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In Hansdorf am stattlichen Garten des Pfarrhauses ging ein Mann entlang, der bei jedem Schritte besorgt um sich blickte, ob er auch nicht gesehen werde. Als er den Pfarrherrn im Garten bemerkte, – es war College Striegnitz, der Nachfolger des seligen Pastor Wagner, – da duckte er sich hinter der Hecke und schlich wie ein Dieb davon.
Es war das der Berliner Demagoge Ernst Wagner. Er ging nach dem Amte, der Wohnung des Pächters von Hansdorf. An der Thüre dort trifft er eine hübsche, junge Frau, die Haube auf dem Kopfe, das Gesicht blühend von Glück und Gesundheit, – die Seligkeit der Flitterwochen strahlte ihr aus den Augen.
»Mein Gott, wer ist denn das?« rief sie erschreckt aus, als sie den Fremden mit eingefallenen, blassen Zügen und unheimlich großem Barte sah.
»Anna!« rief dieser, an ihrer Sprache sie erkennend.
»Ernst?« sagte sie, in fragendem Tone, und sah ihn nachdenklich groß an. Sie sagte nicht, daß er sich verändert habe; aber daraus, daß sie es nicht sagte, konnte er sehen, wie sehr sie es fand.
Auch Ernst fand seine verlassene Braut anders, als er es erwartete. Er hatte ein blasses, abgezehrtes Wesen wiederzusehen gedacht, dessen Anblick ein steter Vorwurf für ihn sein müsse; und nun, wo er dieses Vorwurfes sich entledigt sah, verletzte es ihn, daß sie um ihn nicht mehr gelitten hatte!
Aennchen hatte den Verwalter Kilian, der vor drei Jahren auf dem verhängnißvollen Polterabend Ernst's unglücklicher Nebenbuhler gewesen war, nach dem Tode ihrer Tante geheirathet. Jene unglücklich abgelaufene Neckerei, durch welche sie den Taper-Kilian damals im Spiele am Kopfe verwundet, ließ ein stetes Weh in ihrer Brust zurück, das sie empfand, so oft sie an ihn dachte. Als Ernst sie unglücklich werden ließ und dieser Mann ihr schüchtern auch im Unglück seine treue Liebe bewies, erblühte ihr Mitleid zur Liebe. Als die Tante starb und ihre Zeit und Liebe nicht mehr in Anspruch nahm, versprach sie sich dem wackeren Kilian. Dieser, der sich indeß in der weiten Welt ein sicheres Auftreten und vielfache Kenntniß erworben hatte, pachtete von seinem Vermögen das Gut von Hansdorf und war seit wenigen Wochen Aennchens glücklichster Gatte.
Aennchen und Ernst fühlten sich in einer bedrückten Stimmung einander gegenüber. Sie waren beide froh, als Kilian von der Arbeit nach Hause kehrte und sie davon befreite.
Ernst erinnerte sich nicht, auf seinen Fahrten in die große Welt, wo er wie Diogenes die echten »Menschen« suchte, jemals so herzlich bewillkommnet zu sein, wie durch diesen derben Handschlag und dies einzige Wort seines früheren Nebenbuhlers: »Grüß' dich Gott, Vetter!«
Aennchen wischte ihrem Gatten den Schweiß von der Stirne, gab ihm ein Küßchen, reichte ihm Pantoffeln und Hausrock, – das Alles mit so rein geschäftiger Miene, ohne Entzücken, ohne überschwängliche Zärtlichkeit, und doch erschien Ernst dieses aufmerksame Walten sorglicher Liebe unendlich beglückender, als all die himmlisch erhabenen und irdisch wüsten Seligkeiten der freien großen Liebe, die er genossen.
Kilian machte keine unnöthigen Umstände mit seinem Gaste. Er sagte, er sei barbarisch müde von der Arbeit und legte sich zur Ruhe.
Auch Ernst, der mit Aennchen nicht allein bleiben wollte, begab sich in das ihm angewiesene Zimmer. Auch er fühlte sich müde an Leib und Seele, aber er kannte keine Ruhe, die ihn stärken konnte.
