenteuerlichen Traumbildern Raum zu geben. Mit Sonnenaufgang war er auch schon wieder munter und konnte die Zeit nicht erwarten, wo er Elise endlich sehen und sprechen würde; denn heute, das hatte er sich fest vorgenommen, ließ er sich von dem Alten nicht abweisen, mochte daraus werden, was da wollte.

Vor zehn Uhr durfte er aber keinesfalls hinüber; selbst das schien ihm noch eine etwas frühe Stunde, aber seine Ungeduld ertrug eben nicht mehr, und mit dem Schlage Zehn sprang er auf das schon gesattelte Pferd und trabte die Richtung nach Meier's Chagra zu.

Dicht vor der Colonie überholte ihn eine kleine Cavalcade von Reitern, die mit ihm denselben Weg ritt, und an der jungen, reizenden Dame, die den Zug führte, erkannte er bald die Gesellschaft. Er war aber heute Morgen nicht dazu aufgelegt, irgend eine neue Bekanntschaft anzuknüpfen, hielt deshalb sein Pferd an, grüßte und ließ die Drei an sich vorbeipassiren, die dann auch bald in den Büschen verschwanden, welche bis zum Fuße der nächsten Hügel herabliefen.

Da die drei Reiter übrigens mit ihm einen und denselben Weg verfolgten, beeilte er sich nicht mehr so sehr; er wollte gern vermeiden mit ihnen wieder zusammen zu treffen, und ließ sein Pferd erst wieder austraben, als er sich der Chagra näherte. Dort führte er es seitwärts auf einem schmalen Kuhpfade in den Wald, band es fest und setzte nun von hier ab seinen Weg zu Fuß fort.

Und wie ihm das Herz schlug! Als ob er ein Verbrechen begangen hätte und jeden Augenblick Entdeckung befürchtete, so schlich er auf dem Wege dahin und sah scheu hinauf und hinab, ob Niemand käme, der ihn stören könnte. Und mit dieser Angst auf dem Herzen sollte er dem alten Mann entgegentreten und ihn um die Hand seiner Tochter bitten? Er wagte es nicht, und zweimal war er an der Thür und hob den Arm, und zweimal schlich er zurück in den dichten Busch hinein, um sich erst wieder zu sammeln und das zu überdenken, was er Elisens Vater sagen wollte.

Das zweite Mal war er der Hecke nahe gekommen, welche der Garten umschloß, unfern von da, wo er an jenem Morgen Elisens Zitherspiel gelauscht und ihr zuletzt die beiden Waldhühner hinübergeworfen; und überdachte er sich jetzt, daß er das Mädchen seit der ganzen langen Zeit nicht ein einziges Mal wieder gesehen, ja, daß er eigentlich nicht einmal einen einzigen Grund für sich anzugeben vermochte, nach dem er schließen konnte, sie sei ihm gut, so kam ihm seine ganze Werbung eigentlich wie ein halber Wahnsinn vor, und er stand sogar auf dem Punkte, sie vollständig aufzugeben.

Was wußte sie denn von ihm? Was konnte sie von ihm wissen, das ihm ein Recht gab, sie für sich zu fordern? Wenn sie ihm nun geradezu in's Gesicht lachte, wenn sie ihm sagte – – da drangen wieder die weichen Töne der Zither heraus an sein Ohr, und ihre Stimme war es, welche sie begleitete. Was sie sang oder spielte, er hörte es nicht mehr; die Leidenschaft der ersten heißen Liebe hatte ihn übermannt, und kaum sich dessen klar, was er that, kletterte er im nächsten Augenblick schon an einer der dünnen, schlanken Palmen nächst der Hecke empor, schwang sich dort hinauf, ergriff den überhängenden Zweig eines im innern Garten stehenden größeren Baumes, welcher sich unter seinem Gewichte bog und langsam brach, und stand nur wenige Secunden später im Garten selber, und kaum fünfzig Schritt von der Stelle entfernt, an der Elise mit ihrem Instrumente im Schatten eines breitästigen Mandelbaumes saß.

