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Als Marlise noch klein war – eben erst hatte sie gelernt, die Wundertieren ihrer Märchenbücher selbständig zu durchwandern –, sagte sie eines Tages: »Onkel Joseph, wenn man doch einmal zaubern könnte! Oder man träfe wirklich das gute graue Männlein, das einem drei Wünsche gewährt!«
»Was würdest du dir wünschen, Marlise?« fragte Onkel Joseph.
Marlise sah ihn mit großen Augen an, fast verblüfft. Dann blickte sie an ihrem zierlichen Kleidchen nieder, blickte um sich, über den sonneerfüllten, blühenden Garten hin und zurück auf ihr Heimathaus, das weiß, friedvoll und schön aus den Bäumen schimmerte. Sie schaute in das weite, grüne Land hinaus, über die sanften Hügel und nach der hochaufsteigenden, walddunklen Wand des Gebirges. Und dann schüttelte sie den Kopf und lachte, ein helles, leichtbeschwingtes Lachen, das aus reinster Herzensfröhlichkeit aufstieg. »Onkel Joseph, ich weiß nichts! Was sollte ich mir wünschen? Ich habe ja alles!«
So war es damals, und so blieb es lange. Marlise lernte wohl das Wünschen, aber es war kein starkes, eigensinniges Verlangen aus darbender Seele, sondern mehr liebliches Gedankenspiel. Daß Mutter ein wenig frischer und lustiger würde, ja, das hätte man sich wohl wünschen mögen; aber liebte man Mutter nicht gerade um ihrer wehmütigen Verletzlichkeit willen am meisten? Und wenn man sich einmal eine Reise in die Stadt und einen Theaterbesuch wünschte, ein Buch, ein Bild oder daß der Winter bald ein Ende nehmen möge, so waren das alles harmlose, verständige, sozusagen vorschriftsmäßige Wünsche, deren Erfüllung mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten stand, wenn man ihnen nur Zeit ließ. Erst später, als Marlise ihr dunkles Seidenhaar schon im Nacken aufgesteckt trug, wollte sich zuweilen etwas in ihr regen wie Wünsche, aber die waren seltsam gegenstandslos und wußten eigentlich gar nicht, was sie wollten.
Spät abends im Fenster liegen und über die dunklen, reglosen Gartengebüsche hinaufschauen in das endlose Sternengeflimmer, bis ein leiser, süßer Schwindel einen zu wiegen begann wie auf ungeheurer Schaukel –! Oder im ersten Frühling die Waldwege emporschlendern, wo die Bergwasser überquellend zu Tal lärmten und der Duft der befreiten Erde zwischen den kahlen Bäumen webte –! Dann war es, daß Marlise das neue, dunkle Verlangen spürte, das im Grunde nur ein Wünschen – nach dem Wünschen war. O ja, das müßte schön sein: eine Sehnsucht zu empfinden, groß, heftig und so weitausgreifend wie der junge, helle Blick, der über die sanften Heimathügel hinwegschweifte bis zu dem nebelhaft zerklüfteten Gewirr fremder Berge, zu glänzend weißen, traumhaften Schneegipfeln und bis in den blauen Duft selig grenzenloser Ferne hinaus. –
Marlise trat aus dem Gartenpförtchen des Beurenbacher Pfarrhauses. Der Kopf summte ihr noch vom Geplauder und Lachen der jungen Mädchen, welche die Frau Pfarrer, die selber jung und lustig war, um ihren Kaffeetisch zu versammeln liebte.
Ein Aprilabend von leuchtender Klarheit war ausgegossen über die weitgeschwungenen Hügel, auf denen die Kirschbäume in lichten Scharen blühten. Überall duftete es nach Veilchen. Auf hohen Stellen saßen die Drosseln und sangen, als müßten sie eine unbändige Seligkeit aus ihren kleinen, schwarzen Leibern in den rosigen Himmel hinaufschreien.
Heitere Unruhe, wie am Vorabend eines Festes, strich durch die ländlichen Gassen von Beurenbach, um die sauberen, hellgetünchten Häuser, vor deren Türen gefegt war, über die Gärten, die voll Frühlingsblumen standen. Viele Kinder trieben sich schrill jubelnd im Freien umher. Es war der Frühling, den sie feierten, sonst nichts.
Marlise ging die Hauptstraße entlang, die Leute sahen ihr nach, sie lächelte und grüßte hierhin und dorthin, ohne sich bei irgend jemand aufzuhalten. Im Kurzwarenlädchen, wo sie Stickgarn für ihre Mutter einkaufte, wurde sie bedient, als sei ihre Anwesenheit für die Ladeninhaberin eine unschätzbare Ehre.
Mitten im Ort, wo das Wasser der Beura, in einem hochgefüllten Kanal abgeleitet, neben der Straße hinlief, war der Eingang zu den Webereiwerken Heinrich Stauffer. Alte Kastanien füllten den ersten Fabrikhof, hinter ihren Gezweigmassen waren die Gebäude der Industrieanlage fast verborgen, auch die hohe Esse aus schneeweißen Glasurziegeln ragte nur wie ein lichter Weiser über die Dächer des Städtchens, als wolle sie die heitere Schönheit der Landschaft ja nicht beeinträchtigen. Marlise winkte einem Herrn, der eben aus dem Fabriktor trat, freundlich zu.