Als er nach langem Schlafe ohne Erquickung am anderen Morgen aufstand, hieß es: Kilian ist schon zur Arbeit hinaus. Ernst ging, um frische Luft zu schöpfen, vor die Thüre. Die frischen Haufen Dünger, die er dort sah, setzten ihn in Verwunderung; er mußte sich selbst belächeln, als ihm dabei einfiel, wie er ganz vergessen hatte, daß es Mist gebe. Aber mit tiefen Athemzügen sog er den warmen Dampf desselben ein; es war ihm, als könne dieser seine Brust heilen, die krank geworden war von dem Parfum, den er eingeathmet.
Aehnlich ging es ihm, als er in die Küche trat. Die Töpfe, Kannen, und all diese zur Existenz des Menschen unentbehrlichen Geräthschaften waren ihm etwas ganz neues. Er stand an einer großen Wasserstande und fand es sonderbar, daß diese Breter an einander schlossen und das Wasser zusammenhielten. Er war nachdenklich und schwermüthig geworden darüber, daß er der ganzen wirklichen Welt sich so entfremdet fühlte. Er suchte Aennchens Gegenwart auf, um bei ihr sich zu zerstreuen. Sie sprachen nicht lange mit einander, als diese anfing den Unfug zu erzählen, den der demokratische Cantor, Herr Zabel, – Ernst's ehemaliger Freund, – im Dorfe angestiftet habe; er habe das Volk aufgehetzt, sodaß die Bauern keinen Pacht mehr zahlen und die Tagearbeiter doppelte Löhnung haben wollten; sie hätten aus Haß schon eine Scheuer angezündet gehabt, die nur mit Mühe noch gerettet sei; Kilian wisse oft gar nicht, wie er sich halten werde, und um nur nicht ganz herunter zu kommen, sei er Wochentags und Sonntags von früh bis spät bei der Arbeit und strenge sich an wie der gemeinste Tagelöhner. »Und woher sind die schlechten Zeiten gekommen?« so fuhr Aennchen fort; aber um Ernst nicht zu verletzen, hielt sie ein und schwieg. Um so mehr fühlte er sich getroffen. Er mußte bei diesen bedrängten Verhältnissen seinen Wirthen zur Last sein, und war sich selber zur Last, als er unthätig den ganzen Tag im Hause sich herumtrieb.
Er hatte immer von »der Arbeit« sprechen hören. Am andern Morgen ging er bald nach Sonnenaufgang mit Kilian an »die Arbeit.« Es gab ein Kohlfeld umzugraben. Ernst machte sich mit allem Eifer daran und war nach einer Stunde müde. Indeß hörte er auf einem jenseitigen Felde einen Pflüger, der schon bei der Arbeit war, als sie dazu kamen, sein lustiges Liedchen gleichmäßig fortpfeifen. Als er Kilian frug, wem jenes Feld gehöre, antwortete dieser: »Das hat Pastor Striegnitz gepachtet; der darauf arbeitet, ist sein Sohn, – ein brauchbarer Mensch; er hält die ganze große Wirthschaft schon zusammen.«
Es war das einer von den »Jungens«, bei denen Ernst einst mit Schmerz an die Erziehung des Menschengeschlechtes dachte. Wie beneidete er ihn jetzt um die Kraft und Uebung, die ihm selber fehlte, um nur durch eine Tagesarbeit sich nützlich zu machen.
Trotz der Ermüdung zwang Ernst mit aller Gewalt sich zur Arbeit. Als erst die Sonne ihn auf den Rücken brannte, und die hellen Schweißtropfen ihm über die Stirne perlten, und er standhaft eine Scholle auf die andere warf, da ging ihm allmälig die Besinnung vor Anstrengung aus; mechanisch hob er die Arme einmal ums andere, ohne zu wissen, daß er es that. Aber als nun die Ruhestunde kam und er sich in den Schatten legen konnte, empfand er eine Befriedigung seines ganzen Wesens, wie er es noch nicht gekannt. Es erschien ihm das einzige, das größte Glück zu sein, so, ohne Gedanken, in einem Berufe fortzuleben, zu arbeiten, um dann zu ruhen, und zu ruhen, um wieder zu arbeiten.
Als der Sonntag kam, fühlte er, daß er eine Erholung verdient hatte. Mit welcher Zufriedenheit ging er jetzt ans Biertrinken, Cigarrenrauchen, Kegelschieben. Er hatte mit Aennchen und Kilian einen Besuch gemacht bei Grubers, der Rieke und dem Christian, bei deren Polterabend er zugegen gewesen war. Jetzt wußte er die Freundschaft zu schätzen, mit der man ihn hier empfing, die Nachsicht, mit der man kein Wort von Politik sprach, um ihn nicht zu verletzen. Er lernte es kennen, wie süß es ist, Menschen zu haben, von denen man geliebt wird.
