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Sechstes Capitel.

Es waren kaum wieder acht Tage vergangen, da war auch der Schein des Glücks, den Anna für Ernst hatte, verschwunden; eine Blume nach der andern aus dem Kranze ihrer Freuden verdorrte für ihn und fiel ab. Ihre immer frisch sprudelnde Lebhaftigkeit, die ihn augenblicklich entzückt, wurde ihm störend. Es war ihm nicht gegeben, munter mit ihr zu schwatzen; er konnte nur im Predigertone und über wichtige Dinge reden. Er wurde wieder kalt und wortkarg, wie bei seiner Ankunft, und verlangte auch von ihr, daß sie in seiner Gegenwart ernst und gesetzt sei. Wenn sie spazieren gingen, mochte er es nicht leiden, daß sie über einen auffliegenden Vogel aufjauchzte oder vom Wege absprang, um eine Blume zu pflücken. Sie, die immer Leben in sich fühlte, und stets vom Leben angezogen wurde, mußte sich nun zwingen, steif und abgemessen zu sein, um ihn nicht zu stören. Aber wenn sie das ihm zu Gefallen that, so mußte sie gerade dadurch den Reiz für ihn verlieren, den sie für ihn gehabt hatte. Auch küßte er sie nicht mehr, wenn sie allein waren, und wenn er es dann und wann einmal that, dann wagte sie es nicht, wie sonst, sich zu sträuben und im Scherze zu schmollen, sondern reichte ihm willig das Mündchen hin, so daß diese Liebkosungen noch den Reiz der süßen, verbotenen Früchte und der zarten Gewalt einbüßten. So hatte dieses Blümchen den Duft und Schimmer seiner Natur abstreifen müssen, um reifer für ihn zu erscheinen, und nun war sie eine vertrocknete Blüte, die er am Busen stecken ließ, nur weil er sie nicht von sich werfen konnte.

Ernst, der Aennchens angenommene Ruhe für Kälte des Gefühls und Mangel an Zutraulichkeit hielt, fand sich gerade dadurch noch weniger zu ihrer Gesellschaft hingezogen. Er saß den ganzen Tag auf dem Zimmer hinter seinen Büchern. Wenn er dann vom Arbeiten ermattet war, wünschte er sich eine Unterhaltung, wo er hätte mittheilen können, was er den Tag über gelesen und geschrieben hatte, um zu neuem Lesen und Schreiben angeregt zu werden; so hatte er es in der Universitätsstadt im Museum oder bei der gelehrten Frau Professorin genossen. Aennchen konnte ihm eine solche Unterhaltung nicht gewähren und lieber, als mit ihr, ging er allein auf dem Spaziergang, neue Gedanken zu sammeln. Mehrere mal hatte er sich so vom Abendbrote entfernt, ohne Abschied zu nehmen, um von ihr nicht zur Begleitung aufgefodert zu werden. Sie hatte ihn deshalb gleich nach dem Essen nicht aus den Augen gelassen, um ihn zu begleiten, so wie er entfliehen wollte. Als sie es wieder zu thun gedachte, kam er nicht zum Abendbrote, und hatte sich schon vor demselben die Treppe hinunter bei der Küche vorbei ins Freie gestohlen.

