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Erster Theil.
Hoch wölbt sich der dunkelblaue Himmel über der Erde. Auf der Erde dehnen sich weit die grünen, flachen Felder. Zwischen den Feldern steht ein Häuschen mit weißen Mauern; daneben schwillt das reiche Laub des Baumgartens über den Zaun. Ueber dem Hause blickt ein rother Kirchthurm hervor. Dahinter dehnt sich ein Dorf mit seinen verwitterten Strohdächern. Die friedliche Ruhe eines sonnigen Juninachmittags hat sich über die flache Landschaft gesenkt.
Das weiße Häuschen ist durch den Kirchthurm selbst als das Pastorhaus bezeichnet. Vor dem Hause im Schatten des Gartens sitzen Pastor Wagners am weißbedeckten Tische und trinken das gewohnte Schälchen Kaffee.
Der alte Herr Pastor sitzt in einem Rollstuhle, eingehüllt in den Schafpelz von bescheidnem Ansehn, das gichtische Bein über den Schatten des Fliederstrauches hinaus in den stechenden Sonnenschein streckend. Nur wenige graue Haare kommen unter dem verschossenen Sammetkäppchen hervor; die Gesichtsmuskeln haben ihre Spannung verloren und lassen die Lippen aufgeworfen weit über die zahnlosen Kiefern hinaushängen; das Licht der Augen ist erstorben; die Augenbrauen fehlen fast ganz und in tiefen Falten zieht sich die Stirn zusammen. Der Anblick des alten Mannes zeigt die gebrochene Kraft des Geistes wie des Körpers.
Ihm gegenüber sitzt die Frau Pastorin, ihre Blicke theilend zwischen dem Strickzeuge und dem kranken Gatten. Auch bei ihr zeigen sich die Spuren des Alters und des Leidens; die Farbe des Gesichtes und der Haare ist gebleicht und von den Wangen die Fülle der Jugend verschwunden. Aber aus ihren Zügen spricht ein geistiger Stolz und in den Augen wohnt eine sanfte Seele, deren träumerische Wehmuth daraus gleichmäßig hervorblickte, so oft die Lider aufschlugen. Das Unglück ihrer Jugend, den Mann ihrer ersten Liebe, einen dichterischen Jüngling, im deutschen Freiheitskampfe verloren zu haben, hatte diese Schwermuth über ihr ganzes Leben verbreitet.
Neben diesen Erscheinungen des ruhigen und sorglichen Alters belebte den Kaffeetisch die Inhaberin des dritten Platzes, Aennchen, des Pastors Nichte. Gleich beim ersten Anblick sah man es ihr an, daß die Frische ihres Gemüthes nicht durch die Stille des Hauses eingeschüchtert war. Ohne durch eine Bewegung oder einen Laut die Ruhe des empfindlichen Kranken zu stören, war sie das vollkommne Bild der Heiterkeit und Lebendigkeit; so traulich munter lächelten diese rothen Lippen in sich hinein; so ausgelassenes Leben glänzt aus diesen vergißmeinnichtblauen Augen! Dazu die ländlich gesunde Farbe der Wangen, die reichen goldblonden Zöpfe, wie ein Kranz um den Kopf geschlungen, der trotz aller Sonnenstrahlen alabasterweiße Nacken, die sichere Anmuth des zwar zarten, aber auch kräftigen Figürchens, – kurz, schon das ganze Aeußere übte den wohlthuenden Reiz einer lebensfrischen, einnehmenden Persönlichkeit aus. Und welche heitere Seele mußte in dem Herzen wohnen, das hinter dem schwarzseidnen Busentuche klopfte! So munter ging es darin zu, daß die ausgelassenen Gedanken ihr bis in die Wangen hinaufhüpften, wo sie in den reizenden Grübchen auftauchten, im Augenblick auch wieder verschwimmend; oft gar schlüpften heute die losen Gedanken bis auf die Lippen und verriethen sich durch ein Lächeln, bis Aennchen sie ertappte und, mit den weißen Zähnen verbeißend, in die geheimen Kammern des Herzens zurückwies.
