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Ernst stieg eine halbe Stunde vor Abgang des Zuges die Treppe zum Bahnhofgebäude hinan.
Als er am Abende vorher, nach dem Vorfalle bei Horn, dessen Zusammenhang er noch nicht begriff, in sein Hotel-garni angekommen war, hatte er Cesar's Karte vorgefunden, welcher hinterlassen, er müsse Herrn Wagner um jeden Preis sprechen und werde, wenn er ihn nicht noch wo anders fände, noch einmal in dieser Nacht zu seiner Wohnung kommen. Ernst war über diese Nachforschung erschreckt, denn etwas Gutes konnte der entlarvte Policeispion mit ihm nicht vorhaben. Er befahl dem Portier, wenn der Herr sich noch einmal anmelde, seine Rückkehr zu verleugnen.
Aus qualvoller Unklarheit suchte er vergeblich nach Licht, als er sich zur Ruhe gelegt hatte. Seine Lebensbeziehung zu Delphine war nicht abgeschnitten, die zu seinem Busenfreunde Horn konnte es auch nicht für immer sein, und welche neue drohte ihm von dem räthselhaften Franzosen, der sich so gewaltsam in sein Geschick eindrängte? Daß er nichts Freudiges von alle dem zu erwarten hatte, wußte er; was er aber zu fürchten und was er zu thun hatte, um die Gefahr zu vermeiden, das war ihm unklar; selbst zur Verzweiflung fehlte ihm die Klarheit. Nur das Eine stand fest in seiner Seele: er wollte fort von hier; lieber in dem todesstillen Frieden seiner Heimat das Dasein hinbringen, als versinken in dem wüsten Leben dieser bodenlosen Welt!
Schon hatte ein erlösender Schlaf mit dem Traume von dem Plätzchen an Aennchens Seite in der traulichen Weinlaube sich über ihn gesenkt, als er durch das Schellen der Hausglocke wieder aufgeschreckt wurde. Er hörte das Thor öffnen; er sprang auf, an das Fenster, um zu lauschen, ob es Cesar sei. Er hörte undeutlichen Wortwechsel, innerhalb des Hauses geführt; dann wurde die Thür geschlossen und ein Mann entfernte sich. »So liederlich? Pourtant, vous êtes ma prise!« so hörte er fluchen und erkannte Cesar.
Von jetzt ab konnte Ernst kein Auge mehr schließen. Es überkam ihn seine Gemüthsunruhe, die ihn rastlos von einer Seite auf die andere warf und die Minuten zu Ewigkeiten ausdehnte. Sein Verlangen nach Hause steigerte sich zu fiebrischem Heimweh, das ihn quälte mit der angstvollen Ahnung, es werde ein vernichtendes Hinderniß ihm entgegentreten.
Der Morgen graute kaum, als er, schon völlig angekleidet, zu seiner Abreise sich anschickte. Die Rechnung wurde bezahlt, der Koffer geschlossen und dem Hausknecht aufgepackt. Ernst schritt durch die Straßen hinter diesem her, scheu um sich blickend, ob er dem falschen Franzosen auch nicht begegne. Es war ein grauer, unerfreulicher Morgen, recht geschaffen, um die Unlust der Empfindung zu steigern. Der Flüchtige fühlte eine entsetzliche Leere in seinem Herzen, – den Katzenjammer, den ihm Horn prophezeit hatte; er konnte sich nicht einmal damit trösten, die Genüsse, die jener ihm gezeigt, dafür eingetauscht zu haben.
Diese Stimmung wurde ein wenig erleichtert, als er den Bahnhof betrat. Die letzte halbe Stunde ging langsam vorüber, doch ging sie vorüber. Es schellte zum Zeichen, daß die Waggons zum Einsteigen geöffnet waren. Nur noch zwei mal sollte das Läuten sich wiederholen und der Flüchtling, dem verhaßten Berliner Leben glücklich entronnen, flog der ersehnten Heimat entgegen.
Im Begriff, in den Wagen zu treten, hört er sich beim Namen gerufen. Er wendet sich um und ein Schreck durchfährt ihn, als trete das Schicksal zwischen ihn und seinen Willen. Er erkannte den Lakai des geheimnißvollen Franzosen. Staschu bat Ernst, um jeden Preis seine Abreise bis zum nächsten Zuge aufzuschieben, da sein Herr sehr Wichtiges mit ihm zu sprechen habe und gern die Unkosten der Zögerung tragen werde.
Ernst berief sich auf Familienverhältnisse und erklärte mit Bestimmtheit, nicht warten zu können. Staschu ließ ihn nicht los und war gewandt genug, gegen den Fremden dringend, ohne unhöflich zu sein. Als dieser sich aber ohne Rücksicht auf ihn in den Wagen setzte, wurde er unruhig. Ernst sah daraus, wie viel an seinem Dableiben gelegen sei, und wurde um so mehr besorgt und – entschlossen. Staschu blickte spähend um sich. Der Verfolgte fürchtete schon, er werde die Policei zu Hülfe rufen. Da trat ein neuer Bekannter au die Thür der Wagens. Doctor Horn's Jean reichte dem Freunde seines Herrn den erwähnten Brief. Ernst brach ihn sogleich und las die Eröffnung Horns, daß er durch Selbstmord gestorben sei.