Aennchen war bei Ernst's umgewandeltem Benehmen in Wahrheit aus dem Himmel gefallen. Eben will all das Glück wirklich werden, von dem sie geträumt hatte, da ist es auch schon wieder verschwunden; da kommt auch schon der Schmerz der Liebe, der ebenso groß war, wie ihre Wonne, von dem sie aber nichts geträumt hatte. Wie war das lebhafte Mädchenherz von seinem unverständlichen Schicksal hin- und hergerissen. Was hatte er nur für Grund zu seinem plötzlich umgeschlagenen Benehmen? Sie konnte sich keines Vergehens, keiner Schuld bewußt werden. Und so konnte sie Nichts, Nichts sich erdenken, wie sie es hätte bessern können; willenlos, ohne es ändern zu können, mußte sie Wohl und Wehe über sich ergehen lassen; sie mußte weinen und lachen, wie die unerklärliche Laune des sonderbaren Mannes es über sie verhängte. Dennoch konnte sie nicht los von ihm; an ihm hing ihr ganzes Sein, und Weinen um seinetwillen war ihr unendlich mehr werth, als Lachen ohne ihn. Stille Betrübniß verschleierte ihr sonst so munteres Wesen; traurig senkte sich ihr Köpfchen, und wenn sie früher schalkhaft widerstrebend war, jetzt schmiegte sie sich demüthig ihm an. Wenn er sich denn einmal aus Mitleid zwang, ein freundliches Wort oder eine zärtliche Liebkosung ihr zu schenken, dann war sie gleich wieder das glückselige Aennchen; dann lächelten wieder die Lippen zum runden Kinne hinunter und hüpften die Grübchen wie neckische Liebesgötter auf den Wangen; dann war es ihr wieder so felsenfest gewiß: er liebt dich und ist dir ja doch so herzig gut! Durch diese Hingebung gerührt, zwang Ernst sich um so mehr, ihr Liebe zu bezeugen. Und so zog er mehr und mehr die Liebe groß, die der Schmerz noch härtete; tief war sie ihr in das innerste Herz verwachsen und sie konnte nun nicht mehr von ihr gerissen werden, ohne ihr Leben bis in die Wurzeln zu erschüttern, vielleicht zu knicken.

Es war Ernst bei seiner schlichten Natur fremd, seine Gemüthsstimmung durch angenommenes Betragen zu verdecken. Er sah finster und leidend aus. Seiner Mutter war das nicht entgangen, und sie hatte ihre Besorgniß deshalb dem Vater mitgetheilt. Der alte Pastor, der immer nur nach einem Grunde suchte, um seine Sorgen daran zu heften, wurde sogleich entsetzlich unruhig über den Gesundheitszustand seines Sohnes. »Hufeland sagt: –« sagte er jetzt noch drei mal so oft des Tags als vordem, und hielt seinem Sohne lange Vorträge über Frühaufstehen, Wassertrinken und »sitzende Lebensart«. Ernst pflegte dann zu Allem Ja zu sagen, und zog sich auf einen Stuhl in der Ecke des Zimmers zurück, indem er sich mißmuthig in den Haaren kraute.

Dann sah der sorgliche Vater ein, daß es seinem gelehrten Sohne an Unterhaltung fehle, und strengte sich an, diese ihm zu gewähren und, ganz gegen seine Gewohnheit, viel mit ihm zu sprechen. Er suchte seine alten, theologischen Kenntnisse hervor und bemühte sich, dem Herrn Sohne gegenüber, möglichst »freisinnig« zu erscheinen, und konnte nicht genug rühmen, wie »freisinnig« seine Lehrer gewesen seien. Aber wie lächelte der moderne Philosoph innerlich über diesen beschränkten Rationalismus, über den die neueste Philosophie so unendlich weit hinaus war! Selbst – was er sonst nie that – über Politik fing der alte Herr an mit seinem Sohne zu reden. Aber was ihn interessirte, das waren die Spanier, die Chinesen und die Tscherkessen, Fälschungs- und Vergiftungsprocesse, fürstliche Besuche, Hochzeiten und Niederkunften, kurz allerlei »Geschichten«; nur das, was sein Sohn die »Geschichte«, den fortschreitenden Geist der Zeit nannte, das fürchtete er sich zu berühren, wie Jemand ein Feuergewehr, mit dem er nicht umzugehen weiß.