Das junge Mädchen hatte aber ebenfalls das Brechen und Rauschen in den Zweigen gehört und den Kopf dorthin gewandt und sprang erschreckt empor, als sie die Gestalt eines Fremden bemerkte, welcher so gewaltsam in ihr Heiligthum brach. Aber es war nur ein Augenblick; bald erkannte sie den Eindringling und zitternd stand sie neben ihrem kleinen Tisch, als Könnern rasch auf sie zuging und wenige Schritte vor ihr mit achtungsvollem Gruß stehen blieb.

»Mein Fräulein,« sagte er, noch immer halb verlegen, aber doch jetzt schon mit dem festen Entschluß, das nun Begonnene auch wacker durchzuführen – »vor allen Dingen muß ich tausendmal um Entschuldigung bitten, mich auf solch' rauhe Weise in Ihre Nähe gedrängt zu haben, aber ich – konnte mir nicht mehr helfen; ich mußte Sie sprechen und da mir Ihr Vater, Gott weiß aus welchem Grunde, hartnäckig den Zutritt zu Ihnen weigerte, nahm ich endlich meine Zuflucht zu einem verzweifelten Mittel und – hier bin ich jetzt.«

»Ich weiß nicht,« stammelte Elise in schüchterner Verlegenheit, während sich der purpurne Strom über ihre Wangen und ihren Rücken ergoß und ihren Zügen einen noch viel höheren Liebreiz gab – »ich weiß in der That nicht, weshalb Vater – Sie müssen ihn entschuldigen – er – er ist kränklich und in der – in der letzten Zeit besonders so leidend gewesen, daß er sich scheu vor allen, selbst den ihm liebsten Menschen zurückgezogen hat.«

»Ich zürne ihm nicht, mein liebes Fräulein,« sagte Könnern herzlich – »welches Recht hätte ich auch, etwas von ihm zu verlangen, was er allen übrigen Menschen eben so gut verweigert: den Zutritt zu seinem Hause – und dennoch bin ich hier« – setzte er leise und zögernd hinzu, während auch seine Züge jetzt ein leichtes Roth färbte – »dennoch habe ich den Bann gebrochen, der auf dem Platze liegt und – vielleicht unrecht damit gethan, aber ich konnte mir nicht helfen, Elise« fuhr er leidenschaftlich fort – »ich mußte Sie sprechen, ich mußte Ihnen sagen, daß, seit ich Sie zum ersten Mal gesehen und gesprochen, nur der Eine Gedanke mich erfüllt hat, Tag und Nacht – Sie – mußte Ihnen sagen, daß ich mir kein Leben länger denken kann fern von Ihnen, und mir die Entscheidung meines künftigen Schicksals von Ihren eigenen Lippen holen.«

»Herr Könnern!« sagte Elise erschreckt, und jeder Blutstropfen verließ in dem Augenblick ihre Züge.

»Sie haben Recht,« sagte Könnern abwehrend – »es war ein tollkühner Schritt – ein Schritt, der in dieser Weise kaum auf Erfolg rechnen konnte, und erst jetzt, wo ich vor Ihnen stehe, wo es zu spät ist, ihn zurück zu thun, fühle ich das Ungehörige desselben in seiner ganzen Schwere. Aber seien Sie auch versichert, Elise, daß ich ihn nicht ganz leichtsinnig gethan, daß ich mir vorher erst klar geworden, ob ich, was mich selber betraf, die Verantwortung übernehmen konnte, Sie aus Ihrem elterlichen Hause zu führen. Meine gesellschaftliche Stellung im Leben ist eine ehrenvolle; ich besitze Vermögen genug, der Zukunft sorgenfrei in's Auge zu schauen, selbst wenn ich nicht mehr die Kraft in mir fühlte, mich durch meine Kunst zu erhalten. – Aber das Alles sind Eigenschaften, welche nur die Existenz selber – nicht das Herz berühren, und ich hatte nicht bedacht, daß Sie mich ja noch gar nicht kennen, daß Sie also auch kein Vertrauen zu mir haben können, ob ich es wirklich so ehrlich und treu meine, wie meine Worte sagen.