Als die beiden vertrauten Familien zusammen Abendbrot aßen, war der noch immer lustige Christian außer sich vor Freude über den Kalbsbraten, den Hanne, früher Wagner's Köchin, ihrem jungen Herrn Pastor zu Ehren aufs vortrefflichste zubereitet hatte. Er schenkte ihr als besondere Anerkennung dafür ein Zweigroschenstück. Als Ernst die Freude der Magd über dieses kleine Geschenk und noch mehr über die Zufriedenheit ihrer Herrschaft auf dem gebräunten Gesichte glänzen sah, da dachte er: ist hier nicht das sociale Problem gelöst? Er, der stets einen Weltschmerzstich empfunden, wenn er einen dienenden Menschen gesehen, mußte sich sagen, daß es nichts auf Erden gebe, was ihm eine solche Freude bereiten könne, wie diese Magd sie jetzt genoß!
Welcher Thor war er gewesen! Er, der stets kritisirte, glich dem Thier, das von einem bösen Geist auf dürrer Haide im Kreise herumgeführt wird, während rings fette, grüne Wiese ist. Die Genialität ohne Genie hatte ihn Zielen nachgejagt, die über seine Kräfte gingen. Jetzt war der Hochmuth seines Idealismus gebeugt. Mußte er jetzt nicht sich einfriedigen können in dieser heimisch traulichen Welt?
Ueber so wichtige Entschlüsse suchte er beim Nachessen von prächtigen Herzkirschen mit seinen Gedanken zu unterhandeln, als wiederum die Ironie des Zufalls ihn neckte. Riekchens zweijähriger Bube kam mit einem älteren Spielgefährten weinend aus dem Flure in das Zimmer. »Mutter, mein Kuhfuß ist entzwei, mein Kuhfuß ist entzwei.« So klagte er bitterlich und hielt seine kleine Kinderflinte der Mutter hin.
Auf die Frage, was sie damit gemacht hätten, gestand der ältere Bube, nun auch in Weinen ausbrechend: »Wir wollten sehn, warum das so schießt, und da haben wir es entzwei gemacht und nun geht es nicht wieder ganz zu machen.«
Ernst sprang auf, wischte dem Kleinen die Thränen ab und versprach den Schaden auszubessern, während ihm selbst die Thränen über die Wangen liefen. Hatte er nicht auch um das »Warum?« willen sein Lebensschicksal aus den Fugen gerenkt, sein Herz gebrochen, und nun er klug geworden ist, wird er jetzt den Schaden wieder heilen können? Er küßte, als es Niemand sah, innig die Kleinen, während er sonst die Kinder nicht recht hatte leiden können. Er hatte gelernt, die Menschen lieben. Das gemeinsame Loos, das sich bei Allem im Großen wie im Kleinen wiederfindet, dieselben Leiden und Freuden zu empfinden, dieselben Erfahrungen zu machen, das ist es, was die Menschen mit einem Bande zusammenhält.
Ernst, der sonst aus Princip nie spielen wollte, tummelte sich jetzt, nachdem er die Flinte reparirt hatte, eine Stunde lang mit den Kleinen in den kindischsten Streichen auf dem Rasenflecke vor dem Hause herum. Ueber das ganze Gesicht lachte er und in den Augen standen ihm die Thränen. Er lachte darüber, wie er in diesen unsinnigen Albernheiten so glücklich sein konnte und weinte, daß er seine hohen Ideen aufgeben mußte, oder – lachte er sich aus, daß die hohen Ideen ihn so lange um den Werth des Lebens betrogen hatten und weinte er vor Inbrunst über das Glück und die Freuden, die aus dem beschränktesten Leben voll Rechtschaffenheit und Liebe erblühen? Die Stimmung des echten Humors, die weder diesen naiv glücklichen Menschen noch ihm selbst, als zerrissenem Titanen, bekannt gewesen war, überkam ihn mit ihrem das Menschenschicksal versöhnenden Frieden.