Diese ganze Welt muß verwesen, hatte er gesagt; nun war er selbst von dieser Verwesung ergriffen. Er war die Philosophie, die durch Selbstmord und nur durch Selbstmord untergehen mußte. Er hatte gelebt das Leben des reinen Denkens; jetzt war der logische Proceß vollendet, alle Gengensätze hat er überwunden und kehrt in das reine Sein zurück, – das das Nichts ist. »Ich mag nicht«, so hieß es in dem Briefe, »krepiren wie ein altes Pferd, das sich unter der Last der Fracht und der Peitschenhiebe fortgeschleppt, bis es zusammenbricht. Was das Lumpengesindel von Menschen geschehen läßt, hab' ich selbst gethan. Ich erklärte im Leben die Selbstbestimmung, die Selbstständigkeit, die Selbstliebe für mein Princip; ich bin consequent im Tode, wie ich's im Leben war: ich sterbe durch Selbstmord.«
»Aber still, Freundchen, still! du darfst es nicht weiter sagen. Diese ordinären Menschen verstehen ja nicht, was es heißt, consequent sein. Niemand soll es wissen außer dir und der jungen Coketten, die uns beide an der Nase herumführen wollte. Ich habe ihr geschrieben, ich hätte mich ihretwegen erschossen und der Schwachkopf wird darüber den Verstand verlieren, so wenig versteht er den schlechten Witz; sie soll es merken, die Stümperin in der Verrücktheit, was es heißt, einen consequent Verrückten anführen wollen! Und du – Herzensjunge! – ja, ja, ich schreibe dies in vollem Ernst und muß mich deshalb selber auslachen; Herzensjunge! O, du ahnst nicht, mit welcher abergläubischen Sentimentalität ich das sage: Herzensjunge! Laß mich dir mein Herz ausschütten, laß mich wahr sein gegen dich, wie ich es nie in meinem Leben gegen einen Menschen war und nicht wieder sein werde. Höre, was du mir schwören mußt, ewig für dich zu behalten, dies, meine ganze Nachlassenschaft, das Resultat meines Lebens: ich bin banquerott. Mein ganzes Leben – ein einziger, schlechter Witz, der Niemandem Spaß gemacht hat, am wenigsten mir selbst. Ein schlechter Witz, und doch die Wahrheit selbst. Der Selbstmord ist die einzige Consequenz des Lebens. Auch du, mein Herzensjunge, wirst dahin kommen, denn du trägst den Fluch oder die Würde der Consequenz in dir. Siehst du, das weiß ich Alles, ich habe es begriffen, daß es so kommen muß, und ich bin stolz darauf, daß ich stark genug bin, die Consequenz durchzuführen. – – Und doch – was muß ich denn so erbeben? was ist es, das in mir rüttelt und mich herniederzieht, daß ich vor einem Gotte knieen könnte und ihn bitten, daß er mich sein, blos noch dasein ließe, in dieser Welt! He da, Mensch, Philosoph, was ist dir denn an diesem Atom des Seins gelegen? Was ist dir denn dieses Klopfen des Herzens, dieses Pulsen der Adern, dieses Fiebern der Nerven? Ich kann dir den Angstschrei nicht auf das Papier malen, den ich ausstoßen muß bei dem Gedanken, dieses gleichgültige Spiel der Natur aufzugeben. Thränen machen meine Buchstaben verschwimmen – –
Ich habe lange, lange auf der Erde liegen und weinen müssen. Weinen um was? daß ich nicht sein kann. Und wenn ich bin, weine ich, daß ich sein muß. Ich habe mein Lebelang gerechnet, das Räthsel des Lebens zu lösen, und meinte schon, ich habe es ganz begriffen; aber es scheint doch, als wenn immer noch ein Rest bleibt, der sich nicht auflösen läßt und zuletzt die ganze Rechnung zu schanden macht. Das Leben ist ein gordischer Knoten. Ritz Ratz –! Ich reiße ihn mitten durch.
Der Morgen graut. Es ist die Zeit, das Licht meines Lebens auszulöschen. Lebe wohl – auf Nimmerwiedersehn.
Louis Horn, Exdoctor der Philosophie.«
So blickte Anhänglichkeit am Leben, Liebe und Ehre, die Sehnsucht nach dem Positiven durch all diese bodenlose Consequenz des Nihilisten hindurch. Ernst aber, als er den Brief gelesen, faßte daraus nur den einen Gedanken auf, daß der Selbstmörder Delphinen die Schuld an seinem Tode vorwerfen wollte. Im Schreck und Zorn über diese Schändlichkeit hielt er das Andere kaum werth, es schnell zu durchfliegen. Auch er glaubte, daß das junge Mädchen bei ihrem phantastischen Gemüthe über einer solchen Schuld verzweifeln mußte. Sein Entschluß war sogleich gefaßt: jetzt wollte er in Berlin bleiben; er hielt es für seine Pflicht, die unheilvollen Folgen von ihrem Haupte abzuwenden. Die Gefahr leitete seinen Scharfsinn dahin, Jean zu fragen, ob er etwa auch an die junge Dame einen Brief seines Herrn zu besorgen habe. Jean erwidert, daß er ihn bereits auf die Stadtpost gegeben. Um Staschu loszuwerden, verspricht er diesem jetzt, Herrn Cesar noch im Laufe des Tages zu besuchen, und fodert den andern Bedienten auf, ihn zur Stadtpostexpedition zu begleiten, um den unheilschwangeren Brief zurückzuverlangen. Hier angekommen, wird ihnen gemeldet, daß derselbe bereits in die Centralexpedition befördert sei. Sie eilen auch hierhin und kommen auch hier zu spät: der Brief ist seit länger als einer Stunde an die Adresse expedirt. Ernst fliegt weiter in Delphinens Wohnung. Wieder zu spät. Die eilfte Stunde ist herangekommen. Delphine hat bereits den Brief empfangen, ist in die Clavierstunde gegangen, und hat ein Schreiben an Herrn Wagner hinterlassen, das Juste auf der Post abgeben sollte. Ernst nimmt es aus deren Händen sogleich in Empfang. Unten im Hausflur bricht er es auf, bebend vor Furcht. Als er es durchflogen, glaubt er umzusinken vor Schreck. Die fürchterlichste Besorgniß ist in Erfüllung gegangen. Aus den verworrenen Zügen und den eben so verworrenen Ausrufungen mußte er lesen, daß auch sie entschlossen war, sich das Leben zu nehmen.