Elise athmete kaum. Der Blick, den sie im Anfang schüchtern zu ihm aufgehoben, hatte schon lange den Boden wieder gesucht und wenn sich auch ihre Lippen ein paar Mal theilten, als ob sie irgend etwas erwidern wollte, wurde doch keine Silbe laut. Auch Könnern schwieg jetzt, und Beide standen einander stumm, in peinlicher Pause gegenüber. Da nahm Könnern das Wort wieder auf und sagte leise:

»Sie haben Recht, Elise – die tolle Frage bedarf keiner Antwort. Lassen Sie mich gehen und als einzige Erinnerung Ihr liebes Bild im Herzen mit forttragen in die weite, öde Welt. Nur um das Eine bitte ich Sie, recht aus Grund meiner tiefsten Seele, zürnen Sie mir nicht. Vergessen Sie, daß ich leichtsinnig und unüberlegt gehandelt, und denken Sie, daß ich fortan nur ein einsamer, armer Wandersmann sein werde, der – so fortfahren wird, die Welt zu durchziehen, wie er begonnen, weil er eben – nirgends Ruhe finden kann. Leben Sie wohl, Elise – ich werde Ihnen nie wieder störend in den Weg treten und – Gottes reichster Segen über Sie!«

Mit diesen Worten nahm er ihre Hand, welche sie ihm willenlos überließ, drückte einen innigen Kuß darauf, ließ sie los und wandte sich rasch ab, um den Garten wieder zu verlassen.

»Könnern,« rief da Elise mit leiser, zitternder Stimme – »gehen Sie nicht so!«

»Elise – darf ich glauben, daß Sie mir nicht zürnen?« bat der junge Mann, welcher sich ihr bei dem Laut rasch wieder zudrehte.

»Zürnen?« flüsterte das junge Mädchen, den Kopf traurig zu Boden gesenkt – »zürnen?« wiederholte sie, »wo es das erste Freundeswort ist, das ich seit langen, langen Jahren gehört? Gehen Sie, Könnern, gehen Sie in Ihre Welt hinein, welche ich nicht kenne – welche ich nie kennen soll, aber nehmen Sie die Versicherung mit, daß Sie einer Unglücklichen einen lieben, lieben Trost gebracht, daß Sie ihr einen Augenblick des Glückes geschaffen haben, an dem sie, mag er so kurz gewesen sein wie er will, noch lange Jahre freudig zehren wird. Gehen Sie, Könnern, mein Vater wird mir nie erlauben, mich von ihm zu trennen – er könnte auch nicht ohne mich leben, aber denken auch Sie manchmal freundlich eines armen Mädchens, das . . .«

Könnern hielt sich nicht länger. Mit frohlockendem Herzen hatte er den Worten des lieben Kindes gelauscht – die Hindernisse, welche sie ihm in den Weg warf, er achtete ihrer nicht, er hörte sie kaum, und jetzt rasch zu ihr zurückkehrend, rief er jubelnd aus:

»Elise – meine Elise – Du bist mir gut? Du zürnest nicht dem kecken Fremden, der es wagte, an Dein Herz zu pochen, Du läßt mich hoffen, daß ich Dich gewinnen kann? Oh, nun ist Alles gut, Alles gewonnen, denn der Vater wird und muß Dich mir geben. Oh, wenn ich Dir jetzt nur mit Worten sagen könnte, wie herzlich ich Dich liebe; wie all' mein Sehnen und Trachten, all' meine Gedanken die ganze lange Zeit, in der wir uns nicht gesehen, gesprochen, nur Dir gehört, nur Dein gedacht! Sieh mich an, Elise, oh, laß mich in Deinen lieben treuen Augen das Glück auch lesen, das Du mir in Deinen herzlichen Worten gegeben, laß mich darin die Bestätigung finden, daß ich nicht mehr allein stehe auf der Welt und ein Herz gefunden habe, das mein sein will in Lust und Leid, in Sorge und in Glück.«

Elise schlug das thränengefüllte Auge zu ihm auf und lehnte ihr Haupt dann schwer und seufzend an seine Brust.

