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Als Ernst an Schulzens Klingel zog, hörte er zur Clavierbegleitung in getragenen Tönen einen Choral singen. Als Juste ihn in das Zimmer einläßt, verstummt Delphinens Gesang; das Clavierspiel leitet sie in raschem Uebergange in ein anderes, rauschendes Musikstück über und stürmt heftig über die Tasten, um seinen Eintritt zu übertönen. Es war eine Stelle aus einer Beethovenschen Sonate. Ernst folgte ihr in seiner Stimmung, wie sie durch alle Octaven auf und nieder stürmte, hoch hinauf fliegend, als wäre es die reine Seligkeit des Himmels, die sie suche, und wieder tief hinunter wühlend, als reiche, ihr Grausen auszudrücken, die Tiefe der Töne nicht aus. Auch Ernst überkam das Grausen. So hatte er nicht erwartet empfangen zu werden. Mit schmerzender Gewalt hatte er aus seiner Sehnsucht nach dauernder, wahrer Liebe sich zu augenblicklicher Genußsucht gezwungen. Und nun – warum wollte sie ihn nicht bemerken? War sie schüchtern? War sie empört? Die Angst, sie verkannt, verletzt zu haben, drohte alle aufgezwungene Frivolität in ihm wieder hinzuschmelzen in die kindlich zärtliche Anbetung der ersten Liebe, Angst und Spannung drängten ihm beklemmend das Blut zum Herzen. Um die Situation zu stören und sich bemerklich zu machen, that er einige Schritte vorwärts und trat hinter sie an das Fenster, die Stirn an die Scheiben lehnend. Sie aber hörte ihn noch nicht; nur stärker schlug sie an, voller griff sie die Accorde, unablässiger hob sie das Pedal. Die längere Zögerung, die ergreifendere Musik steigern seine Beklemmung, – es ist für das reine Herz ein so schwerer Schritt von der innigsten Zärtlichkeit zur letzten Vertraulichkeit! Plötzlich bemerkte er, daß Delphine, ohne das Spiel zu unterbrechen, schnell den Kopf wandte und einen raschen Blick ihm zuwarf, dessen Aengstlichkeit ihm auch in der Dämmerung nicht entging. Bald schlug sie andere Stimmungen an. Sie ließ die gewaltigen Accorde Beethoven's verklingen in schmelzende Melodien. Sie spielte Lieder ohne Worte, in denen ihre Seele bald in süßer Wehmuth ihre Niederlage zu beklagen, bald jauchzend den Sieg der Freiheit zu begrüßen schien. Ernst's Herz wurde leichter; es war ihm, als trete sie näher an ihn heran. Da mit einem male brach sie die Melodien ab durch ein paar tact- und harmonielose Schläge, indem sie die Finger blindlings auf die Tasten warf, und dann ihr Gesicht in den Händen barg. So sah Ernst sie dasitzen, die herrliche, liebreizende Gestalt, das Haupt gebeugt wie eine Lilienblüthe, stumm und unbeweglich wie ein Marmorbild. Er that einen Schritt vorwärts und stand dicht vor ihr, da hob sich ihr Busen, er hörte sie seufzen, schluchzen; dann war sie wieder still, still wie ein Bild; aber es mußte ein heißes, heftiges Leben in diesem Bilde wohnen, und eine Thräne verrieth es, die zwischen den schlanken Fingern hindurch entschlüpft war und an dem bloßen Arme sanft hinabrollte.
Ernst schrak zusammen vor dieser Frauenthräne, die er verursacht; er war einen Augenblick rathlos, aber er nahm alle Kraft wieder zusammen. Er zwang sich, aus sich heraus und dem Leben entgegen zu gehen, es werde, was da wolle. »Um des Himmels willen, Delphine, was ist Ihnen?« rief er aus, indem er ihren Arm berührte.
»Ernst!« sagte sie, indem sie, das Gesicht aufdeckend, heiter aufsprang, unschuldig lachend, wie das reinste Kind, die letzte Thräne in den blinzelnden Augenwimpern zerpressend. So trat sie vor ihn und reichte ihm die Hand und sagte: »Guten Abend!« und sah ihn an mit einem Blicke, der ruhig und sicher sein sollte, aber als er sein Auge traf, schüchtern und verlegen zurücksank; da sie sich von neuem zwingen wollte, ihn unbefangen anzusehen, traten ihr wieder die hellen Thränen zwischen die Wimpern.