Ein Vorfall endlich machte dem Sohne die Gesellschaft des Alten unerträglich. Herr Pfarrer Striegnitz war beim Vorbeigehen angetreten und hatte den Vater gesprochen. Bei der Rede über seinen Sohn hatte er ihm gesagt, er möge viel gelernt haben, aber predigen könne er nicht; die Bauern sagten von seinen Reden: »er versteht es, aber wir verstehen ihn nicht«. Darüber war der Leidende in seine Unruhe verfallen und als er Ernst sah, warf er ihm vor, er gebe sich mit den Predigten keine Mühe, er nehme es zu leicht, es werde noch dahin kommen, daß die Bauern ihn nicht zum Pfarrer wählten, wenn der Herr seinen Vater zu sich gerufen. – Ernst's Stolz wurde empfindlich dadurch verletzt. Dem grämlichen Kranken, dachte er, ist doch nicht zu helfen. Er ließ sich seitdem vor dem Vater wo möglich nicht mehr sehen.

Einer schweren Pflicht mußte der angehende Geistliche noch genügen, der benachbarten Collegenschaft seine Besuche abzustatten. Namentlich drang der Vater in ihn, die Visite bei Herrn Pastor Striegnitz nicht länger aufzuschieben, und als nun seit dem Polterabend zum zweiten mal der Sonntag herankam, der Tag, an dem bei dem Geistlichen die Besuche am gelegensten sind, mußte sich Ernst denn wirklich entschließen, der Pfarre des Herrn Striegnitz zuzuwandern.

Pastor Striegnitz war kein verbauerter Pastor, wofür man ihn seinem ersten Auftreten nach ansehen mochte, sondern ein Bauer, der Pastor geworden war. Er war der Sohn eines Bauern und jetzt ein Mann, der von der ehrbaren Landwirtschaft lebte, wie sein Vater, und alle Sonntage den andern Bauern eine Predigt hielt. Er war mit Kindern reicher gesegnet als mit Geld, und seine sieben Jungens erzog er mit Strenge, damit sie würden, wie der Vater war.

Herr Striegnitz freute sich sehr, daß Ernst ihn heute gerade besuchte, da er Gesellschaft finden werde. Er hatte als sein Deputat ein Faß Bier bekommen und dazu seine benachbarten Collegen eingeladen.

Noch waren die Gäste nicht da. Der Wirth unterhielt den Fremden dadurch, daß er ihn mit seiner Familie bekannt machte. »Joseph, Gottlieb, Anton, Fritz!« u. s. w. rief er aus dem Fenster hinaus, und in wenigen Minuten marschirten die sieben Sprößlinge seiner Ehrwürden vom vierten bis vierzehnten Jahre vor dem Gaste auf. Zu Ehren der erwarteten Gesellschaft waren sie sämmtlich eben rein gewaschen und in die neuen Kleider gesteckt. Ehe Ernst es bemerkt, hatte der Vater gesehen oder gerochen, daß einer der Paradirenden mit den rein gewaschenen, blaugestreiften Hosen Unglück gehabt habe. Flugs hatte er ihn bei den Ohren aus dem aufmarschirten Gliede gezogen, den Stock aus der Ecke geholt und hobelte mit gemüthlicher Ruhe auf dem Delinquenten herum. Der Unglückliche vertheidigte sich, Fritz und Anton hätten ihn auf dem Hofe ins »Stroh« geworfen, und sowie diese Missethäter sich anklagen hörten, fuhren sie schnell zur Thüre hinaus und der ganze übrige Schwarm, dem es nicht geheuer sein mochte, wie das wilde Heer ihnen nach. Der Pfarrer drohte ihnen zum Fenster hinaus: »Ho, ho! Ihr sollt eurer Schmiere nicht entgehen!«

Unser junger Philosoph wurde durch diesen komischen Auftritt traurig gestimmt. Er dachte an die Erziehung des Menschengeschlechtes.

