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2

Wohin?« fragte Onkel Joseph Marlise, mit der er auf dem Wiesenweg unterhalb des Ecks zusammentraf. Es war am frühen Nachmittag, er kam aus der Fabrik und sah abgespannt aus.

Marlise hob und dehnte die Arme. »Irgendwohin, Onkel, überall hin, – man weiß ja nicht, wo sich lassen vor Freude über diesen wonnigen Frühling! Sieh doch nur die Apfelbäume und die Wiesen! Mir ist, als sei es noch nie so schön gewesen wie dieses Jahr.«

Sie sah mit leuchtenden Augen um sich. Er sah nur auf sie und lächelte schweigend.

»Auf Wiedersehen!« Sie nickte ihm verabschiedend zu. »Ich will einen tüchtigen Weg machen; in den Wald hinauf oder über den Haseler Berg oder wo sonst der süße Wind mich hinweht!«

»Geh nicht zu weit –«

»Zu weit?« lachte sie hell zurück, »gerade weit, recht weit! Man geht ja wie auf Flügeln heute, und ich habe den ganzen Nachmittag vor mir. Und Loki beschützt mich ja – komm, Loki, nun rennen wir!« Sie pfiff ihrem Dobermannpintscher, der begeistert kläffend an ihr emporsprang, und lief mit ihm den Weg hinab, daß ihr Kleid flatterte.

Unten glänzten die Dächer von Beurenbach sonnengewaschen aus dem silbrigen und rosigen Gewölk der Baumblüte. Marlise hielt sich oberhalb der Häuser, folgte ein Stück der Fahrstraße, wo der Wind sie tönend umsauste, dann bog sie, einem plötzlichen Einfall gehorchend, in ein seitwärts sich öffnendes Tälchen ab. Hier war es wunderbar still, warm und heimlich. Rechter Hand des schmalen, gewundenen Weges kletterte ein Buchenwäldchen, noch kahl und zitternd durchsichtig, den steilen Hang hinauf, während links der Wiesenhügel breit und sanft geschwungen ins Himmelsblau emporwuchs, als sei sein blumenbewimperter Rand der Horizont aller Dinge. Marlise fühlte die Sonnenwärme wie eine Liebkosung auf ihrer Haut, ein noch ungelenker Finkenschlag, der über ihr im Gezweig auftrillerte, bewegte ihr Herz mit einer Welle von Zärtlichkeit, es war als müsse sie die Augen schließen und stehen bleiben, lange, lange. Aber dann lockte dort hinten der Ausgang des Tälchens wie ein Tor zu unbekannter Freude, sie begann von neuem zu laufen, lachte, ohne es zu wissen, und lief mit fliegendem Atem die nächste Höhe hinan.

Da wurde die Welt wieder weit und glänzte vor Schönheit und Licht. Marlise wanderte leichtfüßig und eilig, ohne Ziel. In ihren Augen spiegelte sich die ganze gegenstandslose Seligkeit des unendlichen Himmels.

Als sie in den Wald kam und der dünne Schatten des knospenden Geästs sie wie feine Schleier umfing, fiel ihr wieder Onkel Joseph ein, und daß er ernster ausgesehen habe, als nötig schien. Was mochte er haben? Ärger in der Fabrik? Den pflegte er auf der ersten Hälfte des Heimweges schon von sich zu streifen. Und sonst –? Es schienen zuweilen einige Dinge in Onkel Joseph zu liegen, von denen niemand etwas wissen und begreifen konnte. Marlise seufzte ein wenig. »Hätte ich nur gestern abend das nicht gesagt, das mit dem Geigen,« dachte sie, »wie kam ich überhaupt darauf? Es war so unzart –«