Ihr Wesen war ihm unbegreiflich; aber er fühlte sich im Leben und gab sich seinem Zuge entschlossen hin. Er wagte es, ihre Taille zu umschlingen, sie bei süßen Namen zu nennen und dicht an sich heran zu ziehen. Mit der andern Hand faßte er ihre beiden Hände, drückte sie an ihren eigenen Busen und hielt sie so in seinen Armen, ganz in seiner Macht gefesselt. Zitternd beugte sie ihr Haupt nieder, sodaß er ihr nicht ins Gesicht schauen konnte. Als er sie aber heftiger küßte und an seine Brust drückte, rief sie schluchzend aus, in seinen Armen zusammensinkend: »Ach, mein Gott, mein Gott, wozu das Alles? Was soll aus uns werden?«
Durch diese Frage wurde in dem Denker der Schmerz seines ganzen Daseins geweckt, den er mit Gewalt bei ihr vergessen wollte. Die Hast, mit der der Verzweifelnde sich selbst zu vergessen sucht, gab ihm die Keckheit, den großen Fortschritt in der Vertraulichkeit zu thun, der ihm bisher so unendlich schwer angekommen: sie mit »du« anzureden. »Was aus uns werden soll? Um Alles in der Welt, Delphine, laß uns doch daran nicht denken! O, laß uns einen einzigen Augenblick gar nicht denken, nur leben, nur leben!«
»Was haben wir denn zu leben? Wir lieben uns so, wir sind für einander geschaffen; aber wir haben uns nur gefunden, um uns zu trennen. Wir haben nichts mehr zu leben.« So erwiderte sie auf seine hastigen Worte mit tiefer, tonloser Stimme, ohne ihn anzusehen, ohne eine Zärtlichkeit ihm zu bezeigen.
»Wir haben diesen und jeden Augenblick noch zu leben. Du bist ja mein und ich bin dein. Was fehlt uns noch? Was klagst du noch?« So drang er in sie.
Ihre Mienen wurden noch finsterer; das Haupt, unwillkürlich bebend nach den Pulsschlägen des Herzens, wandte sie ab, um es der Sphäre seiner Umarmung zu entziehen. »Still, still!« bat sie ihn. »Nur meinen letzten Trost rauben Sie mir. Jetzt ist mir auch der Tod nicht mehr süß. Jetzt vermag ich auch nicht mehr zu sterben.«
Dieses Geständniß, daß es ihr schwer sei, gegen ihn streng zu bleiben, gab ihm einen Muth, den er sich kaum zugetraut hätte. »Aber theure, süße Delphine, wie kannst du ans Sterben jetzt denken? Der Augenblick ist ja unser. Laß uns seinen Werth genießen, glühend heiß genießen!« Er überschüttete sie mit den stürmischen Zärtlichkeiten, die sie überzeugen mußten, daß es sich handelte um den höchsten Vollgenuß der Liebe.
»Ein Messer stoß mir lieber in das Herz, als so zu sprechen. So hab' ich dich mir nicht gedacht. Um meiner Seele willen, sprich nicht so zu mir. Ich kann nun nicht mehr leben ohne dich. Ernst, mein Geliebter, laß uns glücklich sein im Tode, sterben mit einander, untergehen in dem Meere.« – Sie hatte sich aufgerafft, ihre Arme befreit und sich mit beiden Händen an seinen Schultern angeklammert. Ihr Gesicht war krankhaft blaß und wurde bisweilen von einem Zucken durchbebt, welches den Krampf verrieth, mit dem ihre Natur kämpfen mußte. Sie blickte ihn an mit Augen, weit geöffnet, geisterhaft, fast wahnsinnig, denen er es ansah, daß sie um ihr Leben rang.