Es fanden sich indeß die Erwarteten ein; der Cantor aus demselben Dorfe und vier Pfarrer der Umgegend. Das Bier wurde gekostet, gut gefunden und in ganzen Gläsern burschikos hinunter getrunken. Ernst war an Bier nicht gewöhnt; er nippte nur und ließ es stehen; die Andern sahen darin übermüthige Verwöhnung. Als Cigarren herumgereicht wurden, schlug Ernst sie ab; er rauchte nicht, denn er konnte keinen absoluten Zweck im Rauchen finden. Auch das hielt man für sonderbar. Als nun aber an den Zweck der Gesellschaft geschritten und ein Spiel arrangirt wurde, mußte der junge College wieder bedauern, nicht von der Partie sein zu können, da er nicht spiele. Er spielte aus Princip nicht. Das war eine neue Sonderbarkeit an dem neuen Gaste, die man um so lästiger fand, da nur vier der Herren eine Whistpartie unternehmen konnten, und der Wirth nebst Herrn Pastor Suppe dem Fremden zu Liebe vom Spiele abstehen mußten.

Herr Pastor Suppe war das Gegenstück zum Collegen Striegnitz; er war ein feiner Mann, der sich alle Mühe gab, um sich vor dem Verbauern zu schützen. Er war eine kleine, dürre Figur mit freundlichem Gesichtchen, das fast kindlich unreif aussah, während die Platte auf dem Kopfe, die er durch unendliches, Haarwuchs erzeugen sollendes Oel zu verbergen suchte, wenigstens gegen seine leibliche Kindheit sprach. Man sah es ihm an, wie er stets sich bemühte, elegant und höflich zu erscheinen; er begrüßte Ernst, indem er ihm sagte, wie er es wisse, in ihm den wissenschaftlich gebildeten Mann zu schätzen, wobei er durchblicken ließ, daß er seine Collegen nur von oben herab ansähe. Um Ernst's Unterhaltung zu genießen, schloß er sich von der Whistpartie aus.

In dem Gespräch, das Ernst mit seinen älteren Collegen nun führen mußte, rächte sich Herr Striegnitz an ihm, daß er seinetwegen von dem seltenen Vergnügen einer Partie abstehen mußte. Es wurden einige allgemeine Redensarten über die Rongeaner, Lichtfreunde und Atheisten gewechselt, wobei Ernst sehr bald erkannte, wie seine Ehrwürden Herr Pastor Striegnitz gar kein Verständniß der theologischen Parteiungen hatte, und nur zwei Classen von Theologen kannte: Orthodoxe, d. h. ehrliche, und Atheisten, d. h. niederträchtige. Sehr bald brachte derselbe die Rede auf die Erscheinung, die ihm im Felde der theologischen, gelehrten Literatur noch immer das neueste Ereigniß war, auf »das Leben Jesu« von David Strauß. »Haben gewiß den Strauß gelesen?« frug er den junger n Collegen zudringlich.

»Wer hätte den nicht gelesen?« antwortete Ernst.

»Was?« erwiderte jener. »Ich habe den Strauß nicht gelesen, ich werde nie solch ein Teufelsbuch in meine Hand nehmen; es ist eine Sünde, in solchen Geist nur einen Blick zu werfen.«

Herr Pastor Suppe Ehrwürden, der den Wohlgebildeten spielen wollte, war in Verlegenheit gerathen; er rückte auf dem Stuhle hin und her, und zog sich an den steifen, hohen Vatermördern. Endlich sagte er, die Augenbrauen in die Höhe ziehend, mit Wichtigkeit: »O! bitte, verehrtester Herr College, warum soll man den Strauß nicht lesen? Ja, ich muß sagen, das Buch hat mir ein großes, geistiges Vergnügen gemacht« – diesen Ausdruck hatte er von einem durchreisenden Studenten der Theologie gehört, der ihn von seinem Professor gehört hatte – »großes, geistiges Vergnügen! Sie wissen, was ich damit sagen will. Das Ganze ist ein blendendes Spiel der Vernunft, aber nur ein Spiel; die bloße Vernunft irrt immer.« Herr Pastor Suppe war mit dieser seiner Erklärung ebenso zufrieden, als sie ihm schwer geworden war. Er legte sich lächelnd in seinen Stuhl zurück, und blickte stolz um sich, ob Jemand dagegen etwas erwidern könne.