»Guten Abend, Herr Niemeyer! Aber – es ist fast sieben Uhr, und Sie gehen jetzt erst nach Hause? Ich wette, Sie sind seit Stunden das einzige lebende Wesen in der Fabrik; gab es denn noch so viel zu tun?«
»Es muß wohl, Fräulein Marlise! Viel zu tun, – ja, das gibt es eigentlich immer –«
»Packen Sie doch Onkel Joseph ein bißchen mehr davon auf! Er hat doch Zeit, scheint mir –«
»Ihr Herr Onkel, – ach Gott, nein!« Niemeyer wehrte den Vorschlag mit nachsichtigem Lächeln ab. »Dem mag man doch nicht mit all dem Kleinkram kommen! Gute Nacht, Fräulein Marlise, – ja, ich danke Ihnen, – Empfehlung an die Frau Mutter, – wünsche guten Heimweg!« Der ältliche Mann beugte sich zärtlich ehrfurchtsvoll über die Hand der Achtzehnjährigen, als wolle er sie küssen.
Marlise ging weiter. Die letzten bescheidenen Anwesen blieben zurück, sie schlug den Fußweg ein, der den Wiesenhang hinaufstieg, sich durch ein in die Hügelfalte eingebettetes Wäldchen steiler emporwand und dann über freie Matte zu dem weißen Hause führte, das einsam, hoheitsvoll abgesondert, inmitten seiner Gartenwipfel am Fuße der dunkel aufragenden Bergwand lag. »Das Eck,« so hieß der Platz und das Haus; so war schon das verfallene Turmgemäuer genannt worden, das hier gestanden hatte, vielleicht ein Rest mittelalterlicher Befestigung, ehe Heinrich Stauffer den Grund erstand, den alten Steinhaufen abtragen und das weiße Haus an feiner Stelle erbauen ließ. Geld will ein Ansehen, und die Weberei brachte viel Geld: Heinrich Stauffer, dessen persönlichem Empfinden der nüchternste Backsteinwürfel Wand an Wand mit den Fabrikgebäuden als Behausung genügt hätte, hielt es für zweckmäßig, seinen Reichtum in einem stattlichen Wohnsitz, einer gediegenen und prächtigen Lebensführung zum Ausdruck zu bringen. So entstand das neue Eck. Daß Haus und Gartenanlage so besonders schön gerieten, war das Verdienst des tüchtigen Baumeisters, den Heinrich Stauffer bezahlen konnte. Über die Abgelegenheit des Platzes, zehn Minuten Weg von der Fabrik, hatte er bis an sein Lebensende geknurrt; doch war damals kein anderer vorteilhafter Bauplatz zu haben gewesen, auch war er der Verführung erlegen, die eine weite Aussicht auf alle starkgeistigen Menschen ausübt.
Nun war er lange tot. Und Joseph Stauffer, sein Sohn, der nach ihm Hausherr im Eck war, schätzte die Entfernung von der Weberei, der Stadt und allem lauten Getriebe als den höchsten Vorzug. Zu ihm sprachen das ausgebreitete Tal und die Berge, die Nähe des Waldes und die Wiesenweiten viel eindringlicher und vertrauter, als der Gründer, Mehrer und arbeitstolze Vertreter der Webereiwerke Heinrich Stauffer es je begriffen hätte. –
Marlise eilte ins Haus zu kommen, denn es war spät geworden, im Eßzimmer stand der Abendbrottisch gedeckt, aber Onkel und die Mutter saßen noch auf der Veranda. Die Mutter der Abendkühle wegen im Pelzmantel, aus dessen breitem, dunklen Kragen ihr Kopf unendlich zart auftauchte. Sie hatte die ewige Handarbeit weggelegt und sah mit dem verlorenen Blick, der ihr wesenseigen war, in den grünblassen, kristallreinen Himmel. Joseph Stauffer las die Zeitung. Seine Hände, die außerordentlich schön waren, hielten das Blatt mit jenem Ausdruck gelangweilter Unlust, der die Erledigung einer unangenehmes und im Grunde wertlosen Pflicht begleitet. Er sah mit einem hellen Lächeln auf, als seine Nichte in der Türöffnung stand.
»Da bist du, Marlise –«
»Ja, Onkel. Grüß dich Gott, mein Muttchen! Wird es dir hier auch nicht zu kalt? Es kommt doch frisch von der Wiese herauf!«
Frau Cilli Stauffer ließ sich von ihrer großen Tochter widerspruchslos ins Zimmer führen. Sie war es gewohnt, daß die anderen für sie sorgten. Dann saßen sie alle drei um den runden Eßtisch, auf dem das Lampenlicht, von dunkelgelber, zartgeflammter Seide umschirmt, anmutig in blankem Porzellan, Silber und Kristall widerschimmerte. Ein Kirschzweig stand in einer schlanken, grünen Glasvase.
»Nun, wie war's im Pfarrhaus?« fragte Frau Stauffer.
Marlise lächelte; sie kannte die Frage so genau, Mutters milden, guten Willen, der doch so wenig wahre Anteilnahme aufzubringen vermochte. Aber sie hätte nie anders als freundlich darauf geantwortet. »Recht nett, Muttchen; wie so etwas eben ist. Guter Kaffee und guter Kuchen, und die Frau Pfarrer herzlich und vergnügt wie immer. Ihr Fritzle fängt an zu laufen; er ist wirklich niedlich.«
»Und die jungen Mädchen? Waren alle da?«
»Natürlich; ganz Beurenbach und Umgegend zwischen fünfzehn und zwanzig.«
»Was habt ihr denn gemacht?«
»Erst ein bißchen gestickt und gehäkelt, zum So-tun, weißt du. Und dann hat Helene Winkler den Lehrplan der Frauenschule gezeigt, – sie geht nämlich zum Herbst nach Frankfurt, eben um die Frauenschule zu besuchen. Wir haben alles durchgelesen, und die anderen haben gestritten –«
»Frauenschule? –« fragte die Mutter unaufmerksam zurück.