Sie wußte – nicht von Onkel Joseph selbst, sondern aus gelegentlichen Andeutungen Fremder –, daß er als junger Mann sehr viel und sehr gut Geige gespielt und ein Jahr lang zu keinem anderen Zweck als zu seiner musikalischen Ausbildung in Frankfurt gelebt hatte. Ja, der alte Geschäftsführer Niemeyer hatte einmal erzählt, es sei die Rede davon gewesen, daß Joseph Stauffer die Webereiwerke im Stich lassen und sich ganz dem Künstlerberuf widmen wolle. Aber der alte Herr Stauffer sei dagegen gewesen, und dann habe man nichts mehr davon gehört, wie auch das allabendliche, stundenlange Geigenspiel im Eck plötzlich verstummt sei. Niemeyers Erzählung war von einer bekümmerten Heimlichkeit umkleidet gewesen, und Marlise, in der peinlichen Empfindung, daß ihr dieses Wissen vielleicht nicht zukomme, hatte es damals leise von sich geschoben und es im Laufe der Zeit beinahe vergessen. Nun dachte sie wieder daran, und daß irgend etwas, was Onkel Joseph gestern erzählt hatte, damit in Zusammenhang stehen müsse; aber sie entsann sich nicht, was eigentlich es gewesen war. Onkel Joseph – sie sah sein stilles, feines Gesicht, und ihr Herz wurde warm: wenn man es recht überdachte, war es doch rührend gut von ihm, daß er ihnen, Marlisen und der Mutter, dies schöne Heim schuf, sicher abgeschlossen von aller störenden Außenwelt! Er hätte längst heiraten und seine Fürsorge auf eine eigene Familie wenden können, er tat es nicht – ach, wie gut, daß er es nicht tat! Man lebte so traulich zusammen, als könne alles nur gerade so und nicht anders sein; und war es nicht eine heimliche Freude, ihm jeden Tag ein wenig zu danken, durch Herzlichkeit und Verständnis und hundert kleine, freundliche Dinge?

Der Wald öffnete sich in einer Lichtung, über deren blumenbesäten Grund die Zitronenfalter wie selige Geister hintaumelten. Ein paar kindliche Bäumchen standen mitten in der Sonne, sie hielten die eben entfalteten Blättchen auf schwankend gebreiteten Zweigen empor, als spürten sie selber sich glücklich wachsen. Unter ihrem zarten Schatten war es blau von Veilchen. Marlise konnte nicht widerstehen, sie bückte sich und pflückte, was vor ihren Händen war, dann verließ sie den Weg und schritt durch das kurze, feine Gras den ersten Tannen entgegen, die vereinzelt von der Bergwand herabstiegen. O Schwester Tanne, wie selig muß es dir sein dort oben in deiner höchsten, kühnen Spitze, wo sie im flutenden Lichte steht! Aufragen, einsam still, und allen Duft und Glanz des Frühlingshimmels trinken! Es war, als riesele ein Schauer herab bis in die tiefsten Zweige, deren kühle, starre, harzduftende Nadeln Marlise sich gegen Wange und Lippen drückte. Auf dem glatten Waldboden klomm sie weglos bergan, über ihr rauschte es tief und sacht, Vögel zirpten, und ihr Herz klopfte laut in die Stille hinein.

»Loki, wohin geraten wir denn?« sagte sie nach einer Weile, sie sprach zu dem Hunde, um sich aus der leise bänglichen Ergriffenheit der eigenen Seele zu befreien. »Da ist ein Weg – den kennen wir, Loki, richtig, da sind wir ja über der Beuraschlucht, das ist fein!«

Sie liebkoste den warmen Kopf des Hundes, der sich an ihrem Knie rieb, und einträchtig gingen sie weiter, unter sich das enge, walderfüllte Tal, das ins Herz des Gebirges hineinzog, Tannenwipfel bei Tannenwipfel und darüber die kristallreine Luft voll Harzgeruch und silbersonniger Frische.

Es pochte in Marlise im Rhythmus ihrer wandernden Schritte: »ich bin glücklich – glücklich –« wie gestern beim Klang der Brahmssonate. Sie atmete den Duft der Veilchen an ihrer Brust und spürte zugleich den feinen, warmen Duft ihres Körpers. »Glücklich – glücklich –« pochte ihr Herz.