Längst schon hatten die Bewohner des Pfarrhauses die gewohnte Anzahl der Schälchen Kaffee getrunken. Sie hatten nur dann und wann ein Wort gewechselt über irgend einen Gegenstand in der Hauswirthschaft oder eine benachbarte Familie; darauf folgten jedesmal wieder lange stumme Pausen. Es war das bei Wagners so Gewohnheit, daß man wenig sprach; der alte Herr litt an geistiger und leiblicher Ermattung; seine Frau sah nachdenklich vor sich hin, aber sie pflegte nicht auszusprechen, worüber sie nachdachte. Aennchen sprach auch nicht, aber wer sich so auf Blicke und Mienen junger Mädchen versteht, mußte es bemerken, daß gerade heute irgend welche Gedanken sie ungewöhnlich erwartungsvoll und ungeduldig machten.
Der Schatten des Fliederbusches war länger und länger geworden; der alte kranke Mann hatte schon mehre mal mit seinem Stocke den Rollstuhl vorgerückt, um mit dem Beine dem Sonnenschein nachzukommen. Da endlich wurde die anhaltende Stille dieses Kreises von außen unterbrochen. Man hörte die verstimmte Schelle der Hausthür, die nach dem Kirchplatz hinausging, anschlagen. Geschwind und erschreckt wie ein Reh sprang Aennchen auf, um nachzusehen. »Es ist nur Hanne«, sagte sie langsamer zurückkehrend.
Hanne trat zu ihrer Herrschaft und berichtete in bäurischem Dialekt, daß sie auf dem Amte gewesen sei, der Postbote aber keinen Brief für Pastors mitgebracht habe.
Nach einer Pause, in der alle drei Tischgenossen niedergeschlagen schienen und die Frau Pastorin besorgt nach der aufgeregten Aengstlichkeit ihres Gatten geblickt hatte, sagte dieser, als er ihrem Blicke begegnete: »Er kommt nicht. Ich hab's immer gesagt. Er kommt nicht.«
Den sie erwarteten, war ihr Sohn, der verloren geglaubte Sohn, der in den Schoos der Familie zurückkehren sollte.
»Aber, lieber Wagner«, so beschwichtigte den Alten die sorgliche Gattin, »am Freitag sollte das Examen sein und heute ist erst Montag. Wer weiß, was er vor seiner Abreise noch zu besorgen hat. Er kann noch immer kommen.«
»Aber, er wird nicht kommen«, so beharrte der Kranke in seiner Verdrießlichkeit. »Ich weiß es, was es ist; er ist durchs Examen gefallen, durchs Examen gefallen!«
»Ich glaubs nicht. Ich traue meinem Sohne mehr zu. Er ist ein kluger Kopf«, sagte die Mutter.
»Ja, kluger Kopf! daran fehlts ihm nicht. Doctor, Bücherschreiber möcht er wol werden. Da wirds nicht hapern. Da hat er genug studirt, Metaphysika, Historie und Logik und politische Sachen. Aber das Gediegene, das Gründliche, das Eigentliche, das ist nie seine Sache gewesen – nie seine Sache gewesen«, wiederholte er, wie er gewohnt war aus Zerstreutheit und Geistesschwäche.
Aennchen, die, sobald von »ihm« gesprochen wurde, noch emsiger nähte und ihr Köpfchen zur Arbeit tief niedersenkte, konnte sich nicht enthalten, da die Alten einmal sprachen, doch auch ihrem Herzen durch ein paar Wörtchen Luft zu machen. »Ach, lieber Onkel«, sagte sie, »mache dir doch nicht solche Sorgen, eh du weißt, ob du Recht hast. Weißt du nicht, wie seine Freunde von der Universität, wenn sie hier durchreisten, euern Ernst rühmten? Und wie schöne, kluge Briefe schreibt er! Wer so schön schreibt, kann auch so schön predigen. Paß auf, Onkelchen, er hat das Examen bestanden und kommt, wenn wir's gerade nicht mehr vermuthen.«
»Gute Briefe schreibt er«, schmollte der Alte, »dafür auch selten genug. Wir sind sie kaum werth, wir sind sie kaum werth.«
»Wagner, wie kannst du nur so sein!« so schalt ihn die Frau mit sanftem Tone. »Aus seinen Briefen siehst du doch, daß er längst bereut und vergessen hat, was vor jenen vier Jahren geschehen ist. Wie zärtlich und dankbar schreibt er immer!«
»Gegen dich, Mutter, gegen dich. Mich hält er keiner Zärtlichkeit werth.«
»Wenn du sie nicht annehmen willst. Aber dann kann er nicht dafür«, so vertheidigte die Mutter den Sohn.