»Ja. Und die kleine Christa Wild, die Tochter vom Postinspektor, geht nach Freiburg in ein Kinderheim, um die Säuglingspflege zu lernen. Schade! Sie ist ein liebes Ding, die kleine Christa –«
»Schade, daß sie fortgeht, oder zu schade für die Säuglingspflege?« fragte Onkel Joseph.
Marlise lachte. »Ach Onkel, du fragst immer so gründlich! Nein, – zu schade für die Säuglingspflege, das kann man doch nicht sagen –« Sie brach ab, von einer Unsicherheit verwirrt, grübelte einen Augenblick und griff dann leichtbeweglich nach einem anderen Gedanken. »Höre, ich traf Niemeyer: um sieben Uhr kam er erst aus der Fabrik! Was hat der alte Herr da so lange zu hocken, wo jeder Schreiber und jedes Arbeitsmädchen sich um vier Uhr aus dem Staube machen? Ist er überlastet?«
»Er ist so umständlich; packt sich zehnmal mehr auf als nötig ist. Ich begreife auch nicht, was er immer zu tun findet.«
»So mußt du eine Hilfe für ihn anstellen!«
Joseph Stauffer, der aufgestanden war, um sich eine Zigarette anzuzünden, lachte. »Ach, kleine Marlise, um was machst du dir Gedanken?« Er kam zurück und zauste sie neckend am Ohr. »Laß Koch die Fabrik, Marlise! Soll ich den öden Kram von Arbeitszeit, Überstunden, Angestelltensorgen auch hier vorfinden, in unserm heimlichen Eck?«
Sie blickte zu ihm aus, zuerst betroffen und mit nachdenklich vorgeschobener Lippe. Aber je länger sie in sein von Heiterkeit durchleuchtetes Gesicht sah, erhellte sich das ihre im gleichen Ausdruck. Sie vergaß, was sie hatte wissen wollen.
Frau Stauffer hatte nicht zugehört. Sie war noch blasser geworden, ihr Auge todmüde, wie erloschen. Leise erhob sie sich, nickte den anderen mechanisch einen Gruß zu und verließ das Zimmer. Sie ging zu jeder Jahreszeit sehr früh zu Bett, trotzdem sie stets nur wenige Nachtstunden wirklich schlief. Aber das Alleinsein im Dunkeln, das hemmungslose Versinken in ihren Gedanken, Erinnerungen, wachen Träumen war ihr zum Bedürfnis geworden, sie erhielt sich daran, seitdem Marlises Vater, der junge, glänzende Orlando Stauffer, gestorben war. Ein Dasein ohne Wirklichkeit war es, das sie führte; still, geduldig, in freundlicher Gleichgültigkeit den Ihren weder Last noch Stütze; wahrhaft lebendig in ihr nur noch der Schatten, den der vergötterte Tote in ihre Seele warf und den sie mit der ganzen Kraft der Zärtlichkeit, die ihr geblieben war, hütete und pflegte.
Marlise folgte der Mutter in ihr Schlafzimmer. Schon als kleines Mädchen – sie war bei ihres Vaters Tode erst sechsjährig – hatte sie die Gewohnheit angenommen, die Kissen in der Mutter Bett noch einmal aufzuschütteln, den Schlafrock, die Nachttischlampe, das Wasserglas zurechtzustellen, nachzusehen, ob die Fenster vorschriftsmäßig geöffnet oder geschlossen waren, ehe sie die Mutter zur Nacht verließ. Dann aber eilte sie leichtfüßig wieder treppab. Ihr Tag war noch nicht zu Ende.
Im Musikzimmer fand sie Onkel Joseph vor einem der riesigen Barockschränke sitzend, in deren abgrundtiefen Fächern die Musikliteratur von Palestrina bis Reger aufbewahrt lag. Die goldbraunen, mit bernsteinfarbenen Intarsienfiguren bedeckten Türen des einen standen weit geöffnet, und Joseph Stauffer hielt die Orchesterpartitur der Beethovenschen Pastorale auf den Knieen. Marlise kannte das; so machte er es immer. Er las Musik, las stundenlang, ehe er eine Viertelstunde spielte. Denn im Grunde liebte er das Klavier nicht, empfand es stets als unzulängliches, unbefriedigendes Ausdrucksmittel.
Sie hockte sich auf die Seitenlehne seines Stuhls, legte den Arm auf feine Schulter und las mit ihm; denn diese Art des Musikgenusses hatte er sie längst gelehrt. Einmal schob sie die Hand in die Noten, zeigte ihm mit ihrem schlanken, rosigen Finger eine Stelle, die sie besonders entzückte. Er nickte, völlig verstehend. Draußen in der blassen Abenddämmerung sang noch eine Drossel, sonst war alles still.
Joseph Stauffer schlug das letzte Blatt des Allegro ma non troppo um. Die »Szene am Bach« fesselte Marlise nicht mehr, sie stand auf und reckte sich. »Spiel ein bißchen!« bat sie, »heut ist mir, als möcht' ich auch etwas hören.«
Er schloß sofort das Buch. »Was –?« fragte er.
»Einerlei! Worauf du Lust hast.« Und sie ließ sich in den Stuhl sinken, den er eben verlassen hatte.