Loki rannte voraus, er stellte die Ohren auf und blaffte kurz. »Was denn, du dummer Hund?« rief Marlise ihn an. »Da singt jemand im Walde, irgend ein Bauernmädchen beim Reisigsuchen, das ist doch nichts weiter Aufregendes.« Aber gleich darauf stand sie selber gebannt und lauschte: die singende Stimme, die näher kam, strömte in wunderbar vollen, tragenden Tönen dahin, und was sie sang, war die Schumannsche »Frühlingsfahrt«.

»– Die strebten nach hohen Dingen,
Die wollten trotz Lust und Schmerz
Was rechts in der Welt vollbringen,
Und wenn sie vorübergingen,
Dann lachten Sinne und Herz.«

Marlise ergriff ihren Hund am Halsband, sie bedrohte ihn flüsternd mit einer Tracht Prügel, wenn er sich nicht mucksmäuschenstill verhalte, dann lief sie so geräuschlos wie möglich der Stimme entgegen. Wer sang hier so? In Beurenbach war niemand, dem sie diesen glanzreichen, mühelos flutenden Sopran und die Frühlingsfahrt zugetraut hätte, und eine Fremde hier im Walde, zu dieser Jahreszeit –? Das mußte herausgebracht werden, unbedingt –

Als sie um die nächste Wegecke bog, sah sie ein Stück vor sich die Singende herankommen, eine große, schlanke Frau im schwarzen Kleid. Sie ging ganz langsam und hatte den Arm voll Tannenzweige und knospender Reiser, die sie im Gehen ordnete, dabei sang sie, weltvergessen und inbrünstig heiter, als sei dies eine ihr selbstverständliche Art, des Waldes und der Einsamkeit froh zu werden.

»Dem Zweiten sangen und logen
Die tausend Stimmen im Grund –«

Marlise war zwischen die Tannen am Wegrand getreten, sie hörte und war atemlos vor staunender Bewunderung. Ja, die dort hatte alles, was ihr selber abging, die schöne Stimme und die zweifellose Beherrschung des Tons und des Atems, die erst die letzte Freude am Singen möglich macht. »Wenn ich so singen könnte, wie würde ich's Onkel Joseph zu Dank machen!« das sprang ihr glühend aus dem Herzen und zugleich der stürmische Wunsch, noch undeutlich verschwommen: »Von dieser Frau lernen! Wenn das sein könnte –«

»Es singen und klingen die Wellen
Des Frühlings wohl über mir.
Und seh' ich so kecke Gesellen,
Die Tränen im Auge mir schwellen –
Ach Gott, führ' uns liebreich zu dir!«

Das Lied ging zu Ende in einer seelenvollen Bewegtheit, welche die zugleich metallische und weiche Eigenart der Stimme überzeugend zum Ausdruck brachte. Die Schlußzeile dehnte sich in getragenstem Zeitmaß zu einem ergreifenden Gebetsseufzer. Die Sängerin stand still, sie war mit voller Aufmerksamkeit an ihrem Strauß beschäftigt – da sprang Marlise vor sie hin, so plötzlich, daß die andere zurückzuckte.

»Verzeihen Sie, o bitte, ich habe Sie erschreckt, aber – es war so schön! Wie singen Sie nur, ich habe nie jemand so singen hören, und hier im Walde, an diesem herrlichen Tage, es ist alles so merkwürdig, so entzückend –«

Marlise ahnte nicht, daß sie selbst das Merkwürdigste und Entzückendste dieser Szene war. Ihr junges, holdes Gesicht glühte vor freudiger Erregung, und der Glanz ihrer blütenblauen Augen verriet ihre ganze, beseligte Hingabe an das ungewöhnliche Erlebnis.

Die schwarzgekleidete Frau sagte nichts; als käme sie erst halb mühsam aus irgend einer stillen Ferne zurück.