Ernst schauderte vor der Größe dieser Leidenschaft, um ihret- und um seinetwillen. Das war keine Coketterie. So hatte er nicht geglaubt von diesem Mädchen geliebt zu werden, und nicht, so sie lieben zu müssen. Er hatte sich nur gezwungen, frivol zu sein; in Wahrheit war er die Ehrlichkeit selbst; und jetzt mußte er sich schämen, mit so kleinlicher Lüsternheit an diese große Seele herangetreten zu sein. Und Cesar? Und Louis? Und jene Nacht? – mußte er dann wieder denken. Er fühlte sich am Rande seines Fassungsvermögens. Die Verzweiflung, die er in ihren Zügen las, theilte sich auch ihm mit; sein Herz war in der Leidenschaft der Liebe zu ihr hin-, und in der heiligen Scheu vor der Weiblichkeit von ihr fortgerissen. Er befand sich, von Dunkelheit umgeben, in einer fremden, mährchenhaft unverständlichen Welt und konnte rathlos keinen Schritt wagen, weder vor- noch rückwärts. Kein Wort weiter hatte er den Muth zu Delphine zu sprechen; die Ehrlichkeit der ersten Liebe fürchtet, sich an ihr zu versündigen. Rathlos, verzweifelt entließ er sie aus seinen Armen. Sie sank ihm gegenüber auf das Sopha nieder.
»Ist es denn möglich?« sagte er vor sich hin, mit durchdringendem Blick sie anstarrend. »Nein, nein!« rief er aus, und plötzlich war es ihm, als fiele erlösender Tag in seine qualvolle Dunkelheit. Der Verdacht stieg in ihm auf: Wenn Louis dich betrogen hätte! Möglich war es. Die Dunkelheit bei jenem Abenteuer, hatte ihm nichts sehen lassen, und was er gefühlt, – konnten diese vor Empfindung erblassenden Lippen die schwelgerischen Küsse jener Nacht verschwendet haben? »Nein, nein! Es ist nicht möglich!« rief er aus, erschreckend vor dem Uebermaße des Glückes zugleich und der Schändlichkeit, das ihm plötzlich aufging. Mit rascher Zuversicht ergriff er Delphinens Hand und frug sie: »Nicht wahr, Delphine, es ist nicht möglich?«
»Was ist Ihnen?« frug sie erstaunt. Ehe er die Anstrengung nöthig hatte, sich zu sammeln, trat die Tante herein, und mit ihrer kreischenden Stimme, die immer so laut schrie, als wären alle Leute so taub wie sie selbst, bat sie den werthen Gast, an ihrem frugalen Abendessen, Pellkartoffeln mit Hering, Theil zu nehmen.
Ernst war dadurch aufs empfindlichste verletzt; er konnte mit Delphine unmöglich in einer Sphäre zusammen sein, wo es Pellkartoffeln und Hering gab. Er brach auf. Am Ausgange frug er Delphine: »Wann können wir uns wiedersehen? Morgen?«
»Morgen nicht! Mein Onkel ist morgen zu Hause. Uebermorgen!« So sagte sie und sah ihn an mit einem freundlichen, offenen Blicke, in dem keine Ahnung von falsch zu lesen war. Als Ernst sie aber scharf anblickte, zuckten ihre Augen.
Er ging. Er kam den andern Abend wieder und stand auf seinem Beobachtungsposten hinter dem Brunnen. Der rechte Onkel kam auch diesmal nicht. Aber es kam nicht Onkel Cesar, sondern Onkel Louis.
Ernst gab seinen Verdacht auf und meinte nun Alles wieder von ihr glauben zu können, was er schon nicht mehr zu glauben vermocht hatte.
Horn hatte zum zweiten mal feinste Toilette gemacht. Heute traf er Delphine zu Hause. Er fand sie vor dem Flügel sitzend, das Gesicht auf den Notenheften ruhend, bleicher als sonst, mit ihrem herzlosen, bösen Ausdruck in den Mienen. Er war betroffen, sie so zu finden; früher, im Anfang ihrer Bekanntschaft, war es nichts Ungewöhnliches, wenn sie ihn in solcher Erscheinung empfing; aber jetzt glaubte er doch, ihr alle Grillen von Lebensunmuth und Todessehnsucht ausgeredet zu haben. Als Delphine ihn bemerkte, schrak sie zusammen: »Ach, Sie sind es!«
»Erschrickst du vor mir, Kind?« frug er sanft, die Hand ihr streichelnd. Er redete sie gewöhnlich mit »du« an, während sie das fremdere »Sie« noch immer beibehielt.