Er suchte ein Weilchen; dann ging er zum Flügel und begann die C-Dur-Sonate von Brahms.
Marlise hatte den Kopf in den aufgestützten Arm gebettet, sie lauschte mit ganzer Seele. Sie kannte jeden Ton, liebte ihn, ehe er da war und fühlte sich beglückt, wenn er erklang. Der erste Satz befeuerte sie mit einer unruhig stolzen Begeisterung, aber ihr Herz blühte auf in zartem Entzücken, als das Andante anhob.
»Verstohlen geht der Mond auf, –
Blau, blau Blümelein.«
Die süße, keusche Einfalt der Melodie wiegte sie auf silbernen Flügeln. Etwas flüsterte in ihr, kindlich unbewußt, kaum vernehmbar, wie »ich bin glücklich –«. Als die letzte, selig schwelgende Ausgestaltung des Themas sich aufschwang, die Gesangstimme in vollen, breiten Akkorden dahinrauschte, sah Marlise zu Onkel Joseph hinüber.
Sein schmaler, reingeschnittener Kopf, den die Klavierlampe hell beschien, war von liebevoller Mitarbeit ereignisreich belebt. Aus dem vollen, dunklen Haar, das kaum an den Schläfen ein wenig silbrigen Schimmer hatte, leuchtete die hohe, blasse Stirn; sie war zwischen den Brauen in einer kleinen, mühsamen Verkrampfung zusammengezogen, das gab dem Gesicht den Ausdruck einer leisen, langgewohnten Schmerzhaftigkeit.
Der Schluß des Andante pochte wie fallende Tautropfen, hauchte und verdämmerte –
Onkel Joseph begegnete Marlises Augen und lächelte. Dies Lächeln löste alles Schwere in seinen Zügen, feine schönen Zähne blitzten, man sah, daß sein Mund weich und jung war.
»Fein!« sagte Marlise. »Weißt du noch, Onkel, letzten Winter in Freiburg, der Brahmsabend –?«
Er nickte, er wußte genau. Sie sprachen noch weiter, erinnerten sich an dies und das; dann spielte er die Sonate zu Ende.
Als er das Notenbuch in den Schrank zurückgelegt hatte, trat er einen Augenblick ans Fenster. Es war dunkel draußen, aber ein geheimnisvolles Wachsein, ein Zittern und Dehnen schien in dem kahlen Geäst der Platanen umzugehen. Rein und kalt strömte die Nachtluft herein, sie roch nach feuchter Erde, nach Rinde, nach Baumknospen.
»Und du, Marlise?« fragte Onkel Joseph zurückkommend. »Sing ein wenig! Ich höre dich jetzt so selten.«
»Ach, – es geht nicht gut damit,« meinte sie, »die Mittellage bleibt tonlos, der Atem trägt nicht, das ärgert mich selber.«
Er bewegte den Kopf, als wollte er sagen: »was schadet das?«, und sie folgte ihm an den Flügel, sah in die Noten, die er auswählte, und stand fügsam neben ihm, während er die Einleitungstakte spielte. Dann sang sie. Ihre Stimme war nicht groß, aber sehr lieblich; unausgeglichen in der Fertigkeit, aber von sicherem musikalischen Instinkt geleitet.
Sie sang:
»Schließe mir die Augen beide
Mit den lieben Händen zu!
Geht doch alles, was ich leide,
Unter deiner Hand zur Ruh'.
Und wie leise sich der Schmerz
Well' um Welle schlafen leget,
Wie der letzte Schlag sich reget,
Füllest du mein ganzes Herz.«
Joseph Stauffer dachte: »Nichts wie ein wenig klingender Atem! Sie erfaßt den Sinn der Worte nicht, kann ihn nicht erfassen, – Kinderunschuld, höchstens dämmernde Mädchengefühlsseligkeit, mehr ist es nicht, was aus ihr singt! Warum klingt es dennoch, als empfände sie alles? Oder bilde ich es mir nur ein? Das will ich nicht, – darf ich nicht –«
»Du hast recht,« sagte er, als sie geendet hatte, »es ist zu viel Schülerhaftes in deinem Singen, es kann dir nicht die rechte Freude machen. Unser guter Kantor hat seine Kunst an dir erschöpft, du müßtest nun wirklich gute Gesangstunden nehmen –«
Er sah wie fragend zu ihr hinüber, aber sie zuckte nur die Achseln und hob das Gesicht nicht von dem Notenheft, in dem sie blätterte.
Eine Weile blieb es still zwischen ihnen, dann sagte er halblaut: »Ich mag nicht wieder mit meinem zehnmal abgewiesenen Vorschlag von einem Pensionsjahr in einer großen Stadt kommen –«
Da hob Marlise schnell den Kopf. »Nein, Onkel Joseph, das laß nur! Es ist ja oft genug die Rede davon gewesen, seitdem ich die Schule und die Hauslehrerin und all den Kram hinter mir habe. Und ich habe immer dasselbe gesagt: ich habe gar kein Verlangen nach der Pension und der großen Stadt; ich will nicht. Und –« sie lachte ihm schelmisch und liebevoll zu, »ich habe es ja besser als die anderen Mädchen, wo Vater und Mutter einfach erklären: du gehst und damit basta!«
»Ja, wir haben dich sehr verwöhnt und dich mehr nach deinem eigenen als nach unserem Willen erzogen!«
»Warum sagst du: wir?« fragte sie leise zurück. »Mutter ist doch nie in Betracht gekommen, wo es um meine Erziehung oder sonst etwas Ernsthaftes ging, – du allein hast alles getan. Du bist doch eigentlich mein Vater gewesen –«
»Sag das nicht, Marlise –«
Sie stutzte und dachte angestrengt nach. Dann sagte sie: »Nein. Es ist auch nicht richtig. Ich sehe doch, wie die anderen Mädchen mit ihren Vätern verkehren – und überhaupt – wie ich mir das alles denke: es kann wohl zwischen Vater und Tochter nie so sein wie zwischen uns beiden.«
Sie sah ihn an, ernst und eifervoll, – und trotzdem er mit keiner Miene zuckte, fühlte sie eine kleine, verlegene Beklommenheit: wie wenn sie etwas Dummes oder allzu Gefühlvolles gesagt hätte.