Marlise besann sich auf ihre guten Manieren. »Ich bitte vielmals um Verzeihung, daß ich Sie so überfalle, gnädige Frau! Aber ich war so überrascht. Sie sind vermutlich hier fremd, – gestatten Sie, daß ich ein Stückchen mit Ihnen gehe? Vielleicht darf ich Ihren Strauß tragen, – ich bin Maria Elisabeth Stauffer.«

Sie merkte sofort, daß ihr Name der Frau nichts sagte und wurde darüber fast verlegen: ihr kleines Königinnentum, dem ganz Beurenbach und Umgebung huldigte, tat hier also keine Wirkung. Aber die Fremde hatte sich ihrerseits in die Lage gefunden und antwortete mit zurückhaltender Freundlichkeit: »Wenn Sie mich ein wenig begleiten wollen, ist es mir recht; aber meinen Strauß lassen Sie mir nur, man muß ein Stückchen knospenden Wald in der Hand halten, um sich diesem köstlichen Frühling ganz zugehörig zu fühlen.«

Marlise griff unwillkürlich nach ihren Veilchen. »Oh, Sie empfinden das auch!« rief sie, es war ihr wie ein Geschenk.

Verstohlen musterte sie die neben ihr Schreitende, deren Erscheinung etwas unbestimmt Fremdartiges an sich trug. Sie war noch jung, kaum an die Dreißig heran, ihre Haut faltenlos und von einer klaren, nicht ungesunden Blässe, aber das kurzgeschnittene Haar, das den Kopf lockig wie eine Wolke umstand, war stark ergraut. Es lag eine große Gelassenheit in dem Gesicht, dessen streng geschnittene Züge an antike Bildwerke erinnerten.

»Sie gehen nach Beurenbach?« fragte Marlise so bescheiden sie konnte.

»Ja; ich wohne dort.«

»Aber noch nicht lange, nicht wahr? Ich hätte Sie sonst sicher schon getroffen, oder wenigstens von Ihnen gehört. In solch einem Nest, – und wo Sie so musikalisch sind –«

Die Frau lächelte über Marlises verwirrten Eifer. Und da sie eben an einer Schneise vorbeikamen, die einen Durchblick auf Beurenbach gewährte, zeigte sie auf ein hohes, braunes Ziegeldach hinab, das neben einer auffallenden Gruppe sehr alter, schwarzer Tannen abseits vom Städtchen lag. »Dort wohne ich; seit ein paar Wochen.«

»Im Spital?« schrie Marlise auf. Es schien ihr unmöglich: diese Frau mit ihrem fabelhaft schönen Gesang, und das unheimliche Haus, von dem es in Beurenbach hieß, es gehe darin um, wo nur alte, verschrumpfte und unfrohe Leute wohnten, Kranke gepflegt wurden und starben! »Warum sind Sie dort?« fragte sie beinahe heftig, »es muß gräßlich sein –«

»Es ist ganz und gar nicht gräßlich. Ich habe bei dem Verwalter, der mein Großvater ist, ein Zimmer, das sieht nur auf die Wiesen und die Apfelbäume des Haseler Berges hinaus. Und auch sonst ist mir das Haus recht mit seinen strengen, zerzausten Tannen und mit aller Kümmerlichkeit und Gebrechlichkeit, die darin zusammengekehrt ist. Es ist ein stilles Haus.«

»Still – ja!« sagte Marlise betroffen, »aber so braucht Stille nicht zu sein, so finster und trübselig –« Sie sann einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich wohne im Eck, das ist das weiße Haus am Berge, gegenüber vom Spital, auf der anderen Seite des Tals.«

Die Frau sah sie an und nickte. »Ja, dort muß es schön sein –«

»Wunderschön!« rief Marlise. »Ich bin immer dort gewesen, fast immer, heißt das – wenigstens so lange ich denken kann, ob etwas schön ist oder nicht schön.«

»Und ins Spital sind Sie in dieser langen Zeit nie hineingeraten?«

»Nein. Was sollt ich da? Ich hab' es nur immer von außen gesehen, es ging mich sonst nichts an.«