»O, was ist aus mir geworden!« so las er aus dem Schreiben heraus: »Ich hielt mich dir gleich, zu gut für diese Welt, und ich bin zu schlecht, diese Luft zu athmen, die du athmest. Warum bin ich meiner seligen, heiligen Mutter nicht treu geblieben? Ich dachte anders unendlich glücklich und groß zu werden, und nun bin ich eine Heuchlerin, eine Mörderin an denen, die es gut mit mir meinen. Ja, ich trage die Schuld seines Todes – den Fluch eines Mordes! Meine Seele bricht zusammen. Unsere Liebe, Ernst, trennt nun nicht mehr die Welt; ich selbst habe sie zerrissen. Ich bin dein nicht mehr werth. Du kannst mich nicht mehr lieben; ich kann mich selbst nicht mehr lieben. Nur strafen will ich mich, den Tod meines Freundes an mir selber rächen. Aber – o, mein Gott, mein Gott, wenn du dennoch lebtest, wenn es dennoch eine Sünde gäbe! das wäre eine neue Sünde, und der Selbstmord ist die schwerste Sünde, weil man sie nicht bereuen kann. Und doch – nein! Ich kann nicht mehr leben! Wahnsinn erfaßt mich, wenn ich an mich selber denke. Ja, Wahnsinn erfasse mich! Ich will's nicht thun, aber du sollst es thun! Ich will ans Wasser gehn und hinabsehen in die Flut – Wahnsinn, reiße mich hinab – ich nicht! Adieu, Ernst, mein Ernst; ja, ich nenne dich dennoch mein Ernst, denn du warst der einzige Mensch auf der Erde, den ich liebte und achtete, denn du warst meine einzige Freude und Hoffnung; du bist mein einziger Verlust und einziger Schmerz. O, gäbe es dennoch ein anderes Leben! Alle Strafen meiner Sünden wollte ich büßen, wenn ich dich nur wiedersähe. Es wird mir entsetzlich schwer, von dir zu scheiden, sonst von nichts. Der Allmächtige schütze dich und mich.«
War es denn also wirklich wahr, was Louis ihm als Resultat seines Lebens hinterlassen hatte: die Welt ist in Verwesung begriffen, der Selbstmord ist die Consequenz des Lebens? Erstarrt blieb Ernst stehen und lehnte sich an die Pfosten der Hausthüre. Es war ihm plötzlich, als ginge auch ihm die Lebensflamme, die Triebkraft des Geistes aus; er fand keinen Willen in sich, der ihn bewegen, nur ein Glied ihm rühren konnte.
Aber noch war ja dieses letzte, größte Unheil nicht geschehen. Noch konnte ja Delphine leben, noch konnte er sie finden, und wenn er sie fand, dann wollte er Alles thun, um sie zu retten. Dieser Gedanke belebte ihn von Neuem. Seiner selbst wieder mächtig, raffte er sich auf, um Alles zu versuchen, was er für sie thun konnte.
Sollte sie nicht in Horn's Wohnung gegangen sein, um seine Leiche zu sehen? Er ging dort hin, und er hatte ihre Neigung errathen, sie selbst aber fand er nicht mehr. Jean wollte ihn in das Zimmer führen, wo der Todte lag. Ernst aber hatte nicht Zeit, diesem einen Augenblick zu schenken. Er begab sich fliegend in Delphinens Wohnung. Es war bereits Essenszeit. Sie war nicht gekommen. Eine Stunde ging er auf ihrer Straße auf und ab. Er traf sie nicht. Er wagte es wieder, bei Juste nach ihr zu fragen. Sie war noch nicht gekommen. Das Dienstmädchen war beunruhigt über ihr Wegbleiben: »Der Alte war schön böse, daß Phindel nicht zu Tische kam. Das wird wieder etwas setzen, du lieber Gott!« sagte sie klagend in dem Berliner Tone, der stets nur zur Hälfte Ernst macht.