»Also, die Pensionsfrage wollen wir doch nun endgültig aus der Welt schaffen,« sprach sie entschlossen weiter. »Was die anderen Mädchen, die in Pension waren, erzählt haben, wie es da zugeht und was sie da lernen – oder vielmehr nicht lernen –«
»Ach, Marlise! Du hast nie mit irgend einem jungen Mädchen aus Beurenbach Freundschaft gehabt, du kannst von ihren Erlebnissen nur das ganz Äußerliche wissen!«
»Aber das genügt mir. Daß sie in der Pension Klavierstunden und Gesangstunden und Tanzstunden und Kochstunden und Handarbeitstunden haben, daß sie Literaturgeschichte und Weltgeschichte und Kunstgeschichte und Musikgeschichte, Bürgerkunde und Mythologie und Küchenchemie und Gesundheitslehre und Französisch und Englisch lernen, also: hundert Dinge und nicht eins davon gründlich, daß sie verbotene Bücher lesen, die von Gefühl und Verlogenheit triefen, für Schauspieler und Tenöre schwärmen und sich in Museen und Vorträgen zu Tode mopsen, daß sie nicht allein über die Straße gehen dürfen und doch mit Studenten und Tennisjünglingen liebeln, – das alles weiß ich und habe gar keine Lust, es mitzumachen.«
»Es brauchte ja keine Pension zu sein, über die bist du hinausgewachsen. Aber man könnte dich in einer netten, gebildeten Familie unterbringen, wo junge Töchter sind. Du würdest allerlei Unterhaltung finden und vieles kennen lernen, was dir hier in unserer Einsamkeit immer fremd bleiben würde. Die Großstadt bietet nun einmal ganz andere Lebensformen, die ihren Wert und ihre Berechtigung haben und über die man als unterrichteter Mensch Bescheid wissen muß, selbst wenn –« Er brach ab, schüttelte den Kopf und sprach erst nach einer Weile halb zögernd weiter: »Du hast vorhin von den Beurenbacher Mädchen erzählt, die fortgehen, um eine Frauenschule, ein Säuglingsheim zu besuchen –«
»Ja –!« gab Marlise gedehnt zurück, »das mögen sie ja tun, die anderen –«
»Die anderen also! Und dir, Kind Marlise, ist es nie eingefallen, daß du dir außerhalb unseres Ecks eine Lebensarbeit suchen könntest?«
Marlises Augen wurden ganz groß und rund. »Nein!« erklärte sie bündig, »das ist mir wirklich nie eingefallen, Onkel Joseph, – dir etwa?«
Sie sahen sich an, und plötzlich lächelten beide wie in geheimer Übereinstimmung. Marlise lehnte sich weich über die Flügelplatte, als schmiege sie sich an ein heimatliches Wesen an. »Ach, Onkel Joseph!« sagte sie, »warum redest du denn so, als wolltest du mich fort haben?«
»Das tue ich gewiß nicht, Marlise. Aber ich bin ein Einsiedler, und im Winkel, der mir genug ist, darfst du nicht hocken bleiben. Es ist meine Pflicht, dir zu zeigen, daß es außerhalb unserer Welt noch eine andere gibt, eine sehr wichtige und gebieterische –«
»Ja, Onkel? Bist du ganz sicher, daß es sie wirklich gibt, daß man sie sich nicht nur einbildet, so wie man sich ja auch ohne Mühe einbilden kann, wenn der Wald rauscht, hinter den Tannen, gar nicht weit, liege das Meer? Wenn sie aber wirklich da ist, die andere Welt, wichtig und gebieterisch kann sie doch nur für die sein, die sich um sie kümmern, – und das tun wir nicht, wir hier im Eck! Wir brauchen es nicht, denn wir wollen ja nichts von ihr, wir haben alles und sind geborgen, nicht wahr? Und dann, Onkel, das mit dem Kennenlernen und Unterrichtetsein, – ich bin gar nicht so lernbegierig. Was der Beurenbacher Schulmeister und meine Hauslehrerinnen mir eingetrichtert haben, das reicht leidlich aus und ist gewiß nicht weniger, als die Stadtmädchen in ihren Schulen lernen. Und sonst – bin ich doch immer bei dir gewesen. Und du bist so klug, hast alles gelesen und hast deine Musik und weißt immer und überall Bescheid –«
»Ja, ja, Marlise! In deinen Augen bin ich ein Weltweiser und unfehlbar, weil deine ganze Menschenkenntnis sich auf einer Handvoll kleinstädtischer Leutchen aufbaut. Dir fehlen die Vergleichspunkte, das ist's ja, warum man deinen Horizont erweitern müßte.«
»Laß ihn nur eng bleiben, er ist gut, wie er ist! Und – dies eine möchte ich noch sagen, Onkel Joseph – ich denke zuweilen, daß es gar nicht so sehr darauf ankommt, wie viele Dinge man gesehen hat, sondern wie man sie betrachtet. Und eben dies: die Dinge mit ruhigen, ungetrübten Augen betrachten, bis sie von selber schön werden, und sie leise berühren, bis sie zu klingen anfangen, – ich glaube, das können und verstehen wir, ich und du, – denn du hast es mich gelehrt. Es ist sehr einsam und still in unserem Eck, – ja, das mögen die anderen wohl sagen! Aber weil Einsamkeit und Stille sind, haben wir auch Zeit und haben Ruhe, für einander und für die schönen, klingenden Dinge, die wir lieben. Verstehst du es, Onkel, wie ich es meine? Ich kann es nicht besser sagen –«