»Nein. Vor Ihnen nicht. Vor mir selber.«
»Vor Ihnen! Ihnen! Delphine, was soll das ›Sie‹, was soll das förmliche, fremde Wesen zwischen zwei Menschen, so vertraut wie wir. Wir stehen neben einander auf einer Höhe, wohin die Sitten der Gesellschaft nicht reichen. Es ist Zeit, daß wir nun ganz eins werden. Bald wird nichts mehr zwischen uns stehen, wir beide allein frei über dieser Welt, du gegen du.«
Er bemühte sich vom Herzen ihr zum Herzen zu sprechen; aber seine Stimme, an seinen steten Sarkasmus erinnernd, klang zudringlich. Erstaunt, was er wolle, sah Delphine ihn an; er blickte sie zuversichtlich an und sein Blick, heute glänzend, erschien dreist und lüstern. Sie senkte die Augen zur Erde.
»Laß uns ein ernstes Wort mit einander reden,« fuhr er mit bestimmtem Tone fort, »und laß jetzt Alles bei Seite, was unsere Ueberlegung stören könnte, alle Launen und Verstimmungen. Wir wollen jetzt über unsere ganze Zukunft entscheiden. Komm, setze dich zu mir!« Er zog sie an ihrer zitternden Hand willenlos neben sich auf das Sopha. Sein Benehmen erhielt durch die Schwere des Momentes eine Strenge und wollte die Liebenswürdigkeit nicht erreichen, die er anstrebte.
Mit kurzen Worten setzte er ihr nun seinen Plan auseinander. Er sagte ihr: »Du siehst heute wieder sehr leidend aus. Diese miserable Umgebung ist Schuld; du mußt dich herausreißen in idealere Kreise, wie sie den Ansprüchen deines Geistes genügen. Du mußt deinen längst gehegten Entschluß ausführen, du mußt auf das Theater gehen. Ich werde es ausführen. Alle Maßregeln sind bereits getroffen. Ein Hamburger und ein Wiener Theater bieten dir Debüts und Engagement an. In acht Tagen können wir die Reise antreten. Es kommt nur darauf an, für welches der beiden Theater du dich entscheiden willst. Soll ich dich nach Wien führen? Ich würde Wien vorziehen, deine Vorgängerin dort kenne ich; sie ist leicht auszustechen. Und dann, wenn du mir erlaubst, daß ich auch einmal an mich denke, mich würde der literarische Verkehr, der mich in Hamburg nicht anzieht, nach Wien locken. Also willst du nach Wien?«
Delphine antwortete nicht. Sie hatte ihre Hände in den seinigen gelassen, ihr Körper aber lehnte sich zurück und, ihr Gesicht halb abgewendet, blickte sie mit tief eingesunkenen Augen starr vor sich auf den Boden.
Horn sah sie fragend groß an. »Nun, liebes Kind, antworte doch, willst du nach Wien?« frug er, sich zur Milde zwingend.
Ohne ihn anzusehen, schüttelte sie kaum merklich mit dem Kopfe.
»Also nach Hamburg willst du?«
Delphine schüttelte abermals und merklicher mit dem Kopfe.
»Nun, wenn du nicht nach Wien willst und nicht nach Hamburg, wohin willst du denn?« fuhr Horn auf; aber sich schnell besinnend, zwang er sich zu zärtlichem Humor: »Aber warum antwortest du nicht, du – du kleines Trotzköpfchen? Hat ein vernünftiges Mädchen wie du auch Capricen? O, du launenhafter Engel! Und doch steht dir auch das so reizend, daß ich nicht weiß, in was ich mich mehr verlieben möchte, in deine Engelhaftigkeit oder deine Launenhaftigkeit. Aber nun vernünftig, Kind! Willst du nach Wien oder nach Hamburg?«
Jetzt brach das Mädchen in Weinen aus; sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und schluchzte laut. Der Doctor schloß sie in seine Arme, was sie willig zuließ, und, mit Besorgniß zu ihr kosend, suchte er ihr Trost einzureden und zu erfahren, was ihr fehle. Aber er konnte kein Wort aus ihr herausbringen. Sie weinte nur heftiger und gab ihm keine andere Antwort, als das Schütteln des Kopfes. Endlich verlor er die Geduld; er sprach zu ihr mit einem Ernste, in dem er nur mit Mühe häßliche Heftigkeit verbergen konnte. »Delphine, sei keine Närrin! Wir haben Ernstes zu besprechen. Hast du einen Grund zu weinen, so sag ihn mir, und ich will dich trösten, und, wenn ich's nicht kann, will ich mit dir weinen. Hast du aber keinen Grund, nun, dann freilich kannst du ihn mir nicht sagen, aber dann hast du auch nicht zu weinen.«
»Mein Gott! Mein Gott!« raffte Delphine sich auf und sprach mit einer von Thränen erstickten Stimme: »Was bin ich unglücklich! Herr Doctor, ich kann es ja nicht; um meiner Seele Heil, ich kann es ja nicht!«
»Was willst du wieder mit deiner Seele Heil?« sprach Horn mit barschem Tone, in dem sein Unwille die erkünstelte Glätte durchbrach.