Darüber, daß er nicht wußte, was er beginnen sollte, war Ernst mehr verzweifelt, als über Alles, was er zu fürchten hatte. Furchtbar an Ausdehnung und furchtbar an Schwere waren die Stunden, die er jetzt auf der Straße hin- und hergehend verbrachte, an ihrer Rückkehr verzweifelnd und sie doch noch immer erwartend. Endlich begann es Abend zu werden. Er ging noch einmal in ihre Wohnung hinauf. Schon an der ängstlichen Miene sah er es dem Dienstmädchen an: noch immer war sie nicht gekommen. Wiederum brachte er schwere Stunden hinter sich, an die Pforte ihrer Thüre gelehnt. Es war vollkommen Nacht geworden. Flüsternd und schimmernd wogte auch heute das Treiben der Menge an ihm vorüber. Er sah nichts und hörte nichts; denn nur für die Unglückliche lebten seine Sinne und sie trieb das Wogen nicht an ihm vorüber. Endlich wurde er geweckt durch das Zuschlagen des Thores. Er bemerkte, daß die Straßen leer geworden waren und die Wächter die zehnte Stunde ausriefen. Von innen hörte er schwere Riegel vorschieben. Jetzt konnte sie nicht mehr kommen. Es mußte ihr mit ihrer Verzweiflung Ernst gewesen sein.
Die Verzweiflung hatte über die Erwartung gesiegt. Der Harrende bekam jetzt den Muth, sie zu suchen, denn er durfte jetzt nicht mehr sie zu verfehlen fürchten. Sie konnte ja noch auf einer Brücke stehen und warten, daß der Wahnsinn sie hinabriß. Er stürmte hin zu allen Brücken der Stadt, überall hoffte er noch, sie über das Geländer blicken zu sehen, und fürchtete er, einen Auflauf zu finden, der sich um eine schöne Leiche versammelt hatte. Aber nirgends fand er weder die lebende noch die todte Delphine. Noch einmal ging er vor ihre Wohnung. Vor der Hausthüre fand er Juste; die weinte über den Zorn des Onkels, der das Mädchen aufs Arbeitshaus zu schicken drohe.
Vielleicht trieb schon die Spree ihren süßen Leib in dem Schlamme dahin, vielleicht auch konnte sie noch zagend ringen zwischen Leben und Tod, und er nur brauchte ihre Hand zu fassen, um sie dem Leben gerettet zu sehen. Wohin aber seine Schritte wenden? Der Atheist glaubte an keine höhere Macht, die der Menschen Schritte leitet; der Zufall war es, der zwei Menschenleben in der Hand hatte; er konnte sie zusammenführen und beide retten, oder trennen und beide untergehen lassen. Der Zufall –? Der Haß gegen Alles, was nicht nothwendig und ewig ist, rief in dem Denker die letzte Hoffnung auf eine Möglichkeit wach; so lange er die schreckliche Gewißheit nicht unwiderleglich vor sich sah, wollte er keinen Augenblick rasten, um dem Zufall das Schicksal zweier Menschen zu entreißen. Er stürmte ins Weite hinein, von einer Brücke zur andern – keine Spur war anzutreffen; und weiter zur Stadt hinaus an dem Ufer entlang – immer keine Spur. Die Wellen glitten so ruhig und gleichgültig dahin, und jede von ihnen konnte ihren Scheitel bedecken, jeder dunkel kreisende Strudel von ihren reichen Haaren so dunkel gefärbt sein. Er blickte hinauf den Fluß und hinab, auf diesem Ufer und auf jenem; aber nirgends sah er ein Gewand flattern, nirgends eine Gestalt die Arme gen Himmel strecken. Immer weiter stürmte er fort, durch die dunkele, wolkenbedeckte Nacht am Ufer der Spree entlang, ohne Weg und Steg. Hoffte er wirklich noch die Verzweifelte zu retten, oder ging er selbst verzweifelt an die Flut heran, damit auch ihn der Wahnsinn erfasse und hinunterreiße in dasselbe Bett zu ihr?
Der Mond, der durch die zerrissenen Wolken bisweilen hindurchgeblickt hatte, warf sein fahles Licht auf den gelben Sand eines freien Platzes, den der Irrende durchschritt. Ernst konnte auf dem Boden die Spuren vieler Tritte wahrnehmen; er ging noch wenige Schritte und auf dem Sande gewahrte er eine dunkle Stelle. Er trat näher. Er sah frische Baumzweige übereinandergelegt. Darunter war ein schwarzer Fleck der Erde. Es war Blut – Horn's Blut. Ernst war an die Stelle gekommen, die Louis am Morgen lebend besucht und todt verlassen hatte.
Ernst ahnte, was dieses luftige Grab zu bedeuten hatte. Der Zufall hatte ihn an diesen Platz des Todes geführt, der Zufall, dem er sein Leben entringen wollte. Erschüttert, muth- und kraftlos sank er zusammen auf die Knie in den Sand. Die Frage nach dem Warum? warf sich wieder in ihm auf. »Warum lebe ich denn noch? Warum trage ich das Leben, das nur ausgefüllt ist von dem Bewußtsein, den Vater ermordet, den Freund und die Geliebte so verloren zu haben? Für wen lebe ich denn? Für einen Gott kann ich nicht leben, für mich will ich's nicht, und – für meine Mutter? Wenn ich das ganze menschliche Dasein aufgegeben habe, – nicht auch das ihre? Alles wollt' ich für dich thun, meine Mutter, aber tragen, tragen dieses Dasein des Nichtthuns, das vermag ich nicht. Was kommt es darauf an, ob ich bin oder nicht bin? Was ist der Welt an solchem Ich gelegen? Ist es nicht die Welt, die uns hierher hinausgestoßen hat an den Rand des Lebens, hinausgestoßen uns, deren Verbrechen die Tugend, deren Unglück die Wahrheit, deren Untergang der Stolz des Geistes ist? Ja, Haß dieser Gesellschaft, Haß der Welt, in welcher solcher Geist und solche Formen herrschen, Haß –? Die Welt zerstören –? Da bin ich bei dem, was dieses Blut zu mir spricht: die Welt ist in Verwesung, der Selbstmord ist die Consequenz der Zeit. – Dahin gelange ich mit dem: Warum? Ich höre auf zu fragen, denn es gibt keine Antwort darauf. Aber will ich leben ohne Antwort? Warum ich leben soll, das weiß ich nicht; warum ich nicht leben will, das kann ich ja beantworten!«
Platt war er auf den Boden gesunken. Regungslos lag er da. Nicht seine Glieder versagten ihm den Dienst; er hatte sie seiner Herrschaft entlassen. Aber innerlich in seiner Seele wälzten sich seine Gedanken auf und nieder, wieder und immer wieder dieselben, bis sie endlich ihre bestimmte Vereinzelung verloren und wie ein wüstes Chaos mit Betäubung seinen Geist erfüllten, der aufging in der Wahrnehmung des dumpfen Rauschens, eintönig von dem nahen Wehre herüberdröhnend.