»Ob ich dich verstehe, Marlise –! Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus, und du warst so ein junger, aufhorchender Märzwald neben mir.«
Er schlug ein neues Notenbuch auf und schwieg, und auch Marlise schwieg. Sie war vollkommen beruhigt und zufrieden. –
Eine Uhr schlug mit feiner Silberstimme zehn. Marlise, die es sich mit einer Handarbeit im Lehnstuhl neben der großen Stehlampe bequem gemacht hatte, legte ihre bunten Seidensträhnen zusammen. Aber sie stand noch nicht auf. Ihr sinnender Blick wanderte durch das mild beleuchtete Zimmer und blieb auf einer kleinen Photographie haften, die neben ihr auf einem niedrigen Tischchen stand. Ein junger, schlanker Mann saß auf dem Führersitz eines Autos, die Hände am Lenkrad; sein Gesicht, bartlos und von kühnem Ausdruck, sah mit einem hellen, unmittelbar gewinnenden Blick aus dem Bilde heraus. Dies Gesicht ähnelte Marlises Gesicht. Es war Orlando Stauffer, der Frühverstorbene.
Marlise hatte sich niedergebeugt. Oben in ihrer Mutter Zimmer standen und hingen ein Dutzend Bilder ihres Vaters, aber sie hatte eigentlich nie gewagt, sie genauer zu betrachten, wie man am Herzensheiligtum eines anderen am liebsten mit geschlossenen Augen vorübergeht. Dies Bild war nicht darunter – als sie es jetzt in die Hand nahm, war es ihr, als wende sich Onkel Joseph von seinen Notenschränken nach ihr um.
»Das ist doch sonderbar, Onkel Joseph,« sagte sie, und nach der langen Stille ging ihre Stimme wie ein schöner, dunkler Saitenklang durch das Zimmer, »ich weiß so wenig von meinem Vater. Aber nach dem wenigen meine ich, er muß ganz anders gewesen sein als du und ich, die wir am liebsten still im Eck sitzen.«
»Da hast du recht, Marlise, ja, er war sehr anders. Er war einer von denen, die von der unruhigen Sehnsucht nach Fernem und Fremdem – Hinausweh kann man's nennen, wie man sonst von Heimweh spricht – ewig umgetrieben werden. Nur daß er unter dieser Sehnsucht kaum je gelitten hat; ihm boten sich immer Mittel und Wege sie zu erfüllen, und so wurde sie ihm zum Glück – wie alles übrige –«
»Erzähle doch weiter, Onkel! Ich möchte so gern mehr wissen, und Mutter – Nun, du weißt ja, man darf nicht daran rühren, sie weint und regt sich auf, daß man jede noch so leise Frage sofort bereut.«
»Orlando –« sagte Onkel Joseph nach einem Schweigen aus der dämmerigen Tiefe des Zimmers, »hörst du, Marlise, wie der Name klingt? Es ist etwas wunderbar Schwellendes und Schwebendes darin, wie eine Fahne sich im frischen Wind leuchtend entfaltet! Gerade so war er, dein Vater. Schon als Junge. Du weißt, wir Vettern sind viel zusammen gewesen. Damals wollte er Forschungsreisender werden und konnte mir stundenlang glühend erzählen von den Unternehmungen, die ihm vorschwebten: Innerasien, die afrikanischen Wüsten, die arktischen Gebiete, es war, als warteten alle Wunder und Schauerlichkeiten nur auf ihn. Dann, als er begriff, daß Forschungsreisen nur mit sehr viel Geld zu bewerkstelligen sind und er so gut wie arm war, warf er sich ohne Enttäuschung ins Ingenieurstudium. Die Bagdadbahn, deren Plan damals die Welt bewegte, der Panamakanal, das waren nun seine Ziele, leidenschaftliche, anstrengende Betätigung in fremden, heißen Ländern unter halbwilder Arbeiterschaft, voller Abenteuer und Gefahren. Er war denn auch jahrelang draußen, in Südamerika beim Bau einer halsbrecherischen Kordillerenbahn, in Rußland bei einer großen Industrieanlage; dort hatte er sich die Mittel zu einer Studienreise durch Japan und Indien erworben, und schließlich trieb er sich lange mit einer wissenschaftlichen Expedition in den Ausgrabungsgebieten von Mesopotamien umher. Dann verlobte er sich; mit einem deutschen Mädchen, ganz bürgerlich unromantisch, wie niemand es von ihm erwartet hatte. Und er warf seine Wanderleidenschaft frischweg hinter sich, sprach davon, in Deutschland zu bleiben, seßhaft zu werden. Lachend und glückselig sprach er davon; er ergriff Liebe und Ehe wie alles vorherige in seinem Leben: jauchzend eifrig, an Hindernisse nicht glaubend und mit restloser Hingabe seiner selbst.«
»Und – Mutter?« fragte Marlise flüsternd, »wie war sie? Ich kann es mir nicht denken –«