»Mein Kuhfuß ist entzwei!« so machte Ernst den Knaben ihr Weinen neckisch nach, während die Thränen ihm in die Augen traten über die schwere Wahrheit: »Mein Herz ist entzwei!«
Aennchens klare blaue Augen hingen mit besorgtem Blicke an Ernst, als er so mit den Buben tollte. Als er diese Wehmuth bemerkte, wurde er plötzlich still. Und als er, zu Hause angekommen, einsam in seinem Zimmer war, rang er seufzend die Hände. Er gedachte, wie diese Augen in der Laube von wildem Wein beim Mondschein einst ihm gelächelt hatten; er gedachte des Abends, an dem er aus seiner Kammer, dieser ähnlich, vor ihre Thüre getreten war und ihr zugeflüstert: »du weißt es nicht, wie gut ich dir bin!« und wie sie in losem Nachtkleide ihm dann so vertrauensvoll um den Hals gefallen und geantwortet hatte: »wenn erst Hochzeit sein wird!« – und jetzt, wo er wußte, daß das die wahre, ihrer selbst ewig gewisse Liebe ist, jetzt konnte er nichts als ausrufen: »mein Herz ist entzwei!«
Am andern Morgen hatte Ernst die Zeit zur Arbeit verschlafen. Er fühlte, daß er die Kräfte nicht besaß, sich dauernd in dieser Weise anzustrengen. Er blieb zu Hause. Eine tiefe Wehmuth durchbebte sein Inneres. Aennchens Blicke fand er heute weich, sie wichen aus, wenn sie den seinen begegneten, ihr ganzes Benehmen gegen ihn war verändert; er selbst fühlte sich beunruhigt in ihrer Gegenwart.
Aennchen hatte, durch einen Zufall in das obere Stockwerk geführt, gestern Abend die Schmerzenslaute ihres untreuen Geliebten vernommen. Sie hatte ihre erste Liebe nicht vergessen; aber sie hatte den Verlust derselben verschmerzt. Als sie Ernst wiedergesehen, wollte sie manchmal in ihrem Herzen wieder auftauchen und sie überkommen mit dem Verlangen nach einer geahnten, schwindelnd hohen Glückseligkeit; aber sie besaß Festigkeit genug, kaum auf Augenblicke fremden Gefühlen sich hinzugeben. Jene belauschten Seufzer aber hatten ihre Empfindungen in innerlichste Empörung gebracht. Der nächste Gedanke, den sie freudig faßte, war der, sich des unglücklichen anzunehmen und durch ihre schwesterliche Sorgfalt in ihrem Hause ihn sein Leid vergessen zu lehren. Bald aber mußte sie in Furcht erbeben davor, denn jene unendliche, unbezwingbare Sehnsucht wollte wieder mächtig werden; sie mußte in seiner Nähe sich vor sich selber fürchten.
Als sie des Nachmittags allein im Wohnzimmer saßen, Aennchen nähend, Ernst mit einem Buche in der Hand, ohne zu lesen, begegneten sich ihre trüben Blicke. Sie fühlten es, die Erinnerung vergangener Tage, die sie seit ihrem Wiedersehen zu berühren vermieden, schwebte über ihren beiden Seelen. Da zitterte eine Thräne an Aennchens Wimpern. Ernst las jetzt die Vorwürfe, die er verdiente, in ihren Zügen; er sah, daß er sie sehr unglücklich gemacht hatte; er glaubte zu wissen, daß sie auch jetzt nicht glücklich war, nur resignirt. Sie stieg in seiner Achtung.
»Ernst!« unterbrach endlich Aennchen das drückende Schweigen, indem sie, in sich selber kämpfend, ihre Freundschaft vor ihrer Liebe zu erretten suchte.
»Anna!« antwortete Ernst, mit dem weichen Tone seiner Stimme, der ihr so hold wie sonst wieder erklang und sie im Innersten erbeben machte.
»Ernst, willst du nicht bei uns bleiben? – du könntest meinem Manne helfen, wenn du wolltest – oder ich richte dir oben die Stube zum Studiren ein und du schreibst Bücher – du hast ja ohnedies Theil an unserem Hause – dein Vater hätte nicht Ursach gehabt, sich so abzuhärmen – er hat ein paar tausend Thälerchen hinterlassen, die auf diesem Gute eingetragen stehen – sie gehören dir, genieße sie mit uns und bleibe hier.« So ermannte sich Aennchen mit zitternder Stimme zu reden; aber als sie es gesprochen, erschrak sie vor dem, was sie gesagt. Sie fühlte, daß sie unglücklich sein mußte, so lange sie in seiner Nähe weilte.