Der Mond indeß, der über dem zerrissenen Wolkenschleier reißend schnell dahin zu fliegen schien, ging unter. Die Wolken wurden dichter, die Nacht finsterer und stummer. Der Jüngling voll von so edlem Willen und so frischer Lebenskraft lag leblos und einsam am Boden; der Strom des Lebens rauschte an ihm vorüber. Er konnte nichts als weinen seine Thränen hinab.
Ein leiser Luftzug begann in den Aesten zu zittern und wurde lauter und heftiger – der erste Morgenwind. Sein Rauschen und seine Kühle weckte den Hoffnungslosen aus seiner Betäubung. Er schlug die Augen auf. Es war nicht mehr Nacht; der erste Morgen begann zu grauen. Jetzt erst ging die düstere Stimmung seiner Seele in jähe laute Verzweiflung über. Die finstere Nacht hatte die Welt in tiefes Schwarz verhüllt, den ringenden Geist mit Betäubung verdeckt; jetzt aber der grauende Morgen ließ die Dinge wieder in bleichem, farblosem Scheine hervortreten und erfüllte ihn mit angstvollem Grauen. Die Nacht ist sanft wie die Stille des Todes; dieses erste Dämmern aber ist gräßlich wie die Schrecken des Sterbens. Die einzelnen Gegenstände traten ihm wieder in die Augen; schon schied sich das Dunkel der Zweige von dem Dunkel des geronnenen Blutes, das sie bedeckten. Mehr und mehr zog der Tag heran, der diese ganze qualvolle Welt wieder beleuchten sollte. Da wurde dem Unglücklichen seine Unfähigkeit zu leben erst ganz klar. War es ihm möglich noch einmal den Tag herankommen zu lassen, um zu erfahren, wo Delphine ihr Grab gefunden? In einem einzigen Schmerzensschrei preßte sich sein ganzes Lebensgefühl zusammen. Unmöglich! Sein Leben war mit dem ihren gebrochen. Mit einem Griffe hielt er eine Pistole in der Hand – er hatte sie am Abende vorher dem rasenden Horn entführt; es war die Schwester aus dem Paare, dessen andere diesem heute Morgen den letzten Liebesdienst erwiesen hatte. Es knackte der Hahn, das Kupferhütchen war noch von dem gestrigen Vorfalle darauf. Schon küßten sich seine Lippen und die Mündung des Laufes; aber noch ein mal senkte er die Waffe nieder. Der freie Denker wollte sterben mit kaltem Blute, im richtigen Augenblicke. Und war es nicht übereilt, jetzt die That zu thun, wo er doch nicht wußte, welcher Zufall die Geliebte gerettet haben konnte? Nur an ihrem Grabe durfte er vollenden. Der Hahn knackte wieder und war in Ruhe gesetzt; die Waffe verschwand in der Tasche. Gewaltsam raffte Ernst sich auf. Er wollte doch den Tag noch heranleben, aber nur um ihn nicht zu beenden.