»Ja, die Vernunft irrt immer, und drum braucht der, welchem die Wahrheit offenbart ist, gar nicht erst zu wissen, wie sie irrt«, sagte der andere Pastor kurz mit wegwerfendem Tone.

Herr Suppe fühlte sich dadurch gar nicht geschlagen, vielmehr freute er sich, nun seine tiefe, philosophische Anschauung zu Tage fördern zu können. »Das möchte ich nun doch nicht behaupten. Die Vernunft hat auch ihr Recht, das ist wol nicht zu läugnen; verstehen Sie mich recht: in gewissem Maße! Aber sie ist eben, so zu sagen, nur ein überwundenes Moment; sie muß eben in dem Glauben negirt, das will sagen: aufgehoben sein. Nicht wahr, Herr Candidat?« wandte er sich an Ernst, um in seinen Zügen das Erstaunen über seine Kenntniß der philosophischen Theologie zu lesen.

»Allerdings, ja«; antwortete dieser kurz.

»Ei was, in gewissem Maße!« fuhr Herr Striegnitz dazwischen. »Was ist das für ein gewisses Maß? Ist der Vernunft erst ein gewisses Maß zugestanden, hernach wird es der Teufel messen, dieses gewisse Maß. Nein, nichts da mit der Vernunft. Die Vernunft ist der menschliche Hochmuth, der sich wider Gott aufbäumt. Die Vernunft soll sich dem Glauben unterwerfen, und diesen Hochmuth wollen wir demüthigen!« Seine aufgeworfene Oberlippe war noch höher aufgeworfen, und es sprach aus seinem barsch zuversichtlichen Tone wahrlich nicht viel von christlicher Demuth und Liebe.

»Ja wohl«, sprach der gemäßigtere College, »der ungläubige Hochmuth muß gedemüthigt werden, aber nur durch Ueberzeugung, nicht durch Gewalt.«

»Ja, wartet, bis der Teufel bekehrt und die Vernunft überzeugt wird! Dafür hat Gott der Obrigkeit die Zuchtruthe in die Hand gegeben, damit die Schreier und Freigeister sie fühlen. Und was hilft denn alle diese Vernunft und menschliche Grübelei! Da studirt und speculirt Einer seine sechs Jahr, und dann kommt er wieder und ist so überstudirt, daß er nicht die einfachste Predigt halten kann und rühmt sich, daß er sie in zwei Stunden macht, kann aber mit aller seiner Weisheit einem armen Sünder nicht einmal einen Trost am Sterbebette geben. Am schlimmsten aber sind die Stillen, die Heimlichen, die Schleicher, die sich in die besten Stellen einnisten und unsere Kirche mit Gestank erfüllen. Da muß jeder Rechtschaffne thun, was er kann, um sie zu entlarven, diese Wölfe in Schafsfellen, diese Teufel mit Engelsmienen«.

Er sprach das mit noch mehr Heftigkeit, als er sonst pflegte, und sah Ernst mit keinem Blicke an, gerade weil er ihn meinte. College Suppe gerieth in neue, größere Verlegenheit, mehr als vordem rückte er auf dem Stuhle und zog sich an den Vatermördern; er war durch die Entschiedenheit des Sprechers eingeschüchtert und wagte nichts einzuwerfen.

Ernst konnte sich nicht bezwingen, roth zu werden vor innerer Empörung; er war sich des redlichsten, mühevollsten Strebens bewußt, und mußte sich Hochmuth vorwerfen lassen von dieser klotzigen Zuversicht. Er sprach kein Wort. Die Stille war für den zartfühlenden Herrn Suppe am peinlichsten; er gab dem Gespräch eine andere Wendung und sprach von der besten Art der Düngung.

Zum Glück wurde bald das Abendbrot aufgetragen. Die derbe Munterkeit bei demselben war für Ernst fade und langweilig; er hielt sich von der gemeinsamen Unterhaltung fern, was ihm als Dünkel ausgelegt wurde. Empört gegen Striegnitz und verstimmt gegen Alle, verließ er nach dem Essen das Haus. – Das waren die Leute, mit denen er zeitlebens in Gemeinsamkeit der Amtsbestimmung und des Verkehrs bleiben sollte!