»Anna!« rief er in einem leidenschaftlichen Accente, wie er in diesem friedlichen Hause noch nicht gehört war. »Anna! du kannst mir verzeihen?«
»O still, still! Ich habe dir nie gezürnt.«
»Und du liebst mich noch? Anna, nicht wahr, du liebst mich noch?«
»Ja, Ernst, ich war dir immer gut«, sagte sie mit einer Stimme, die von Thränen erstickt wurde. Er aber kannte nicht dieses herzliche Gutsein in sich ruhender Liebe; er kannte nur heroische Leidenschaft, das ganze Dasein aus den Fugen reißende Excentricität. Mit der im Schmerze wühlenden Wollust seines kranken Herzens rief er aus: »Ja Anna, ich weiß es, du mußt mich liehen. Glaube mir, erst jetzt, wo du nicht mein sein kannst, erst jetzt seh' ich ein, welches Glück ich in dir verloren. wenn ich dich auch unglücklich gemacht habe, Anna, von meinem Elend hast du keine Ahnung!«
Schluchzend barg sie ihr Gesicht in den Händen. Sie hätte aufschreien mögen vor fürchterlichem Weh; all ihr unterdrückter Liebesschmerz wurde plötzlich mit nie gekannter Gewalt in ihrem Herzen lebendig. Sie hätte sterben mögen vor Angst; denn sie wußte nicht, wie sie jetzt sich wieder in das Leben finden werde. Sie reichte Ernst, der vor ihr niedergekniet war, die Hand und sah ihn mit flehendem Auge an: sie wollte ihn bitten, ihre Ruhe nicht zu stören, den Frieden, den sie mühsam sich erkämpft, nicht umsonst zu vernichten. Er verstand diese Mienen anders, bedeckte die Hand mit glühenden Küssen, barg sein Haupt in ihrem Schooße und tobte den Schmerz, daß er sich in dem stillen Glücke ihres Besitzes nicht einzufriedigen vermochte, in heftigen Liebesbezeugungen aus.
Anna wollte sich losreißen, aber ein Blick von ihm, der sie zurückversetzte in die heiligen Glückseligkeitsschauer der ersten Jugendliebe, lähmte ihren Willen. Ernst's fieberisch gestimmte Seele war außer sich in halbbewußtlosen Wahnsinn gerathen. Er zog die Widerstandslose in seine Arme, um sie auf die Lippen zu küssen. Da bei dieser Umarmung, die, in der Manier jener pathetisch liederlichen Orgien, kühner war, als sie es je ihrem Gatten gestattet hatte, erwachte ihr besseres Bewußtsein wieder in ihr. Sie stieß ihn zurück, raffte sich auf, und – war für immer von ihm befreit. Die Liebe, die sie oft für ihn nicht unterdrücken konnte, hatte sie mit diesem Momente überwunden. Mit ganzem, frohstem Herzen gehörte sie ihrem Gatten an.
Was hatte er gethan? – der Wüstling! Verdiente er Glück, der an fremdem mit frevelhafter Hand rüttelte?
Einsam saß er aus seinem Zimmer. Anna graute es vor seiner Nähe; sie rief ihn nicht zum Abendbrote und sagte ihrem Manne, Ernst sei nicht wohl. Ernst wagte es nicht hinabzugehen; er hatte nicht den Muth, ihr vor die Augen zu treten. Mit seinen Gedanken allein, war er unglücklicher denn je: er verzweifelte heute nicht an seinem Schicksal, er verzweifelte an sich selbst. Ein erbärmlicher Mensch war er geworden. Fluch brachte er, wohin er kam. Um glücklich zu werden, mußte er sich selber entfliehen.
Angstvoll, wie ein Schulknabe in die Kammer gesperrt, lauschte er, ob keine Tritte sich seiner Lektüre näherten. Er hörte, wie es stiller und stiller im Hause wurde. Endlich war Alles zur Ruhe. Da öffnete er leise sein Fenster. Den Wanderstab warf er hinab. Den Hut auf dem Kopfe stieg er hinaus auf den Rand des Daches, auf den Gartenzaun, dann mit einem Sprunge hinab war er im Freien und nun – fort, fort, in die weite Welt!
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