Jetzt, wo er wieder an die Welt und an das Leben denken mußte, fühlte er, wie er von Frost durchschüttelt wurde. Um mit seinem lästigen Lebensgefühle bald fertig zu sein, entschließt er sich sogleich, der Stadt zuzueilen, um sein Schicksal zu erfahren. Er thut die ersten Schritte, um sich von seines Freundes Sterbebette zu entfernen, da tritt er auf etwas Anderes als auf den Sand. Er schreitet weiter. Es hat sich etwas an seinen Fuß geheftet. Nicht ohne leisen Schreck beugt er sich nieder. Ein feines, weißes Tuch hat sich um den Fuß geschlungen. Er hebt es auf und wie himmlisch duftet es ihn an! Er kennt den Geruch. Es ist dasselbe Parfüm, das er bei Delphinens Kusse eingeathmet und dessen Erinnerung seinen Sinnen so fest anhaftete, wie der Gedanke an sie selbst ihm ewig unvergeßlich ist. Delphine ist also hier gewesen! Gewesen? Nicht vielleicht noch? Er entdeckt Fußtapfen im Sande. Er verfolgt sie und sie weisen ihn das Ufer entlang dorthin, wo das Wasser rauscht. Augenblicklich strömt neue Lebenskraft in alle Glieder und mit starker Stimme ruft er laut den theuren Namen: »Delphine, Delphine!« Ein undeutliches Echo hallt von dem anderen Ufer wieder, keine Antwort. Noch ein mal, zwei mal ruft er, aber wieder und immer wieder keine Antwort. Er eilt das Ufer entlang, dem Rauschen zu – nirgends weiter eine Spur. Endlich – oben auf der Brücke des Wehres, steht dort nicht eine Gestalt? oder ist es nur ein Balken? Zitternd vor Erwartung stürzt er hinzu. Ist sie es, o, stürzte sie dann nur in diesem Augenblicke nicht hinab! Er ist nahe daran, ja, es ist ein menschliches Wesen. Er stürmt den Damm hinauf. Ein Weib lehnt an dem Pfahl, der, um das Wehr zu öffnen und zu schließen, über die schmale Brücke hervorragt. Nur ein Bret geht über das Wasser, das sich hier in die Spree ergießt. Ernst schreitet hinauf. Er faßt das räthselhafte Weib mit einem raschen sichern Griffe um den Leib. Zusammenfahrend wendet die Ueberraschte, die von seinem Rufen und Kommen bei dem Rauschen des Wassers nichts gehört hat, sich um. Zwei große, irre Augen starren ihn an. Mit der Kraft des Wahnsinnes fühlt er sich von dem Arme des Weibes feindlich umfaßt. Mit der andern schwingt sie einen Dolch durch die Luft auf seine Brust. Ein gefährlicher Kampf mit einem bewaffneten wahnsinnigen Weibe auf einem fußbreiten Brete, darunter die tiefe Flut! Der Mann war verloren; aber nur ein Laut seiner Stimme– »Delphine«, rief er ihr zu, »ich bin es, Ernst, dein Geliebter«, und sie war entwaffnet. »Du«, lispelte sie und sank an seiner Brust zusammen. Der Dolch entfiel ihrer Hand zischend ins Wasser hinunter. Ernst hielt die Geliebte, das süße, große Mädchen, ohnmächtig in seinen Armen.
Warum blieb er nun noch stehen auf dem gefährlichen Stege und schritt nicht auf den festen Boden in das Leben zurück? Als er, die Verzweifelte in den Armen haltend, hinausblickte in das bleiche Grau des Morgens, in die leichenhaft farblose Welt, und selbst verzweifelt denken mußte, daß eine ebenso hoffnungslose Oede das Leben vor ihm liege, da war es ihm, als sei es besser, den Leib willenlos dem Gesetze seiner natürlichen Schwere zu überlassen und mit ihr in den Fluten den Tod zu finden, den sie getrennt sich schon bestimmt hatten. »Warum?« seufzte er rathlos über das Haupt der Geliebten hinweg.
»Warum thust du es nicht?«
»Was willst du?«
»Sterben mit dir.« Sie klammerte sich fester an ihn an und barg ihr Gesicht an seinem Halse, sodaß ihre feuchtkalte Stirn an seine Wange lehnte. Bei dieser Berührung des süßen Leibes durchströmte es ihn wie mit elektrischer Kraft; an dem Zeichen ihres Lebens entzündete sich die Flamme seines Lebens von neuem. Er fühlte in sich plötzlich wieder Reiz und Muth, das Dasein zu ertragen. Um eiligst der Versuchung zu entfliehen, that er drei Schritte von dem verführerischen Stege zurück und trug den theuren Schatz in seinen Armen auf den sicheren Boden des Lebens; und sie so fest haltend, wie man es thut, wenn man ein Verlorenes wiedergefunden hat, rief er mit starker Stimme, der man die Anstrengung des errungenen Sieges anhörte: »Wir wollen leben!«
»Ich kann es nicht, kannst du es?« frug sie mit tonloser Stimme.
»Nicht ohne dich«, brach er aus in raschem Fluß der Rede; »aber mit dir, da weiß ich, warum ich lebe. Werde, was da will! Mein Leben war verwirkt, bei dir fand ich's wieder, dir soll es gehören. Ich weiß nicht wie, aber du sollst die Meine sein, ich werde dir ein Dasein schaffen. Wir wollen, wir müssen mit einander leben. Willst du mir vertrauen, Delphine?«
Sie sprach keine Antwort. Sie schlang ihren Arm um seinen Hals und schmiegte sich sanft an ihn an. Nach einer langen, sprachlosen Pause waren lebensentscheidende Entschlüsse in diesen beiden an einander lehnenden Herzen gereift. Endlich erhob sie, noch immer sprachlos, ihr Haupt und blickte ihn an mit tiefem, weihevollem Ernste, in dem die Bedeutung dieser Stunde lag. Vertrauensvoll nickte ihr Haupt ihm sanft zu. Er drückte mit wehmüthigem Blicke gen Himmel einen leidenschaftslosen Kuß auf ihre Stirn, und der Bund zwei freier Herzen war geschlossen.
Sie sprachen nicht; sie küßten sich nicht; sie schritten nicht vorwärts. Versunken in dem allgemeinen Gefühle der aufkeimenden Ermuthigung, schwiegen sie, Arm in Arm, Herz an Herz, eine lange Pause heiliger Andacht; sie wollten leben, noch wußten sie nicht wie.
Der helle Tag und die Furcht, bemerkt zu werden, weckte sie aus ihrer Rührung. »Wir müssen gehen«, unterbrach er das Schweigen.
»Wohin soll ich gehen? Nach Hause, zu den Meinen?« frug sie zusammenschreckend.