Am meisten kränkte es Ernst, daß er dem Pastor Striegnitz doch Recht geben mußte, der seine Unbrauchbarkeit im Amte verhöhnte; zu so Großem fühlte er sich fähig und berufen, und mußte nun sich in eine Bestimmung zwingen, in der so bornirte Köpfe mit Hochmuth auf seine Unfähigkeit herabsehen durften!

Er kam zu Hause an verstimmter als je, so daß Aennchen über sein Wesen erschrak. »Was fehlt dir?« fragte sie theilnehmend. – »Nichts weiter, mir thut der Kopf weh«, antwortete er ausweichend, und reichte ihr Trost suchend die Hand. – »Hufeland sagt …« sagte sie, und gab ihm nach Manier des Alten eine Gesundheitsregel. – »Das macht mich nicht gesund«, antwortete er, und ließ ihre Hand.

In seiner geistigen Thätigkeit allein konnte Ernst Trost und Unterhaltung finden; er beschäftigte sich mit einer publicistischen Arbeit. Die gährende Stimmung seines Gemüthes hatte seine Geisteskräfte aufgeregt, und die Gedanken strömten ihm reichlich zu; die Arbeit ging schnell und leicht von statten. Der Druck, mit dem die Verhältnisse auf ihm lasteten, der Haß gegen die hochmüthige Beschränktheit eines Pastor Striegnitz gaben ihm einen bittern Ton ein. Die ganze Empörung seines Innern machte sich Luft in dieser Arbeit. Die Welt, die ihn knechtete, wollte er von einem ihr unerreichbaren Felde aus vernichten; mit seiner schlagenden Beweisführung, seinem niederreißenden Redeflusse glaubte er über sie zu triumphiren. Den ganzen Tag saß er auf seinem Zimmer, nur gegen Abend lief er allein eine Strecke Wegs, wobei weder Braut noch Mutter es wagten, ihre Begleitung ihm anzubieten.

Als er eines Abends vom Spaziergange zurückkehrte, war der Herr Superintendent aus der Kreisstadt beim Vater gewesen. Ernst, dem es erzählt wurde, fand die Andern stiller als je; der Vater schien sich innerlich unruhig zu befinden; er brummte öfter stöhnend vor sich hin, und seufzte bisweilen tief auf. Ernst fühlte sich unheimlich bedrückt, wie durch die Schwüle vor einem Gewitter; er hatte sich in Nichts vergangen, und doch hatte er kein freies Gewissen. Als er lautlos sein Abendbrot »nachexercirt«, redete der Vater ihn an; bei den ersten Worten erschrak Ernst über die angstvolle Unruhe, die er schon lange nicht mehr gehabt. Diesmal hatte er allerdings Grund dazu, und Ernst's Gefühl konnte sich nicht so leicht darüber hinwegsetzen wie sonst. Der Superintendent hatte sich erkundigt, was Ernst betreibe; er sagte dann, daß er darauf aufmerksam gemacht sei, wie der junge Theologe einer atheistischen Richtung angehöre, wobei er anerkennend merken ließ, daß Herr College Striegnitz seinem Vorgesetzten diesen pflichtgemäßen Dienst erwiesen habe; er frug deshalb den Vater, ob er etwas und was er davon wisse. Als der alte Herr Pastor in großer Angst zugestand, sein Sohn sei auf der Universität allerdings freigeistig gewesen, allein das sei nur eine Jugendverirrung und er sei bereits davon zurückgekommen, machte ihn der Superintendent bei dem Vertrauen, das er zu seinem Collegen habe, darauf aufmerksam, wie bedenklich es sei, die jungen Männer von zweifelhafter Gesinnung als leitende Glieder in die Kirche aufzunehmen, und er forderte den Vater auf, seinen Sohn scharf zu beobachten, sich seine Predigten im Concept zur Genehmigung vorlegen zu lassen und namentlich in seinen Papieren, als Vorgesetzter und als Vater zugleich, zu untersuchen, ob er seine gefährliche Schriftstellerei noch fortsetze.