»Nun, ich will weiter nicht reden, ich will weiter nicht reden. Es wird sich zeigen. Kommt er wieder und ist er ein tüchtiger, brauchbarer Mensch geworden, so ist Alles gut. Das ist ja die einzige und größte Bitte an meinen Schöpfer. Wenn Ernst meine Stelle hier übernehmen kann, wenn mich der Herr zu sich ruft, dann will ich weiter nichts mehr, dann ist für euch gesorgt, mein Sohn bleibt für mich auf meinem Platze und ich kann mein Haupt getrost in die Grube legen.«
Schmerzliche Beängstigung malte sich auf dem Antlitz des Greises; sein Kopf und seine Hand geriethen in Zittern und verriethen die innere Bewegung. Auch der Blick der Mutter war trüber geworden; sie vergaß ihre Arbeit und in Gedanken versunken sah sie vor sich hin. Aus Aennchens sonst so heitern Zügen blickte ein kleiner Unwille hervor. Bei der Betrübniß der lieben Ihren mußte auch ihr bange zu Muthe werden. Sie wollte sich aber der Sorge nicht hingeben, wo sie noch nicht unwiderruflich war. Sie sprang auf und trug das Kaffeegeschirr ab in das Haus, um sich der Bangigkeit zu entziehen.
Als die Ehegatten allein waren, begann der Greis wieder: »Und das arme Kind! Wie ist das Aennchen ein Leben und eine Lust, seit wir Ernst erwarten! Ich seh's ihr an, sie hat nicht vergessen, was damals gescherzt wurde, Anna und Ernst sollten ein Paar werden. Damals gefiel ihm das vierzehnjährige Kind. Ja, gefallen könnte sie ihm auch jetzt noch; aber er –! wer weiß denn, was aus ihm geworden ist. Barmherziger Vater, mir wird ganz bange, wenn ich an das gute Herzchen denke. Wenn so ein Kind sich Etwas in den Kopf gesetzt hat, wie thut das weh, wie thut das weh! Du gütiger Himmel, du machst mich zum glücklichsten Greise: gib mir meinen Sohn wieder wie er von mir ging! Gib mir meinen Sohn wieder!« In unverständliches Murmeln verfiel seine Rede, das wie peinvolles Seufzen über seine Lippen drang, bis Aennchen wieder hinzutrat.
Indeß fing der Tag an sich zum Abende zu neigen. Die Schatten wurden länger und dunkler; die Sonnenstrahlen fielen schwächer und farbiger; sie flohen schon an der Mauer des Hauses hinauf und der gichtische Fuß des alten Herrn konnte ihnen nicht mehr nachrücken. Die Blumen im Garten und die Blüten der Fliedersträuche und Apfelbäume begannen stärker, wollüstiger zu duften; jeder Athemzug war erquickender Genuß, jedes Lüftchen ein Hauch des Lebens. Diese Stunde, wo dem Gesunden die freie Natur erst lieb und stärkend wird, scheute der hypochondrische Kranke. Mit Hülfe der Magd ließ er sich auf seinem Stuhle wieder in das Haus rollen und sein Weib half ihm, die schmerzenden Glieder zur Ruhe legen.
Aennchen stach indeß eine Schüssel Spargel aus den Beeten. Die Tante setzte sich dann zu ihr in den Garten und half ihr die Stengel beschaben. Am Rande des Baumgartens entlang sahen sie auf die frischen Wiesen und den grünen Busch, der sie begrenzte. Wie lieblich ist doch die Natur auch in ihrem einfachsten Kleide! Nichts bot sie den Blicken dar, als hier die weißlich blühenden Apfelbäume; dort weiter unten das frische Saftgrün des Birkenhains mit den hindurchschimmernden weißen Stämmen und dazwischen die dunkle Färbung der Haselsträucher, durch welche die vergoldenden Abendlichter streiften; vor alledem der Teppich des schwellenden Rasens, hier mit einem gelben, dort mit einem rothen Kranze geziert, und darüber der unendlich tiefblaue Himmel mit den weißen und röthlichen Schafwölkchen, durch welche die Glut des Abendrothes hindurchzudringen strebte. Welche Pracht, welche Wonne, welcher Friede in dieser alltäglichen Erscheinung der Natur. Aennchens Tante hatte den Sinn, die Schönheit eines solchen Anblickes zu empfinden. Manchmal hatte sie gesagt: »Die reichen Leute machen weite Reisen in die Welt, durchstreichen die gefährlichsten Abgründe und erklimmen die höchsten Felsgipfel; was aber genießen sie bei alledem mehr, als meine liebe Heimat mir alle Tage gewähren kann!« So blickte sie jetzt mit andächtiger Empfindung auf die Sonnenstrahlen, die sich im letzten Verlöschen mehr und mehr vergoldeten, und die Schatten, die dichter und dichter hinter den Büschen herlugten. Es war als wenn das Auge des Tages einschlummernd bereits halb geschlossen sei und die letzten zitternden Bilder vorüberflimmern lasse, um ganz zuzufallen und sich und die Welt in träumerische Ruhe zu versenken.