»Nur noch heute ertrag's. Wohin soll ich dich führen? Ich stehe hülflos, rathlos in der Welt, wie du; ich weiß nicht, wovon ich morgen mein Leben fristen soll. Aber Muth! Ich fühle Kräfte in mir erwachen, wie ich sie bei ruhigem Dahinleben nicht in mir geahnt. Vertraue mir. Ich werde uns ein Dasein schaffen.«
»Nach Hause? O mein Gott, wie wird das werden? Aber komm, laß uns gehen«, sagte sie entschlossen. Was auf der Welt konnte ihr nun noch etwas anhaben, nachdem sie den Entschluß zu sterben überwunden hatte!
Hand in Hand kehrten sie in die Stadt zurück, ohne ein Wort zu wechseln, – sie wußten ja nicht, was sie von sich und ihrem Leben denken sollten. Sie kehrten zurück in die verhaßte Welt, die sie schon für immer hinter sich zu haben meinten, und wie grell störte sogleich die Wirklichkeit die Harmonie dieser Geister, wie grausam rächte sie sich an den Flüchtigen, die ihrer Sclaverei entrinnen wollten!
»Wer sind Sie, Herr, in des Teufels Namen, der Sie meine Familienehre schänden?« So hörte Ernst sich aus seinem nach Plänen suchenden Nachsinnen geweckt, und eine gewaltige Faust hatte ihn am Halstuch gepackt. Delphine warf sich zwischen den Geliebten und den wüthenden Onkel, der in seiner Angst um das ihm anvertraute Kind sie die Nacht hindurch gesucht und nun gefunden hatte. Er stieß sie mit dem Arm vor die Brust, daß sie zurückfuhr, schnürte dem Angefallenen die Kehle zu. Trotz dieser Schmerzen und Beleidigungen wagte der besonnene Denker nicht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, denn er mußte den Zorn des Gegners als berechtigt anerkennen – so weit ging seine Vernünftigkeit! Er hätte sich aus Gerechtigkeitsliebe noch lange geduldig malträtiren lassen, wenn Delphine nicht durch entschlossenen Hülferuf Leute herbeigeführt hätte, die die beiden trennten.
In Berlin kann Niemand einen Rippenstoß bekommen, ohne daß die Policei menschenfreundlich sich seiner annimmt. Es waren um die Zusammengerathenen noch keine zehn Menschen versammelt, als auch schon ein Policist dabei war.
»Wer sind Sie, meine Herren?« frug er mit jenem barschen Tone, den auch die Menschenfreundlichkeit in der Amtsmiene annimmt.
»Schulze u. Comp., Materialist, Friedrichsstadt, die und die Straße, die und die Nummer –« so gab der Vertheidiger des Sittlichkeitsprincips die geläufige Antwort.
»Bekannt«, erwiderte der Mann der Gesetzlichkeit befriedigt. »Und Sie, mein Herr?«
»Ernst Wagner, Predigtamtscandidat, aus –«
»– aus Hansdorf, so setzte der Policist seine Rede fort und öffnete mit bedenklicher Miene seine Brieftasche. Nachdem er noch einen Blick hineingethan und Ernst fixirt hatte, sagte er: »Ohne Zweifel, das Signalement stimmt. Sie werden die Güte haben, mir auf die Hausvogtei zu folgen. Sie sind der Ermordung des Doctor Horn verdächtig. Haben Sie Waffen bei sich?«
Ernst konnte nicht leugnen. Er zog Horn's Pistole aus der Rocktasche.
»Geladen?«
»Ich weiß nicht«, entschuldigte er sich.
Der Mann nahm das Kupferhütchen ab und steckte die Waffe zu sich. »Wird sich zeigen. Haben Sie die Güte, mir zu folgen.«
Ernst wurde von dem Manne mit rothem Kragen abgeführt. Delphine, die den ganzen Vorfall mit angehört hatte, eilte davon, um den Mishandlungen des Onkels wenigstens auf der Straße zu entfliehen. Dieser ging wuthschnaubend ihr nach.
»Der Onkel, der Onkel!« riefen die Tante und Juste händeringend, als Delphine nach einer Abwesenheit von fast vierundzwanzig Stunden zu Hause ankam. Sie antwortete kein Wort, sondern trank, wie wenn nichts vorgefallen wäre, den Kaffee, den das mitleidige Dienstmädchen ihr vorsetzte.
Sehr bald kam die männliche Furie ihr nach. Herr Schulze war sehr schnell gelaufen, denn es war bereits lange die Zeit, wo sein Kaufladen geöffnet wurde und es war ihm bange, seine Kasten dem Lehrburschen allein zu überlassen. Durch das Laufen und diese Sorge hatte er sich noch mehr aufgeregt. Sowie er Delphinen ansichtig wurde, fuhr er auf sie zu, schlug sie in das bleiche, stolze Antlitz und überhäufte sie mit Ausdrücken, die das gröbste Vergehen eines Mädchens auf die gröbste Weise bezeichneten.
Es wurden augenblicklich energische Maßregeln getroffen, um der Sittlichkeit des jungen Mädchens aufzuhelfen. Der strengste Stubenarrest wurde angeordnet, der Flügel verschlossen und Justen bei Androhung augenblicklicher Dienstentlassung verboten, einen Besuch vorzulassen oder irgend eine Mittheilung zuzustecken.
Während die Tante jetzt anfing des Alten »Grundsätze« mit vollstem Herzen anzuerkennen, war er selbst trostlos, sie so verhöhnt zu sehen und faßte den Entschluß, oder nahm die Gelegenheit wahr, die Nichte aus seiner Hand zu entlassen. Sie sollte in Condition gehen.