»Ich hab' es ja meiner seligen Mutter geschworen. Ach, meine heilige, selige Mutter!«
»Hast du diese Thorheiten noch nicht vergessen? Um deiner Seele Heil willst du durchaus verrückt sein? Ist es das, wozu all mein Reden es gebracht hat?«
»Ach, wenn Sie wüßten, wie sie diese Nacht mir erschien und mir winkte, zu sich hinauf. Ja, ich muß zu ihr, fort aus diesem Leben der ewigen Verzweiflung. Fort! Fort!« Es war wirkliche Verzweiflung, die sich in ihrem Wesen malte. Krampfhaft rang sie die Hände im Schooße; die Augen blickten verstört nach oben; nur zwei Thränen hingen, wie vom Schreck erstarrt, an den versiegten Augenwinkeln.
»Gegen Unsinn kämpfen selbst Götter vergebens«, höhnte Horn sie, und ging in großen Schritten durch die Stube. Er wollte die Sache als »Spaß« nehmen, und lachte auf. Aber er mußte selbst vor seinem Lachen erschrecken; er blickte sich mit vollster Aufrichtigkeit in den Grund seines Herzens, und sah, daß es sich um seine Liebe, um sein Leben handelte. Er wurde still und blickte noch immer mit wehmüthigem Ernst in sein Inneres. Das krampfhafte Schluchzen Delphinens weckte ihn aus seinem Nachdenken. Er trat an sie heran und sprach mit milder, bebender Stimme: »Ich frage dich noch einmal, Delphine, liebe Delphine, willst du jetzt vernünftig sein, willst du jetzt reden?«
»Ich kann nicht reden, wie Sie wollen, und wenn ich rede, wie ich muß, nennen Sie es unvernünftig.«
Horn krallte die Fäuste zusammen; er war jetzt wüthend, ihr gegenüber weich geworden zu sein. Die Verzweiflung seines Innern sprach sich auf seinen Zügen in gehässiger Bosheit aus; seine Stimme war vor Wuth fast tonlos. »Nun«, sagte er, »wenn du dich selbst für eine Närrin erklärst, meinetwegen! Aber, ich sage dir, wenn ihr Weiber verrückt seid, so ist das lächerlich; doch wehe euch, wenn ihr es so weit treibt, daß wir Männer den Verstand darüber verlieren!«
Damit nahm er seinen Hut und ging so eilig durch die Küche bei der Tante vorbei, daß er nicht hörte, wie diese ungefragt ihm über ihren Rheumatismus klagte.
Delphine kniete betend an ihrem Arbeitstische vor dem Bilde ihrer Mutter nieder und seufzte: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
Doctor Horn, zu Hause angekommen, maltraitirte seinen Bedienten. Reitfrack, Weste und Cravatte warf er mitten in die Stube, und als Jean nicht bald genug mit dem Schlafrock bereit war, wurde er geschimpft. Als der Spiritus an der Kaffeemaschine nicht anbrennen wollte, erhielt er eine Ohrfeige und wurde hinausgejagt. Nach dreimal längeren Bemühungen hatte der Herr allein den Spiritus in Brand gesetzt und überließ sich dann seinen Gedanken.