»Sie war – nun, unsäglich liebreizend; dabei eher schüchtern, am Hergebrachten hängend und so rührend bereit, sich jeder liebevollen Überlegenheit zu fügen. Seitdem sie Orlando kannte, sah sie nichts als ihn. Die stürmische Lebensfülle, die in ihm war, hätte sie überall mitgerissen, wohin er nur wollte. Aber er war klug genug, sie nicht aus dem heimatlichen Boden hinwegzutragen. Damals nahm mein Vater ihn in die Webereiwerke Heinrich Stauffer auf. Ich stand dabei und dachte im stillen: wie wird das gehen? Aber es ging mehr als gut, es ging ausgezeichnet. Mein Vater war, ebenso wie alle Menschen, von Orlandos glänzender Tatkraft eingenommen, wenngleich er das nie zugegeben hätte. Und er wußte diese Tatkraft genau da einzusetzen, wo sie ihm nützlich sein konnte. Orlando war viel auf Reisen, er vertrat die Firma nach außen hin in einer Weise, die uns sehr erhebliche Vorteile einbrachte. Und war er in Beurenbach, so schienen die Werke von einem Strom erhöhten Lebens durchpulst, der vom Chef herab bis zum letzten Handlanger verspürt wurde. Es waren damals einige neue amerikanische Maschinen aufgestellt worden, mit denen unsere Werkmeister Mühe hatten sich einzurichten – Orlando wußte immer Bescheid, wenn etwas nicht klappen wollte, er fand unfehlbar den richtigen Griff, der den kompliziertesten Mechanismus wie durch Zauber gefügig machte. Und dabei seine unverwüstliche, kindergute Heiterkeit, die spielend sorglose Art, mit der er jede Arbeit anpackte und überwand! Die Werkleute schworen auf ihn, jeder Arbeiter wäre für ihn durchs Feuer gegangen, mein Vater war fast ohne Vorbehalt zufrieden –, damals habe ich zuweilen gedacht, ich würde die ganze Last, die Firma, die Werke, ohne Gewissensbisse auf Orlando abwälzen können, wenn eines Tages mein Vater nicht mehr sein werde, – ja, daran dachte ich wirklich« – Joseph Stauffers Stimme wurde heiser und brach ab.
»Weiter, bitte!« hauchte Marlise.
»Ja, Marlise, – du warst auch da, damals. Es war ein so helles, inniges Menschenglück in dem kleinen, roten Hause hinter der Fabrik, wo deine Eltern wohnten, mit dir. Ein paar Jahre lang war alles gut; bis, ganz leise, etwas wie eine Trübung aufkam. Mir schien es, als fange Orlando an sich zu langweilen. Er sprach wieder viel von seinen Reisen, früheren und solchen, die er gern noch gemacht hätte; als sei die Zeit seiner Seßhaftigkeit bald abgelaufen. Und da kamen die Automobile in Aufnahme.
»Dies war nun im Grunde etwas, das niemand überraschen konnte: wie Orlando im Automobilfahren ein neues Lebenselement entdeckte, wie das Auto, das sich in jenen Jahren durch die Ausbildung der Motoren merkwürdig rasch vervollkommnete, ihm gleichsam ein neuer Körper wurde, dessen Fortbewegungsfähigkeit endlich mit dem Verlangen seiner Seele Schritt zu halten vermochte. Das Überwinden des Raums, das mühelose Verschlingen weiter Strecken, durch einen Griff seiner Hand bewerkstelligt, das schuf ihm eine täglich erneute, rauschhafte Befriedigung, die sein ganzes Wesen entzündete und beschwingte. Er besaß die besten, schönsten Autos, verkaufte sie wieder und erwarb andere, sowie eine Verbesserung der Maschinen irgendwo erfunden war. Ich glaube bestimmt, es war sein heißester Kummer, daß er die Fabrikation der Webereiwerke Heinrich Stauffer nicht auf Wagen und Motoren umstellen konnte. Aber in den namhaftesten Automobilfabriken Deutschlands war er wie zu Hause, überwachte den Bau der für ihn bestimmten Wagen bis ins kleinste und hatte selbst glänzende Einfälle für die Vervollkommnung der Maschinen, der Gestelle, der Karosserien. Und er bereiste Europa, soweit es Straßen gab, nicht mehr abhängig von Schienenstrang und Fahrplan, sondern in der ganzen, rastlos beglückenden Freiheit des einsam Schweifenden. Den Lockungen der Stunde, des Himmels und der Länder folgte er, der bezwungenen Weite gab er sich hin, wunderbar sorglos im Vertrauen auf sein gutes Fahrzeug und die unerschütterliche Sicherheit seines Auges und seiner Hand. Als die großen Automobilrennen in Mode kamen, nahm er daran teil, und die nervenaufpeitschenden Schnelligkeitsrekorde, die tagelangen, maßlos anstrengenden Weitfahrten und Sternfahrten schienen seine Frische kaum zu berühren, immer war er unter den Siegern, sein Name glänzte in der internationalen Sportwelt. Von allen seinen Reisen kehrte er heim wie der lachende Held des Märchens, glückselig erfüllt von Erlebnis und Abenteuer, in Haar und Kleid den heißen Duft der Ferne mit sich bringend. Und deine Mutter blühte auf vor schrankenlos bewundernder Zärtlichkeit, wie in taumelnder Freude schritt sie durch die Tage, solange er da war –«
»Hat sie ihn nie begleitet?« warf Marlise ein.