»Es kann nicht sein,« flüsterte sie – »ich darf nicht glücklich werden – werd' es nicht!«

»Du wirst es – mit diesem Kuß gewinn' ich Dich zur Braut, und wie mich Gott verlassen soll in meiner letzten Stunde, wenn ich je von Dir lasse, so vertraue auch mir! Leg' Dein Geschick getrost in meine Hände, und steht uns auch noch eine Prüfung bevor, sollten uns auch noch Hindernisse in den Weg treten, laß Dich nicht entmuthigen. Was es auch sei, wir werden's überwinden, und wie ich jetzt mein ganzes Leben Dir zu eigen gebe, so sei versichert, daß Dein künftiges Glück in guten und treuen Händen ist.«

»Und wenn uns der Vater trennt?«

»Er kann, er darf es nicht, Herz,« sagte Könnern, wieder und wieder ihre Stirn küssend, denn sie hielt das Antlitz noch fest an seiner Brust geborgen – »er wird auch in der Kinder Glück das eigene wieder finden, wieder vergessen lernen, was ihm die Welt vielleicht zu Leide gethan, und so nur können wir auch ihn dem Leben wieder gewinnen, dem er jetzt ja fast vollständig entsagt. Fürchtest Du Dich noch?«

»In Deiner Nähe nicht,« flüsterte die Jungfrau – »hier an Deiner Brust ist mir wohl – oh, so möcht' ich sterben! Wenn ich aber weiter denke – wenn ich glauben muß, daß uns ein böses Geschick je wieder trennt – oh, gehe nicht von mir,« bat sie, ihn leidenschaftlich umschlingend – »laß mich nicht wieder allein, denn jetzt erst, in diesem Augenblick erst fühl' ich, was ich mein ganzes Leben lang entbehrt – Liebe! – Liebe!«

Ein lindernder Thränenstrom machte ihrem Herzen Luft, und zitternd, weinend lag sie lange in Könnern's Armen. Endlich rang sie sich gewaltsam von ihm los, und ihre Thränen trocknend, sagte sie, mit einem gar so lieben wehmüthigen Lächeln zu ihm aufschauend:

»Bin ich nicht ein Kind, daß ich dem ersten Glück entgegenweine – und doch – der Allwissende dort oben sieht es – trage ich es mit bitter schwerem Herzen – oh, Bernard, willst Du mich nie vergessen, wenn uns auch – das Schicksal wieder auseinander reißt?«

»Nie, nie soll das eine noch das andere geschehen!« rief leidenschaftlich der junge Mann – »und jetzt banne die trüben Gedanken aus Deiner Seele, Du süßes Lieb – oder« – fuhr er leise flüsternd und lächelnd fort – »soll ich Dich daran erinnern, daß Du – Dein Vielliebchen gefunden hast! Wie hieß doch der letzte Vers, Schelm?«

Elise barg das erröthende Antlitz wieder an seine Brust und sagte:

»Wie Du mich damals erschreckt hast!«

»Und Du wußtest, von wem es kam?«

Sie antwortete nicht, aber er fühlte, wie sie leise mit dem Kopf nickte und sich dem Versuch hartnäckig widersetzte, ihr Antlitz zu dem seinen emporzuheben.

»Du wußtest, was es bedeutete?« flüsterte er so leise, daß sie die Worte kaum verstand, und wieder nickte sie und schmiegte sich fester an ihn – und, oh der Seligkeit dieser Stunde, in der sich zwei Herzen fanden und verstanden und des reinen Glückes inne wurden, nur in sich selber Eins zu sein! Was kümmerte sie auch jetzt die Außenwelt, was Sorge und Gefahr der nächsten Stunde? Könnern's muthiges Herz setzte sich leicht darüber weg, und Elise selbst war zu selig, um nicht dem Augenblick auch ein Recht zu gönnen.

Könnern führte die Geliebte jetzt zu der kleinen Bank unter dem Mandelbaume, vor welchem ihr Zithertisch stand, und Hand in Hand, Auge in Auge saßen die jungen Leute und plauderten und fanden des Himmels Seligkeit in der Liebe Glück.

Da tönte vom Hause her ein kleines Horn und erschreckt fuhr Elise empor. Das war das Zeichen zum Frühstück, und sie mußte fort aus dem Garten.