Im ersten Augenblick war er wüthend, daß er die Fäuste ballte und mit den Zähnen knirschte. Dann wurde er seiner selbst mächtig und sagte sich: »Worüber willst du denn rasen? Pah, Narrheit! Die ganze Liebesgeschichte war ja nur ein Spaß! Und doch –! Nun, was: und doch –? Ja wohl: und doch –! Delphine – ein Spaß? Es will mir gar nicht spaßhaft zu Muthe sein. Delphine! Delphine! – Pah, Narrheit! Narrheit! – Nein – O, ich kann nicht Delphine denken und nicht Spaß! Nicht, nichts! Ich mag gar nichts mehr denken.«
Er legte sich auf das Sopha. Er fühlte sich todtmüde an Geist und Körper. Die Ermattung in Folge monatlanger Anstrengung, das Leiden seines Körpers, das er gewaltsam unterdrückt hatte, brachen jetzt auf ihn ein. Er lag da, nicht schlafend und nicht wachend; er dachte nicht, aber er war auch nicht bewußtlos, denn er wußte es, daß er nicht dachte. Unwillkürlich starrte er in die flackernde Spiritusflamme. Nach einer Weile verlöschte sie plötzlich. An ihrem Verlöschen erwachte sein volles Nachdenken wieder.
Er sprang auf, schenkte den schwarzen Kaffee in eine Tasse und trank ihn, so heiß er konnte. »Ich hab's! So fang' ich's an! Sie will Schwärmerei, Romantik, Phantasterei: Eh bien! Auch damit kann ich dienen. Wohl auf denn, sattle mir den Hippogryphen zum Ritt ins schöne, romantische Land!« So sagte er, schmunzelnd. Er suchte wieder ganz sich aufzuraffen. Der schwarze Kaffee war ihm nicht stark genug; er goß Rum dazu, und als er den Kaffee ausgetrunken und noch der Stärkung bedurfte, trank er den Rum ohne Kaffee. Nun war er wieder ganz er selbst.
Er setzte sich auf den Drehschemel und schrieb an Delphine.
»Haben wir lange genug Theater gespielt? Ein hübsches Stück! Schöne, schöne Scenen! Du hast superbe gespielt, so einstudirt und so natürlich, daß selbst ich alter Theaterkenner vergaß, daß du spieltest. O, ich war schon so glücklich, einmal in diesem Leben aus der Comödie herauszukommen, endlich eine Seele zu finden, bei der ich Wahrheit um Wahrheit eintauschen konnte; ich warf die verhaßte Maske des Egoisten von mir, gab mich hin dem Zuge meines Herzens und opferte der Wahrheit mein ganzes Leben, das mir jetzt nur Comödie schien. Und nun – ich bin der Betrogene, ich allein bin aus der Rolle gefallen, und rings um mich nichts als Comödie, auch die Wahrheit nur Comödie! Ja, du bist eine große Künstlerin, aber deine Kunst ist eine schlechte Kunst, du heuchlerische Cokette, du herzlose Schauspielerin! Und doch – ist es denn möglich? Diese Mienen, diese Blicke, diese Lieder, diese Thränen, das Alles soll Comödie sein? Ich kann es wohl begreifen, daß man spielt und cokettirt. Wenn du Anregung für deine künstlerische Seele brauchst, nun immerhin, gib dich einem Liebesabenteuer, einem Tändeln der Herzen hin! Aber warum so thun, als könntest du gar nicht anders lieben, denn ewig? Warum verachtest du die flüchtigen Reize und mußt gleich ein Leben auf das Spiel setzen? Bei deinen schwermüthigen Blicken, deinen hinreißend klagenden Liedern, – mußte nicht mein ganzes Wesen dir gehören? Nur dich wollte ich glücklich wissen; ich dachte nur an deine Zukunft; ich warf für dich mein Amt, mein Vermögen von mir, und jetzt –! Mir bleiben die Gedanken stehen. Ich kann dich nicht begreifen. Ich bin sonst stolz auf meinen Verstand, aber hier gebe ich meinen Stolz auf und gestehe: mein Verstand reicht nicht aus, das zu begreifen.