In solchen Augenblicken beschleicht das beunruhigte Gemüth des Menschen die Sehnsucht, sich versenkt zu fühlen aus dem steten Wechsel des Lebens in die Ruhe der Natur, wie das Abendroth von der Welt zu scheiden, sanft und schmerzlos. Auch das muntere Aennchen konnte sich einer leisen Wehmuth nicht erwehren. Sie verlor plötzlich all ihren heitern Sinn. Es war wieder Abend und er war wieder nicht gekommen. Die Sorgen des kranken Onkels, die sie eben nicht hatte begreifen können, hatten auch sie unwiderstehlich gefangen genommen. Die Spargelstengel waren geschabt und nachdenkend legte Aennchen die Hände in den Schoos. Sie mußte denken, wenn der Onkel doch Recht hätte! wenn Ernst das Examen nicht bestanden hätte und nicht wieder in das Vaterhaus zurückkehrte! Es wurde ihr so weh und bang um das Herz, daß sie aufsprang, um ihrer Mutlosigkeit zu entfliehen. Sie wußte, daß das beste Mittel, sich zu erheitern, Beschäftigung sei und so nahm sie den Auftrag des immer besorgten Onkels wahr, auf dem Kirschberge nachzusehen, ob der Wind dort auch keinen Schaden angerichtet habe. Sie nahm das karirte Umschlagetuch über und ging eilig durch den Baumgarten dem Kirschberge zu, indem sie auch die leiseste Hoffnung aufgab, den Vetter heute noch wiederzusehen.
Der Kirschberg ist das romantische Plätzchen von Hansdorf. Die Umgegend ist eine flache Ebene; am ganzen Horizont läßt sich kein blauer Berg sehen. Nur auf der östlichen Seite des Dorfes hinter Pastors Garten ist eine Erhöhung der Erdoberfläche; es ist das ein Lehmberg, der nach den Feldern zu sich allmälig abflacht, gegen das Dorf aber zu einem plötzlichen Abhange abgestochen ist. Oben darauf stehen des Pastors Kirschbäume; am Rande des Abgrundes, wo man eine freie Aussicht über das Dorf und die einförmigen Felder hat, steht eine Rasenbank, die Ernst als Knabe seiner Mutter zur Ueberraschung am Geburtstage erbaut hatte, um von dort den Untergang der Sonne genießen zu können.
Dorthin eilte Aennchen. »Ach, es wäre doch schrecklich, wenn er das Examen nicht bestanden hätte! Der arme, kranke Onkel!« So mußte sie noch immer denken, als sie die Höhe des Berges erreichte. Sie trat vorn an den Rand und blickte in die Aussicht, um Athem zu schöpfen von ihrem raschen Gange mit pochendem Herzen. Der Abend, der erst den Tag besiegt, begann jetzt der Nacht zu weichen. Auf der freien Fläche kämpften die bleichen Strahlen des Mondes mit dem Schimmer des Abendrothes. Die letzten Purpurstreifen am Horizont verglühten plötzlich wie ein brechendes Auge in bleichem Scheine; die graue, farblose Dämmerung zog sich langsam über Dorf und Feld und verhüllte das bunte Leben des Tages in trauernde Nacht.