Delphine hielt es nicht für Werth, auch nur ein Wort zur Aufklärung und Zurückweisung des Schlimmsten zu sagen. Stumm und verstockt ließ sie Vorwürfe und Züchtigungen über sich ergehen. Sie war in dumpfe Apathie verfallen, ein Gefühl, in das sie stets wieder sich zurücksinken sah, wenn sie sich daraus emporgerafft, das die kranke Frucht der Verhältnisse war, in denen sie aufgewachsen. Der niedere Mittelstand in der großen Residenz bewahrt nur selten noch jenes Familienleben, jenen Sinn der Moralität, der über das ländliche Pfarrhaus, aus dem Ernst stammte, eine behagliche, ehrwürdige Ruhe verbreitet hatte. Da, wo keine Bildung, kein Geschmack an Kunst und Wissenschaft, noch sonst ein geistiges Interesse das verloren gegangene Band der Sitte und Liebe ersetzen, da haben Sorge um das tägliche Brot und schlecht verhehlter Egoismus einen Zustand herbeigeführt, in dem die Personen nicht nur isolirt und abgeschlossen sind, sondern in offener Lieblosigkeit sich gegenüber stehen. Delphine war von ihrer Mutter, so lange sie im Glücke war, nur mit Gleichgültigkeit behandelt; später wechselte die Theilnahme derselben mit der Verdrießlichkeit ihres kranken Zustandes. Der Onkel war schroff und lieblos gegen sie und ließ es sie stets fühlen, daß sie ihm nur zur Last war. Sie wurde aufs ärmlichste gekleidet, bekam bei Tische nur von den Kartoffeln, nicht vom Fleische zu essen. Jeder Pfennig, den sie kostete, wurde ihr ewig und ewig vorgerechnet. Sie war der Blitzableiter, an dem aller Verdruß im Hause seinen Ausweg fand; wenn die Tante ein Versehen begangen, mußte die Nichte es ausbaden; wenn dem Alten der Kaffee versengt oder ein Syrupfaß ausgelaufen war, tobte er wie verzweifelt, in der Nacht aufspringend, in seinen vier Pfählen, und Delphine, aus dem Schlafe geschreckt, mußte anhören, wie sie sein Ruin sein werde.
Wie viele Menschen wachsen in solchen Kreisen auf und gehen in ihnen unter; sie fühlen diese Verhältnisse nicht und haben nie das Bedürfniß nach besseren. Delphine gehörte nicht zu dem gewöhnlichen Schlage. Das Verständniß der Musik gab ihr etwas Außerordentliches, legte in ihren Busen das Bewußtsein einer schöneren, höheren Welt und die Sehnsucht, sich selbst mit dieser in Einklang setzen zu können. Aber ihre ganze Umgebung bot ihr nur die schroffste Dissonanz gegen die Freiheit und Harmonie der Töne. Was konnte sie Anderes thun, als sich aus ihr in sich selbst, die Heimatstätte ihrer Ideale, zurückzuziehen und die ganze wirkliche Welt zu verachten. Sie war überschwenglich fromm und hielt es für die echte Frömmigkeit, kein Gefühl der Freude und des Wohlbehagens in sich aufkommen zu lassen; der aufreibende Schmerz schien ihr das einzig würdige Loos der schönen Seele zu sein. Es war ihr gerade recht, wenn ihre Schuhe zerfetzt, ihr Kleid ausgewaschen und verwaschen war; sie setzte einen Stolz darein, äußerlich möglichst ärmlich und innerlich möglichst zerrissen zu sein. Eine finstere Melancholie und bisweilen eine plötzlich hervorbrechende Bosheit waren die Grundzüge ihrer Gemüthsart. Diese freudlose, das eigene Leben zernagende Stimmung übte einen bleibend nachtheiligen Einfluß aus auf ihre geistige wie körperliche Constitution. Ihr Nervensystem befand sich in einer fortdauernd zum Krampfe geneigten Verstimmung. Oft war sie von einer Art Geistesschwäche befallen; beim geringsten Schreck – der Onkel brauchte sie nur heftig anzufahren – war sie in eine Betäubung versetzt, in der sie, ohne geistesabwesend zu sein, unfähig war, einen Gedanken oder einen Entschluß zu fassen.
Ein solcher Anfall andauernder Lähmung hatte sie nach jener verhängnißvollen Nacht überkommen. Von einem erdrückenden Kopfschmerz fast des Bewußtseins beraubt, brachte sie Tag und Nacht ohne Thränen in dumpfem Dahinstarren zu. Wenn aber ihr Geist auf Augenblicke freier wurde, dachte sie an den Entschluß, mit dem sie sich vom Rande des Grabes emporgerafft, und das Versprechen, das sie Ernst Wagner gegeben hatte, dann schauerte sie in sich zusammen und stürzte nieder vor dem Bilde ihrer Mutter. Sie fühlte sich so zusammengebrochen, so kraftlos an Leib und Seele, daß sie nicht daran zu denken vermochte, den Gedanken auszuführen. Ihre selige Mutter war ihr einziger Halt und diesen Halt konnte sie nicht aufgeben. Sonst wollte sie nichts mehr wollen, nur willenlos vom Leben sich forttreiben lassen, dem Onkel gehorchen, der schon eine Condition für sie erwirkt hatte, die sie in drei Tagen, zum ersten October, antreten solle.
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