Ich kann mir wohl Eins denken, einen Grund, warum du zauderst, ganz mir zu gehören: Ich bin dein nicht ganz würdig. Ich weiß es wohl, ich bin nicht so, wie ich sein sollte, nicht so groß, so edel, so rein. Aber, bei Gott, was mich verdorben hat, ist der Schein, und für den Schein bin ich's nur. In mir und in Wahrheit bin ich ganz so, wie du dir nur die Seele des Geliebten denken kannst. Ich reichte dem Teufel der Lüge nur eine Hand hin und er nahm mich ganz, mit Leib und Seele. Ich war einmal falsch, es war das erste mal in meinem Leben, als ich mich mit meiner Frau verlobte, und seitdem hab' ich's immer sein müssen und wurde fortgedrängt bis zur äußersten Gesinnungslosigkeit und Niederträchtigkeit.
Und nun komme ich zu dir, Delphine, und flehe dich: schenke mir dich, und mit dir mich selbst; gib mir deine Liebe und mit ihr Muth und Kraft, zu sein, was ich sein möchte, wahr, edel, innig, rein, – glücklich. O, wenn du mir in das Herz schaust, mit deinen Blicken deine Seele hineinleuchtet in meine Seele, dann werden all die Wolken und Nebel verscheucht, dann fliehen die bösen Geister, die finster darin hausen, die reinen Engel der Wahrheit und Liebe steigen auf und nieder und suchen alle ihre Göttin, um zu dir zu beten und dir zu opfern die schönsten Keime meines Lebens, das gediegene Gold meines Herzens, das sie und nur sie herausholen aus dem tiefen, dunkeln Schacht meiner Seele, in den kein Auge noch gesehen, und den ich selbst noch nicht ergründet, nun ich sehe, wie unendlich tief er sich öffnet vor deinen Blicken der Liebe.
Nein, es ist ja nicht anders möglich, du mußt mich lieben. Das Herz muß ja sein Leben, die Erde ihre Sonne haben! Ich weiß es, ich habe gar keinen Grund, dir zu zürnen; irgend ein äußerer Zufall, ein Unwohlsein, eine Verstimmung ließ mich Thoren an dir irre werden. Ich komme morgen wieder zu dir, und ich weiß, das Alles ist vorbei und unsere Liebe ewig ungestört!
Adieu, bis morgen Abend! Gute, gute Nacht!«
»Bravo! Bravo! Was in dem Horn Alles steckt! Selbst lyrisches Talent!« So zwang er sich, die Hände reibend, zur Frivolität. Unwillkürlich aber wurden die Mienen seines Satyrgesichtes nachdenklich und versanken seine Blicke düster in der Flamme seiner Studirlampe. Endlich bebten seine Lippen: »Doch verteufelt viel Wahrheit in der Comödie! Weiß selber kaum, wo die Wahrheit aufhört und die Comödie anfängt. Und wenn Alles das Wahrheit wäre, Alles –!« Er warf sich in seinen Lehnstuhl zurück und blickte im Zimmer umher. Wie widerte ihn heute die wüste Ordnungslosigkeit darin an! Wie verhaßt waren ihm alle die Gegenstände, die seiner Frau gehörten und ihn an sein unwürdiges Verhältniß mahnten! Es ging ihm der Gedanke auf, welches Glück es sei, ein Haus zu besitzen, das er lieben könne, das er sorgfältig für sich und die Geliebte mit bequemen Geräthschaften und schmückenden Bildern einrichten könne, in dem jedes Plätzchen ihn an trauliche Stunden des Friedens und der Liebe erinnere und zu ewig neuen heimisch einlade. Er sehnte sich innerlichst nach ruhigem, dauerndem, häuslichem Glücke. Er holte das Portrait der Geliebten hervor, betrachtete es mit Erhebung; Thränen der Rührung traten ihm in die Augen. Er hatte so lange nicht geweint; es war ihm eine Wollust, gegen sich selbst aufrichtig, die Schmerzen ungehindert ausströmen zu lassen. »Schaff in mich ein reines Herz!« Dieser Bibelspruch tauchte als eine Erinnerung aus seiner Kindheit in ihm auf; er betete ihn, nicht zu Gott, – zu Delphine, zu sich selbst. Erbaut raffte er sich auf. Ernste Weihe ruhte ungewohnt auf seinen Zügen. Er ging, – heute nicht mehr zum Pharao, er ging an die Arbeit, an die letzte Durchsicht seines Werkes. Früh begab er sich zur Ruhe; er wollte seinen Körper wieder stärken und sich des dissoluten Lebens zur Ordnung entwöhnen.
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