»Die Mutter ruft,« sagte sie ängstlich – »ich darf nicht länger säumen, und – großer Gott, es ist so spät geworden und der Vater jetzt auch schon im Garten – wenn er Dich sieht . . .«

»Fürchtest Du Dich, Elise? Fürchtest Du Dich an meiner Seite,« sagte Könnern herzlich – »und haben wir denn etwas Böses gethan, daß wir den Blick der Eltern zu scheuen hätten? Offen will ich vor sie treten – jetzt in diesem Augenblick, nicht im Geheimen mag ich zu ihrem Kinde schleichen und mir dessen Liebe stehlen, wie ein unrecht Gut! Nein, ich habe sie mir ehrlich gewonnen und will sie ehrlich wahren als meinen höchsten und theuersten Schatz.«

»Aber der Vater . . .«

»Früher oder später müßte er doch wissen, daß wir einander angehören wollen für das ganze Leben; weshalb dann eine Zeit in Angst und Sorge verleben, die nur dem reinsten Glück gehören sollte? Glaube mir, mein süßes Herz, Dein Vater ist lange nicht so schlimm, wie Du zu denken scheinst. Auch er hat einst mit treuer Liebe um Deine Mutter geworben, und der Zeit mag er gedenken, wenn ich vor ihn trete. Außerdem stehe ich selbstständig in der Welt, und der Director Sarno, welcher meine Familie genau kennt, mag ihm bezeugen, daß er um die Zukunft seiner Tochter nicht besorgt zu sein braucht. Fürchtest Du noch, daß er Dich mir verweigern wird?«

»Ja,« hauchte Elise, während ihre Züge wieder erbleichten – »trotz alle dem; Du kennst den Vater nicht.«

»Und Deine Mutter?«

Elise stand noch unschlüssig vor ihm, den Blick zu Boden gesenkt. Endlich schlug sie die treuen Augen zu ihm auf und sagte mit einem rührenden Blick voll Vertrauen und Liebe:

»So geh zu ihm, Bernard – sprich mit ihm – ich vertraue Dir ganz! Wie Dir mein Herz von jetzt allein gehört, will ich mich auch von Deinem Herzen leiten lassen. Ich fühle, Du hast Recht; wir dürfen kein Geheimniß vor den Eltern haben – ich wenigstens nicht, nach Allem, was sie schon für mich gethan. Gehe zu ihnen, und Gott möge des Vaters Sinn lenken, daß er das Glück des Kindes, zum ersten Mal, wo es in seine Hand gelegt, nicht selbst zerstört. Aber noch Eins, Bernard,« fuhr sie fort, als er sie mit sich dem Hause zu ziehen wollte – »was auch der Vater beschließt – wie auch sein Urtheil lautet – und wenn mein eigen Herz darüber brechen müßte – ich kann und darf nicht ungehorsam sein.«

»Elise!«

»Ich bleibe Dir treu,« bat die Jungfrau – »nie wird sich diese Hand in eines andern Mannes Rechte legen, aber wenn mich des Vaters Gebot an seine Seite zwingt, so werd' ich bleiben, was auch mit mir geschehe.«

»Es sei,« sagte Könnern nach einer kurzen peinlichen Pause – »wie leicht ich aber auch vorher, als ich mich Deiner Liebe versichert wußte, dem entscheidenden Schritt entgegen ging, so schwer gehe ich jetzt, wo ich fürchten muß, Dich wieder zu verlieren, in demselben Augenblick, wo ich Dich mein auf immer geglaubt. Aber die erste Bitte kann und will ich Dir nicht abschlagen – ich fühle, daß ich Dich nicht zwingen darf, wenn ich damit nicht Deinen Frieden für spätere Zeiten zerstören soll. Ich will allein Dein Glück – und daß ich nur das will, kann ich Dir jetzt beweisen.«

»Ach, Bernard,« sagte das junge Mädchen traurig – »nur an Deiner Seite find' ich das und gehst Du von mir, ist es doch vorbei – aber trotzdem danke ich Dir – danke ich Dir recht von Herzen für Deine Liebe, welche Du mir jetzt stärker als vorher gezeigt – und nun zum Vater, daß wir unsere Bitten dort vereinen.«

Schon vor einiger Zeit hatten sie draußen vor dem Garten wildes Pferdegestampfe und Stimmen gehört, aber, zu sehr mit sich selber beschäftigt, nicht weiter darauf geachtet. Jetzt eben hatte sich das wiederholt und sie blieben horchend stehen. Könnern dachte an sein eigenes Pferd, ob sich das vielleicht losgerissen haben könnte, aber das war fest und sicher angebunden – vielleicht waren es trunkene Colonisten, die hier dem Städtchen zujagten – was kümmerte es sie – Seite an Seite, Könnern seinen rechten Arm um der Geliebten Schulter gelegt, schritten sie langsam den Kiesweg an der Hecke entlang hin, welcher dem Hause zuführte. Kaum aber waren sie in der Nähe der Thür angelangt, die hinaus in's Freie führte und stets sorgfältig verriegelt gehalten wurde, als ein paar heftige Stöße dagegen erfolgten und eine Stimme draußen, welche Könnern bekannt schien, um Einlaß bat.