»Nun, am Ende wird das jetzt anders – wollen Sie mich nicht einmal besuchen?«

Marlise riß die Augen auf; dies kam so überraschend. Aber dann fiel ihr ein, daß es ja ihren heimlichen Wünschen aufs beste entgegenkam. »Ja!« rief sie fröhlich, »ich danke Ihnen, ich komme gern – und – wenn ich Sie dann noch einmal singen hören dürfte –! Es würde mich glücklich machen!«

»Das haben Sie hübsch gesagt,« meinte die Fremde, und ein sehr weiches Lächeln ging über ihr Gesicht. »Glücklich machen –, das ist der einzige Zweck der Kunst und größeres kann sie nicht.« Sie reichte Marlisen die Hand. »Kommen Sie bald. Vielleicht versöhnen Sie sich dann mit den Finsternissen des Spitalhauses.«

»Wenn Sie singen, gewiß!« antwortete Marlise. Sie sprach weiter, erzählte von ihrem und Onkel Josephs Musizieren, von den Mängeln ihres Könnens. »Wenn ich von Ihnen ein wenig lernen könnte! Nur durch Zuhören, mir ist, als müßte ich schon dadurch begreifen, wie ich es anfangen soll. Sie haben alles, Stimme und Technik, soviel verstehe ich wohl davon, aber es ist vielleicht noch mehr: irgend etwas, das Sie ebenso empfinden wie ich, nur daß ich es nicht erfassen und zum Klingen bringen kann.« Sie unterbrach sich und fühlte das Blut in ihre Wangen steigen. »Ich weiß nicht, warum ich dies alles zu Ihnen sagen kann, – Sie kennen mich nicht, ich muß Ihnen recht aufdringlich vorkommen.«

Die Frau schüttelte mit einem gütigen Lächeln den Kopf, und Marlise fühlte eine wohlige Geborgenheit. »Ich komme gewiß!« versicherte sie noch einmal, als sie sich an einer Wegkreuzung trennten.

Marlise lief nach Hause, erfüllt von einer erregten Fröhlichkeit und brennend ungeduldig, Onkel Joseph von ihrer Begegnung zu erzählen. Er würde sich freuen, daß sich für ihre Gesangstudien die Möglichkeit einer Anregung und Vervollkommnung bot; überdies bedeutete ein wirklich musikalischer, künstlerisch ausübender Mensch in Beurenbach auf alle Fälle einen Gewinn.

Beim Abendbrot trug sie ihre Neuigkeit mit vieler Munterkeit vor und war einigermaßen verwundert, bei ihrer Mutter wärmere Anteilnahme zu finden als bei Onkel Joseph. Frau Stauffer hörte aufmerksam zu und wollte allerlei wissen, sie wurde beinahe lebhaft. »Das ist hübsch, Marlise! Wenn sie auch im Spital wohnt, sie gefällt dir, und das gemeinsame Musikinteresse wird das übrige tun. Vielleicht findest du in ihr die Freundin, die dir immer gefehlt hat.«

»Mir – gefehlt?« gab Marlise sehr erstaunt zurück. »Bestes Muttchen, das ist ein drolliger Irrtum von dir! Wozu braucht man Freundinnen? Ich habe nie begriffen, warum die Beurenbacher Backfische immer zu zweien und dreien zusammenhocken, diese oder jene gefühlvoll als ›meine Freundin‹ bezeichnen, während sie eine andere links liegen lassen und sich bei Frau Pastors Kaffeekränzchen mit ihren Erwählten in Andeutungen über irgendwelche Geheimnisse verständigen.«

»So meinte ich es nicht,« entgegnete Frau Stauffer. »Aber du bist doch eigentlich ganz allein. Und du bist nun groß, in deinen Jahren bewegt uns manches, worüber wir uns aussprechen möchten, und wenn wir es nicht aussprechen können, so möchten wir wenigstens wissen, daß ein anderes Herz es ebenso wie wir empfindet. So war es früher, und ich meine, es wird jetzt noch so sein, bei denen, die heute jung sind.«