Wen bei dem hinscheidenden Tage die Sehnsucht nach der Ruhe des Todes überkam, den mochte jetzt bei der hereingebrochenen Nacht die Furcht vor seiner Oede erfassen. Aennchens kindliche Seele wurde unwillkürlich von einer Ahnung entsetzlicher Verlassenheit überwältigt. Sollte so graulich einsam der Tod sein? – o, dann wollte sie das Leben lieben! Oder sollte ihr das Leben diese Verlassenheit und Freudlosigkeit bieten? »Wenn er verloren wäre! verloren!« Krampfhaft zuckte ihr Herz, dem der Schmerz so neu war; ihr war entsetzlich Angst. Schnell wollte sie diese Erregung fliehen und kehrte um zum Rückwege. Nur einen Blick warf sie noch über den Kirschgarten, um sich ihres Auftrages zu entledigen, – siehe da, unter den Kirschbäumen erblickt sie Jemand auf der Rasenbank sitzend. Sie konnte nur eine männliche Gestalt, schwarze Kleidung und einen Strohhut unterscheiden. »Um des Himmels willen! Das ist er wol gar?« In anderm Takte pochte plötzlich ihr Herz vor Erwartung. Sie ging zitternd leise näher. »Barmherziger Gott!« Es konnte Niemand andres sein als er: es war derselbe Strohhut, den er als Student auf den Fußreisen trug; die schwarzen langen Haare waren seine Haare, und der ausgelegte weiße Kragen, das erkannte sie auch bei der Dunkelheit, den hatte sie ja selbst zugeschnitten und genäht! Da waren plötzlich all die schauerlichen Gefühle verbannt; ohne Beängstigung und ohne Spannung schlug ihr Herz jetzt hoch vor freudigem Jubel, sie war wieder ganz das junge frische Blut. Leise auf den Zehen schlich sie dicht zu ihm heran, setzte sich unvermerkt von der Rückseite neben ihn auf die Bank, blickte ihm mit schelmischer Miene ins Gesicht. Noch immer gewahrte er sie nicht, der träumend vor sich – nicht in die Gegend, sondern in den Sand starrte. Sanft klopfte sie ihm mit dem Händchen in den Nacken und, als er erschreckt sich umwandte, rief sie mit ausgelassenem Lachen ihm ins Gesicht: »Vetter!«
»Anna!« sprach er, ohne vor Ueberraschung aufzufahren. »Guten Abend, liebes Kind«, sagte er freundlich und er reichte ihr die Hand; aber er schloß sie nicht entzückt in seine Arme, wie sie es wol gestattet hätte; er gab ihr nicht einmal einen Kuß, wie es dem Vetter zum Willkomm wol geziemt. Er sah sie mit ernsten Blicken vom Kopf bis zum Fuße an. Was für ein allerliebster, unwiderstehlich reizender Anblick ist solch ein munterer Mädchenkopf, beleuchtet von den blassen Strahlen des Mondes: die Fülle der frischen Jugend, verschleiert im bleichen Scheine der Trauer, die fahle Farbe des Todes, durchbebt von der zitternden Glut des jungen Lebens! Aber den langersehnten Vetter ließ das kalt. »Wie groß und stark du geworden bist«, sagte er; von ihrer Schönheit sagte er nichts, und schön war sie von ihrem 15. bis zum 19. Jahre doch auch geworden. »Aber sag mir, was machen sie zu Hause? Wie geht es mit dem Vater?« frug er nach einer Pause.
»Ist dir daran auch Etwas gelegen? Sieh einmal an, dann könntest du dich doch selbst erkundigen und dich nicht wie ein ausgesetztes Kind von mir im Kirschgarten finden lassen!« So schalt sie neckisch, indem sie sein kaltes Benehmen wohl empfand. Sie faßte ihn bei der Hand und führte ihn den Berg hinunter. Sobald sie seine Fragen vom Befinden der Aeltern beantwortet hatte, war das Erste, was sie ihm erzählte: »Und nächste Woche ist die Hochzeit bei Wassermüllers.«
»Was ist das für eine Hochzeit?« frug der Vetter.