»Was?« schrie Ernst empört auf, ehe der Vater ausgesprochen, »du sollst dich zu einem Werkzeuge der Inquisition hergeben? der Vater gegen den Sohn? Meine Worte mir abmessen! meine Papiere beaufsichtigen! Mich wie ein Kind behandeln lassen! Wo soll ich denn noch hin mit meinen Gedanken, wenn meine Schreibmappe nicht mehr sicher ist! Nein, Vater, ich will Alles thun, was mein Amt verlangt, ich will predigen, taufen, auf die Symbole schwören, nur in meinem Herzen muß ich frei sein! mein verschlossenes Zimmer muß mir gehören! – Verzeih, Vater, daß ich heftig werde. Ich weiß, du wirst's nicht thun; wir leben wie bisher.« Ernst brach plötzlich ab und verließ das Zimmer.

Es war für Alle im Hause ein erschütternder Moment. Sie hatten an Ernst noch nie eine Entschiedenheit, noch nie seit seiner Rückkehr einen bestimmten Willen gesehen, und nun plötzlich diese jähe Heftigkeit! Die Mutter rang die Hände im Schoose; Aennchen stand bleich und bebend; der Alte bekam einen Anfall von Ohnmacht. Durch die Familie, die bisher so friedlich zusammengelebt, ging plötzlich ein Bruch, den keine Liebe wieder heilen konnte.

Die verständige Frau Pastorin wußte ihren Mann über das heftige Auftreten des Sohnes zu beruhigen. Sie gab Ernst Recht, behauptete, es sei die Sache seines Vaters, ihn gegen die Chikanen seiner Collegen zu vertheidigen; er thäte ja Alles für seine Familie, der Vater sollte auch ihm einmal nachgeben. Der Alte brummte seine Sorge in sich hinein. »Ich erlebe es noch –« sagte er, und: »ich trag dann nicht die Schuld«; das Uebrige ließ er nur ahnen. Die Haussuchung wurde unterlassen. Man sprach von dem Auftritte kein Wort mehr, aber der Frieden des Hauses war gestört; wenn man sonst wortkarg gewesen war, so hatte man doch dann und wann zu reden sich bemüht; jetzt scheute sich ein Jeder ein Gespräch anzuknüpfen, um dem gelösten Verhältniß keinen neuen Stoß zu geben. Es war der Fluch der Gesinnungslosigkeit, der auf dem Hause ruhte.

Ernst saß um so emsiger am Schreibtisch, und nach einigen Tagen hatte er die Freude, die sauber geschriebenen Bogen an einander legen zu können und den Titel darauf zu setzen: »Staat und Kirche«, nebst dem Motto: »Die Kirche – die Lüge des Staates, der Staat – die Wahrheit der Kirche.« Er konnte sich sagen, daß ihm noch keine Arbeit so gelungen wie diese, aber auch noch keine so destructiv, so die bestehenden Verhältnisse verhöhnend ausgefallen sei.

Er machte ein Couvert um die zusammengelegten Bogen und legte einen Brief an Dr. Horn dazu:

»Hansdorf. den … Juli 45.

Bester Doctor!

Beifolgend übersende ich dir einen so eben vollendeten Aufsatz. Habe die Güte, ihn der Redaction der … zuzuschicken; aber um des Himmels willen – oder besser um meines Magens willen – nenne meinen Namen nicht. Mir droht der Hungertod, wenn man im Consistorium erfährt, daß ich der Verfasser dieses destructiven Artikels bin. Mit einer Anstellung ist es dann vorbei und ich, der freie Geist, bin mit den Meinen dann den Begierden des Magens preisgegeben. Das übliche Honorar laß dir auf deine Rechnung auszahlen, und schicke es mir zu.