»Was ist das?« sagte Elise, ängstlich seinen Arm ergreifend – »wir dürfen nicht öffnen.«

»Es ist ein Unglück geschehen!« rief Könnern, »sollen wir nicht nachsehen?«

»Ein Unglück?« wiederholte das junge Mädchen erschreckt.

»Ich halte eine Ohnmächtige hier im Arme!« rief da Günther's Stimme wieder – »wollt Ihr sie hier im Wege sterben lassen?«

»Eine Ohnmächtige?! Gleich, gleich!« rief Elise, jede weitere Furcht bei Seite setzend – »der dürfen wir ja doch unsere Hülfe nicht versagen« – und zu der Thür springend, schob sie die beiden großen Riegel zurück. Könnern drückte zugleich das breite Schloß auf, das nach außen keine Klinke hatte, und sah erstaunt den Freund mit seiner Bürde.

»Günther!« rief er überrascht aus – »Sie hier und mit einer Dame in Arm?«

»Ich könnte, glaub' ich, so ziemlich dieselbe Frage an Sie richten, Könnern,« lachte der Freund, »wenn wir jetzt Zeit zur Unterhaltung hätten, aber die Arme sind mir schon erlahmt – mein Fräulein, dürft' ich Sie bitten, sich der armen Dame anzunehmen?«

»Oh, das Haus ist nur wenige Schritte von hier entfernt,« rief Elise, welche mit gefalteten Händen vor der bleichen Fremden stand – »ach, das bildschöne, unglückliche Kind – kommen Sie rasch mit mir, dort ist Alles, was ihr Hülfe bringen kann« – und mit flüchtigen Schritten flog sie ihnen voran, den Gang hinauf. Könnern hatte indessen, dem Freunde die Last zu erleichtern, den Oberkörper der Bewußtlosen in seinen Arm genommen, so daß sie rasch der Jungfrau folgen konnten, und unterwegs erzählte ihm Günther mit kurzen Worten, was draußen vor dem Garten geschehen.

Jetzt hatten sie das Haus erreicht und stiegen die wenigen Stufen zu dem untern Gartensaale hinauf – die Mutter war schon durch ein paar flüchtige Worte Elisens von dem Unfall unterrichtet und in ihr Zimmer gegangen, um englisches Salz zu holen – nur Elise erwartete sie am Eingang und die beiden Freunde legten die Ohnmächtige jetzt auf das an der entgegengesetzten Wand stehende Sopha.

Günther hatte ihre Kleider etwas geordnet und richtete sich eben auf, als die Thür links geöffnet wurde und Meier eilig hereintrat.

»Was geht denn hier vor?« rief er bestürzt – »was ist geschehen? Das ist ja ein Lärm« – sein Auge begegnete Günther's fest und erstaunt auf ihm haftenden Blick und Könnern, welcher sich eben bei ihm entschuldigen wollte, bemerkte zu seinem Erstaunen, daß der alte Mann zurückschrak, als ob er einen Geist gesehen hätte.

Noch standen sie sich so gegenüber, während Elise mit der Bewußtlosen beschäftigt war und ihr das Kleid zu öffnen suchte, als die andere Thür aufging und Elisens Mutter mit dem herbeigeholten Fläschchen eintrat – nur Einen Blick aber warf sie auf die Gruppe der drei Männer, als auch das Flacon ihrer zitternden Hand entfiel.