»Ei, lieber gar! Weißt du denn nicht, daß Wassermüllers Rieke mit Gruber's Christian von Helldorf verlobt ist?«
»So? Müllers Friederike, ja die kenn ich noch. Also die ist verlobt?« antwortete der Angekommene so kalt auf ihre lebhafte Frage, daß sie den Muth verlor, das Gespräch neu anzuknüpfen. Ernst redete auch nicht und so gingen sie stumm neben einander her. Aennchen war tief betrübt; so hatte sie sich das Wiedersehen nicht gedacht. Sie war gewohnt, neben Onkel und Tante stumm zu sein; aber bei dem jungen Vetter hatte sie geglaubt, wie bei Ihresgleichen ihrem redeseligen Herzen Luft machen zu können, und nun war er ihr in dem, was sie so in ganzer Seele erfüllte, so völlig theilnahmlos und fremd entgegengekommen. In ihrer Niedergeschlagenheit wagte sie nicht zu ihm aufzusehen und doch hätte sie so gern gewußt, wie er denn aussehe. Endlich als der Fußsteig um eine Ecke bog, nahm sie die Gelegenheit wahr, in sein vom Monde beschienenes Angesicht zu blicken. Ach, wie finster sah er aus! Keine Spur in seinen Mienen von der Freude des Wiedersehens, nur Verdruß und Nachdenken! »Am Ende«, mußte sie bei sich denken, »ist er doch durch das Examen gefallen! Ach! du lieber Himmel! wie ist das traurig!« Sie wagte nicht mehr, ihn danach zu fragen, denn das Unglück war ihr gewiß und sie fürchtete durch die Erkundigung, ihn zu sehr zu schmerzen. Schweigend und betrübt, wie sie ihn gesehen hatte, ging sie selbst neben ihm her; ihr Herz war so schwer vor Kummer, daß sie hätte weinen mögen: »Ach! nun ist Alles vorbei!«
Sie traten durch die Hinterpforte in den Pfarrgarten. Als sie unter den Bäumen fortgingen, hätte Aennchen dem Cousin sagen mögen: sieh, diesen Weg habe ich durch den Rasen gestochen und dieses Blumenbeet habe ich angelegt, seit du fort bist, und bei alledem dachte ich an dich; aber jetzt konnte sie das nicht sagen, jetzt war es mit aller Freude vorbei, er war durch das Examen gefallen.
Vor dem Hause am Tische fanden sie die Mutter bei der Lampe lesend. Aennchen erschrak bei ihrem Anblick, als hätte sie selbst das böse Gewissen.
»Mutter!« rief Ernst, plötzlich in Jubel ausbrechend und mit offenen Armen auf sie losstürzend.
»Ernst?« frug die Mutter, vor Ueberraschung mehr erschreckt als erfreut, und sie lagen sich beide in den Armen.
Aennchen, gerührt, verzieh ihm gern, daß er sie nicht ebenso empfangen hatte und dachte: »er ist doch ein guter, guter Mensch.«
»Und wie ging es mit dem Examen?« war die erste Frage, die die Mutter that.
»O, ganz gut! damit hatte es keine Sorge. Ich habe es mit dem besten Prädicat bestanden«, sagte Ernst heiter und zuversichtlich.
Nun hätte Aennchens Herz vor Freude springen mögen; nun war sie dem guten Menschen noch zehnmal mehr gut und wünschte jetzt erst recht, ihn zärtlich herzen zu können. Ehe es die Mutter gesagt, wußte sie, wie sie ihre Liebe ihm zeigen konnte; von geschäftigem Eifer elektrisirt, sprang sie in die Küche; Mehl und Eier wurden zusammengerührt, und sie bereitete ihm einen Pfarrersbraten, d. h. einen Eierkuchen, den Braten, den sie am schnellsten zu Tische schaffen konnte.
Im Lichtkreise der Lampe, rings umflossen vom traulichen Dämmern des Mondscheins aß Ernst seit vier Jahren wieder das erste mal am älterlichen Tische. Ein Gespräch wollte nicht in Gang kommen, da er die Fragen der Andern kurz beantwortete und keine eigenen that. Schweigend saß er da; sein Blick versank wehmuthsvoll in der friedensstillen Dämmerung, die die Heimat seiner Kindheit umfangen hielt. Die Mutter schrieb seine Wortkargheit der Ermüdung der Reise zu und sorgte, daß er sich bald zur Ruhe auf das Dachstübchen begeben konnte, das er auch sonst als Schüler und Student in Ferienzeit bewohnt hatte, und in dem noch seine theologischen Bücher, zum Theil vom Vater ererbt, die er vor vier Jahren im Stich gelassen, auf dem Repositor aufgespeichert waren.