Du hast mir meinen Brief noch nicht beantwortet, obgleich ich ihn vor vier Wochen geschrieben habe; ich habe dir also auf Nichts zu antworten. Und willst du wissen, wie es mir geht? Bei den Leuten helfe ich mir mit einer Lüge, und sage ›gut‹, du aber gehörst nicht unter die Leute, sondern bist mein Freund; dir sage ich die Wahrheit: ich wünschte, es ginge überhaupt nicht mehr lange mit mir, denn so wie jetzt halte ich es nicht aus, und wie es anders gehen könnte, weiß ich nicht.

Als ich nach meiner Ankunft hier dir schrieb, da konnte ich Nichts lieben und Nichts hassen in dieser Welt. Ich versuchte zu lieben; ich wollte mich umstricken lassen von dem Reize der natürlichen Schönheit, ich wollte mich fortreißen lassen von dem unerklärlichen Zauber der Sinnlichkeit, um nur glücklich zu sein; aber ich kann nicht lieben. Der Geist ist zu stark in mir, die Kraft der Natur prallt von mir ab, wie ein Zauber von dem stärkeren Geiste. Das reizende Mädchen ist mir jetzt ein dummes, zänkisches Dorfkind; ich kann nicht lieben, aber ich muß jetzt hassen, hassen diese Menschen, die den Geist Gottes für sich in Anspruch nehmen und nur leben für ihr Fleisch, hassen dieses Geschlecht, das keine Ahnung hat von der Macht der Wahrheit, hassen diese ganze Welt des Bestehenden, die nur dazu da ist, den emporringenden Geist niederzudrücken!

Es ist doch wahr, was ich in meinem vorigen Briefe widerrief: ich bin entsetzlich unglücklich, und noch viel unglücklicher, als ich es damals war; damals kam mir mein Schicksal vor, wie ein Schleier, jetzt ist es mir wie ein Alp, der mich ersticken will.

O, sie haben mich mir selbst längst genommen! Ich existire hier gar nicht; denn der hier lebt, das ist ein Jemand, ein Jeder, nur nicht ich. Alle diese Leute, mit denen ich umgehe, kennen mich gar nicht; sie wissen nichts von mir. Ich predige und verrichte mein Amt, wie der Vorgesetzte will; ich bin höflich gegen Jeden, wie es schicklich ist; ich gehorche meinen Aeltern, wie es meine Schuldigkeit erheischt, und ich heirathe ein Weib, weil sie versorgt sein muß! Aber was ich will, was ich meine, daß ich müßte, das kann ich nicht thun, nur das, was ein jeder Jemand, was Jedermann thun könnte. Ich bin, aber ich bin nicht ich. Und das bloße Sein, ohne sein Selbst sein zu können –? Die Andern, die Leute, die nichts sind als das Nichts, die können das wol tragen; aber ich, der ich mich fühle und ich selber sein möchte, muß ich damit nicht den Tod erdulden?

Louis, wenn ich leben will, muß ich meinem eigenen Selbst entsagen! Aber – muß ich denn leben wollen? Ist es nicht besser, ehe so zu sein, gar nicht zu sein? Ich bin ein freier Geist, ich lebe durch mich selbst, weil ich mich zu leben entschlossen. Wenn ich wirklich frei bin, kann ich mich nicht auch entschließen, nicht zu leben? Ist die Freiheit nicht erst da vollendet, wo sie, anstatt von außen erdrückt zu werden, sich selbst beendet? – Was meinst du, Louis, alter Freund, wenn – wenn ich so frei wäre!

– Nein und doch nicht! Alles, Alles, wenn nur meine Mutter es nicht erlebte!

So bin ich gefesselt durch das Band der Familie. Da liegt's! Die Schuld, daß ich nicht frei bin, ist in mir selbst. Ich stecke noch in der Liebe, an die ich nicht glaube; ich lasse mich fesseln durch Bande, die ich zerreißen müßte, ich – bin eben noch kein reiner Geist! – Wir sind allzumal unvollkommen und ermangeln des Ruhmes, den wir vor Gott haben sollten. Amen!

Dein
Ernst.«

*


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