»Mutter, liebe, beste Mutter!« rief Elise, zu dieser springend – »es ist nichts – nur eine Ohnmacht – sie schlägt die Augen schon wieder auf.«

»Herr Sellbach!« sagte Günther mit ruhiger, kalter Stimme – »ich hatte allerdings keine Ahnung, daß wir so lange schon nahe Nachbarn gewesen waren und kann dem Zufall nicht genug danken, der uns hier zusammenführt.«

Der alte Mann stand wie zu Stein erstarrt – seine Lippen hatten sich getheilt, aber er sprach kein Wort; seine Augen, vor denen er heute nicht die blaue Brille trug, schienen aus ihren Höhlen drängen zu wollen und die beiden Arme hielt er wie abwehrend vorgestreckt.

»Sie kommt zu sich!« rief Elise, welche das ihr entgegengerollte Flacon aufgehoben und der Kranken vorgehalten hatte – »Gott sei Dank! Beruhige Dich, liebe Mutter, und Vater« – sie wandte sich, während sie sprach, dem Vater zu und stieß einen Angstschrei aus, als sie den Zustand sah, in welchem er dem Fremden gegenüber stand.

»Vater!« rief sie – »lieber, bester Vater – um des barmherzigen Gottes willen, was ist geschehen?« Und in Windeseile war sie an seiner Seite und umschlang ihn mit ihren Armen. Erst die Berührung schien den Zauber zu lösen, von dem er befangen war. – »Oh, mein Gott!« stöhnte er – »endlich! endlich!« und wäre jetzt zu Boden gesunken, hätte ihn die Tochter nicht in ihren Armen gehalten und zu dem nächsten Stuhl geführt, in den er, ineinander gebrochen, zusammensank.

»Um Gottes willen, was geht hier vor?« rief Könnern, des Freundes Arm ergreifend – »welch' Geheimniß lagert zwischen Euch?«

»Hier ist jetzt weder Platz noch Zeit, das zu erklären,« drängte Günther – »das Fräulein richtet sich auf und – braucht eben nicht zur Mitwisserin gemacht zu werden. Bitten Sie die junge Dame, daß sie die Fremde in ihr Zimmer führt, bis sie sich vollständig erholt hat und das Haus verlassen kann. Wir werden draußen auf sie warten, um sie sicher nach Hause zu geleiten.«

»Aber ich begreife gar nicht!«

»Thun Sie, wie ich Ihnen sage. Alles Andere nachher.«

»Aber wir können die Familie doch nicht jetzt, nicht in diesem Zustande verlassen?«

»Wir können ihr keinen größeren Gefallen thun. Folgen Sie mir nur dieses Mal, Könnern – des jungen Mädchens wegen, wenn Sie sonst nicht wollen.«

Helenens starke Natur hatte indessen vollständig die augenblickliche Schwäche abgeschüttelt. Möglich, daß sie beim Sturze doch vielleicht mit dem Kopf auf einen Stein getroffen und davon nur betäubt gewesen war; aber sie richtete sich empor und sah erstaunt auf ihre Umgebung. Günther, der in diesem Augenblicke für alle zu denken schien, benutzte den günstigen Augenblick und auf sie zutretend, bot er ihr seinen Arm.

»Ich sehe zu meiner Freude, daß Sie sich erholt haben, Comtesse; erlauben Sie mir, Sie an die frische Luft zu führen, die wird Ihnen wohler thun, als alle Medicamente der Welt.« Leise setzte er dann hinzu: »Die alten Leute sind außer sich über Ihre Ohnmacht, die sie für weit gefährlicher halten, als sie war. Zeigen Sie sich kräftig, daß wir sie beruhigen.«

»Ich bin kräftig,« sagte das junge Mädchen, »aber ich begreife nur nicht, wo ich bin, wie ich hierher gekommen.«

»Ich erzähle Ihnen die Geschichte unterwegs,« lachte Günther, ihren Arm ohne weitere Umstände in den seinen ziehend. »Könnern, thun Sie mir den Gefallen und sehen Sie draußen nach dem Pferd, daß kein weiteres Unglück geschieht – Sie können ja dann zurückkehren, wenn Sie wollen,« flüsterte er ihm zu.