Die Mutter und ihre geschäftige Nichte hatten noch lange zu wirthschaften, um in der Küche die Empfangsfeierlichkeit für den folgenden Tag vorzubereiten. Dann gingen auch sie zur Ruhe, die Mutter mit dem Gefühle vollendeter Glückseligkeit und einem heißen Dankgebet zum Herrn, wie vielleicht seit dem Geburtstage ihres Sohnes kein Begegniß sie so aus tiefster Seele dazu gedrängt hatte. Ihr eingeborener Sohn hatte die Bahn seiner Lebensbestimmung betreten; es war ihr, als sei ihre Bestimmung damit vollendet, als höre die Zeit des Sorgens und Mühens für sie auf und ihr übriges Leben könne jetzt nur das Ausruhen in dem Bewußtsein der Pflichterfüllung sein, der Vorgeschmack der andern Seligkeit.
Auch Aennchen sank mit glücklichem Herzen auf ihr Lager, aber ihr Glück war keine reine, volle Freude, sondern befangen in ängstlicher Spannung. Sie hatte heute Nieerfahrenes empfunden. Ihr ewig heiterer Gleichmuth war schwindelnd erschüttert; Gemüthsstimmungen, die sie sonst kaum kannte, waren seit wenigen Stunden in schnellem, heftigem Wechsel durch ihre Brust gewogt, Erwartung, Niedergeschlagenheit, Verzweiflung, Ueberraschung, Jubel, neue Niedergeschlagenheit, neue Ueberraschung und neuer Jubel, und nun – neue Erwartung und alte Sehnsucht, die mit neuer Gewalt sie erfaßte. Sie sah sich dem Ende eines Weges nahe gekommen, von dem sie nicht wußte, wohin er führen würde; was wird es sein, was sich bei den nächsten Schritten ihren Blicken eröffnen wird: ein geselliger Rosengang oder trostlose Einöde? Ihn mußte sie besitzen; ihr ganzes kräftiges Naturell war mit dem Gedanken verwachsen; aber nichts konnte sie thun, um ihn zu erlangen, als erwarten. Sie betete wie sonst, aber sie konnte nicht sobald einschlafen wie sonst; ihre Seele wollte sich nicht zur Ruhe begeben, als könne das Wachen sie im Erwarten weiter und ihrem Ziele näher bringen. So viele Gedanken, wie sie noch nie gehabt hatte, mußte sie sich machen, über sich und über Ernst, über Vergangenheit und Zukunft, dann über die Wirthschaft und die Aenderungen, die sie darin vornehmen mußte, bis sie noch lange vor Mitternacht und doch später als je einschlief, indem die Melodien der Nachtigall aus der Fliederhecke ihr holde Wonne in die milden Träume mischten.
Unterdeß ging der Heimgekehrte in seiner Kammer unruhig auf und ab. Als er die alten theologischen Quart- und Octavbände, von Staub bedeckt, wiedersah, kamen sie ihm vor wie ausgezogene Zähne, die einst schmerzlich bis tief hinein in die Seele stachen, und die man verdorrt, als etwas ganz Fremdes hinter dem Ofen wiederfindet.
Er war, noch vom Einstudiren der Predigten her, gewohnt, seinen Empfindungen stets in Monologen Luft zu machen. »So viel Kampf!« sagte er, »wie Titanen rang es Jahre lang in diesem Herzen, wovon Niemand Etwas merkte, und auch Niemand Etwas merken wird. Denn das Resultat ist – Nichts! Unzählige mal zwischen Himmel und Hölle hin- und hergeschleudert, um wieder hier zu sein, hier beim vetus testamentum, beim Hutterus redivivus – o! redivivus! Das Wort gibt es für mich nicht mehr: ich darf niemals wieder aufleben!«
Er trat ans Fenster, öffnete es, und nachdem er lange in die graue Nacht über die flachen Felder geblickt hatte, rief er wieder aus: »Noch dieselbe Aussicht in das Leben: Alles flach, öde, fahl. Eine ganze Jugend voll Müh und Kampf zurückgelegt, und noch auf demselben Punkte!«
Die ganze Nacht brachte er in fieberischer Unruhe in seiner Kammer zu. Als der Morgen heraufkam, hatte er noch kein Auge zugethan.
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