»Sehr selten. Sie war zu still, zu furchtsam beschaulich für das Zeitmaß seiner Fahrten; trotzdem sie an seine Unfehlbarkeit glaubte und sich kaum je um ihn geängstigt hat. Sie nicht und keiner von uns. Es schien so unmöglich, daß ihm etwas zustoßen könne, und wenn man neben ihm hinter dem Lenkrad saß, fühlte man sich bei den höchsten Geschwindigkeitsziffern so sicher wie im Mantel Gottes. Als dann das Unglück geschah, war es ja auch nicht, weil seine Hand versagte – im Gegenteil, man könnte fast sagen, es sei sein Meisterstück gewesen, als Fahrer wie als Mensch –«
Marlise beugte sich zitternd im Stuhl vor, sie war ganz blaß und konnte nicht fragen. »Im Engadin war es,« fuhr Joseph Stauffer fort, »auf der Schulser Straße; an einer der gefährlichsten Kehren kam ihm ein anderes Auto entgegen, das unbegreiflicherweise die falsche Seite hielt. Es saßen sechs Personen darin, während Orlando allein war – ich bin fest überzeugt, daß er nur dies erwogen hat in den Sekunden, die ihm zum Überlegen blieben, als er sah, es könne nur einer der beiden Wagen heil davonkommen: so riß er den seinen herum, daß er unmittelbar vor dem anderen die Brüstungsmauer der Straße durchschlug und in die senkrecht gähnende Tiefe des Innbetts hinabging. Sein Körper war völlig zerschmettert, als wir ihn unten fanden, nur der Kopf wie durch ein Wunder unversehrt: ich habe nie einen vollkommeneren Ausdruck von stolzem, freudigem Frieden gesehen als auf diesem Totenantlitz. – Der Wagen mit den Sechsen war glücklich vorbeigekommen.«
Es blieb lange ganz still. Marlise sah regungslos auf das kleine Bild. Ihre Augen waren klar und trocken, und um ihren Mädchenmund war etwas wie ein unbewußtes Lächeln. »Wie sie ihm ähnlich sieht!« dachte Joseph Stauffer. »Nur ihr Körper? Oder wird auch ihre Seele eines Tages aufschrecken aus ihrer Stille und das Hinausweh erfahren? Wann wird das kommen? Ach, noch nicht zu bald, sie ist so jung, so kindlich, es würde sie umwerfen –«
Er trat zu ihr, strich ihr behutsam übers Haar. »Geh nun schlafen, Herzenskind; es ist so spät geworden.«
Sie erhob sich langsam, mit einem Seufzer, sie nahm seine Hand. »Dank dir, Onkel Joseph. Es war schön! Nun kenne ich doch meinen Vater!«
Sie ging durchs Zimmer, blieb noch einmal am Flügel stehen und schob die Notenblätter zusammen. »Ja – und mit meinem Singen, da müssen mir eben abwarten, bis sich irgend eine Gelegenheit zu guten Gesangstunden bietet.«
Onkel Joseph lächelte, er verstand ihren rührenden Versuch, die allzu ernsten Dinge dieser Abendplauderstunde durch ein weniger ernstes abzulösen, ehe man zur Ruhe ging.
»Schade, daß du mich nicht auch im Gesang unterrichten kannst,« scherzte sie. »Ja, wenn's ums Geigen ginge! Ich hätte geigen lernen sollen –,« da war es, als erschrecke sie vor dem eigenen Wort. Sie kam zu ihm zurück, fuhr ihm, wie abbittend, zart und scheu über den Ärmel. »Hab' nochmals Dank, Onkel! Und schlaf gut!« Dann ging sie; er hörte ihren leichten Schritt die Treppe hinauf verhallen.
»Verhängnis unserer verborgensten Dinge untereinander,« dachte er verschwommen, »berühre nur eins von ihnen und gleich tönt ein zweites mit.« Er verwahrte seine Notenbücher peinlich genau und schloß die Schränke. Vor dem letzten blieb er stehen, zögernd wie unter einer Versuchung, und starrte auf ein besonders verschließbares Innenfach – dann öffnete er es mit langsamen, geräuschlosen Bewegungen, wie man an verbotene Kostbarkeiten herangeht.
In dem Fach lag in ihrem schwarzen Lederkasten eingesargt eine Geige. Das wundervolle Tiefrot des Lacks leuchtete auf, vom Lampenschein gestreift, als Joseph Stauffer das Instrument heraushob und seine nervigen, sehr langfingerigen Hände – Geigerhände wie sie sein sollen – sich um den edlen Holzkörper schlossen.
Er blickte lange darauf nieder. Seine Züge blieben ruhig, aber es war jene harte, müde und mühsame Ruhe, die durch lebenslange Selbstbeherrschung errungen ist. Er dachte entweder gar nichts oder so unentwirrbar viel, daß kein einzelner Gedanke klar werden konnte.
»Und wie leise sich der Schmerz Well' auf Welle schlafen leget –« Der zarte Klang schien plötzlich wieder im Zimmer zu sein. Joseph Stauffer atmete tief auf. Er legte die Stradivari zurück. »Schlaf weiter, alter Schmerz, so lange es denn möglich ist –«
Dann sank das weiße Haus am Eck dunkel in das Dunkel der Frühlingsnacht.