Könnern war wie betäubt. Er sah wohl, daß etwas Außergewöhnliches – etwas Furchtbares hier vorgegangen sei, aber er begriff nicht, was; Elise war dazu, ohne auch nur weiter seiner zu achten, mit dem Vater beschäftigt, und ehe er selber zu einem recht klaren Bewußtsein gekommen war, hatte Günther, während er an dem rechten Arme Helenen führte, mit der Linken ihn ergriffen und zog den keinen Widerstand mehr Versuchenden mit sich hinaus in's Freie, durch den Garten und auf die Straße, wo er ohne Weiteres die Thür hinter sich in's Schloß warf und ihnen dadurch Allen den Rückzug vollkommen abschnitt.

Hier aber half ihnen Helenens Bruder aus der augenblicklichen Verlegenheit, was sie mit der jungen Dame anfangen sollten. Als sie auf den Weg hinaustraten, kam er, da er indeß seines Pferdes wieder Herr geworden, zurückgesprengt, um die Schwester zu suchen.

Allerdings fürchtete Könnern, daß sie sich noch nicht allein im Sattel halten könne und bat sie, das Pferd, welches noch an dem Lasso befestigt stand, lieber zur Stadt führen zu lassen. Helene schlug das aber lächelnd ab.

»Ich bin an derlei Abenteuer gewöhnt,« sagte sie freundlich; »nur eins beunruhigt mich: so ganz ohne einen Dank von der Familie zu scheiden, die mir so gütige Hülfe geleistet, und die ich dafür so erschreckt und gestört habe.«

»Ich werde Sie entschuldigen,« wehrte Günther ab »und Sie können ihr immer später einen Besuch abstatten. Jetzt halte ich es für besser, daß Sie so rasch als möglich nach Hause zurückkehren und sich dort erst vollständig ausruhen. Die Folgen eines solchen Zufalls fühlt man gewöhnlich erst später, und es ist immer besser, sich etwas vorzusehen.«

Günther setzte seinen Willen durch. Könnern holte den Schimmel; der Stamm eines umgestürzten Baumes machte es ihr leicht, in den Sattel zu kommen – und bald hielt sie den Zügel wieder fest in der Hand.

Von dem Moment an aber, als sie wieder die Straße betreten, hatte Helene, als ob sie Jemanden suche, auf und ab gesehen, und selbst ihr Bruder, der jetzt neben ihr hielt, bemerkte dies.

»Suchst Du Freund Pulteleben?« fragte er lachend; »dem bin ich vorhin in einem traurigen Zustand zu Fuß begegnet, und ihn selber hat der Rappe bös zwischen Dornen und Geröll abgesetzt. Wenn er es hindern könnte, ließ er sich gewiß vor keinem Menschen sehen, ehe er frische Toilette gemacht hat; der ist bitterböse zugerichtet.«

»War nicht noch ein anderer Herr mit Ihnen?« wandte sich Helene aber an den jetzt neben ihr stehenden Günther, ohne die Leidensgeschichte Pulteleben's weiter zu beachten – »derselbe, wenn ich nicht irre – der sich meinem Pferd entgegenwarf?«

»Allerdings,« erwiderte der Gefragte – »sein eigenes Thier war ihm aber indeß davongelaufen und er wird wohl nachgegangen sein, um es zu holen.«

»Ich bin Ihnen zu vielem Dank verpflichtet!« sagte das junge schöne Mädchen herzlich.

»Mir nicht im Geringsten,« wehrte Günther lächelnd ab; »ich habe kein Verdienst, als daß ich Sie in's Haus getragen habe und das – trug schon seine eigene Belohnung in sich selbst.«

Helene erröthete, aber sagte freundlich: »Und darf ich hoffen, Sie wieder zu sehen, wenn Sie hier auf frischer That meinen Dank verschmähen?«

»Wenn Sie mir erlauben, werde ich sicher morgen bei Ihnen nachfragen, ob der kleine Unfall, wie ich fest hoffe, keine weiteren nachtheiligen Folgen für Sie gehabt.«

»Und« – sagte Helene, aber sie hielt das Wort zurück, neigte sich gegen die beiden Freunde und rief: »Auf Wiedersehen denn!« als der Schimmel schon den Druck ihrer Hacken fühlte und mit ihr in scharfem Trab der Colonie zuflog. Oskar hielt sich an ihrer Seite, und Günther nahm Könnern's Arm und führte den, wenn auch im Anfang Widerstrebenden trotz seinem Sträuben mit sich die Straße hinab, die Jene vorangeritten waren.



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