Marlise wollte widersprechen, aber irgend etwas band ihr die Zunge; sie war undeutlich bewegt. »Ganz allein« – hatte die Mutter gesagt; war sie ganz allein? Sie blickte verstohlen auf Onkel Joseph, als könne der ihr zu Hilfe kommen, aber er saß mit ganz unbeteiligtem Gesicht hinter seiner Teetasse. Und – die Mutter selbst –? Auf Frau Cillis Wangen stand ein zartes Rot, ein Ausdruck träumerischer Innigkeit entspannte ihre leidenden Züge und verjüngte sie auf wunderbare Art. Marlise sah sie an und mußte daran denken, was Onkel Joseph neulich von ihr erzählt hatte, von früher: war sie nicht innerlich genau dort stehen geblieben, wo sie als Braut und junge, liebende Frau Orlando Stauffers gestanden hatte? Aber ihre Jugend war die einer begrabenen Zeit und konnte den Weg zu Marlises achtzehn Jahren nicht finden. »Gute Mutter, arme kleine Mutter!« dachte Marlise; sie nahm behutsam der Mutter Hand und küßte sie.

Onkel Joseph war aufgestanden. »Du kommst dann in mein Zimmer, Marlise, nicht wahr?« fragte er in der Tür.

Sie nickte; das war doch jeden Abend so, warum fragte er heute? Als sie eine halbe Stunde später zu ihm ins Licht der großen Stehlampe trat, fiel es ihr wieder auf, daß er blaß und ernst aussah, mit einem Schatten sorgenvoller Nachdenklichkeit um die Augen.

»Was hast du, Onkel?« fragte sie unwillkürlich leise.

Er schob ihr einen Stuhl hin. »Setze dich, Kind. Ja, da ist etwas, – etwas Neues. Etwas, das vielleicht bedeutsame Veränderungen für uns bringen kann –« er unterbrach sich, schüttelte den Kopf und reichte ihr, mit der Gebärde eines unangenehmen Entschlusses, einen Brief hin. »Hier, von Tante Franziska. Lies einmal.«

Marlise entfaltete den fliederfarbenen Bogen, der nach Parfüm und Zigaretten roch und mit den Zügen einer großen, sorglosen Damenhandschrift bedeckt war; der Inhalt lautete:

 

Sao Paolo, den 14. März.

Lieber Bruder!

Ich habe lange nichts von mir hören lassen, das mußt Du mir aber nicht übel auslegen. Ich hätte nicht viel Erfreuliches zu berichten gehabt, und mit dem Unerfreulichen befaßt man sich doch nicht eher, als es dringend nötig ist. Ich weiß auch nicht mehr, ob ich Dir für Deinen Brief und die Geldsendung vom letzten August gedankt habe, hoffe aber, daß Stephan das besorgt hat.

Uns geht es soweit noch gut. Wir haben einen angenehmen Winter gehabt, nicht zu viel Regen und seit Weihnachten viel Geselligkeit. Es ist in der deutschen Kolonie und auch in der italienischen sehr lebhaft zugegangen, und ich habe alle Feste besonders genossen, da ich die Freude hatte, Adelina in die Gesellschaft einzuführen. Wenn man selbst in die Jahre kommt (obgleich man es mir nicht ansieht), so ist es doch eine Genugtuung, mit einer großen Tochter auszugehen, und Adelina ist ein hübsches Mädchen geworden und hat viel Erfolg gehabt. Wenn wir hier blieben, würde sie wohl bald eine gute Heirat machen können, aber unglücklicherweise lassen die geschäftlichen Verhältnisse es nicht zu, daß wir so weit denken.

Stephan konnte leider an unseren Vergnügungen nur selten teilnehmen, er hatte so viel zu tun und war immer durch geschäftliche Verhandlungen in Anspruch genommen. Er ist etwas niedergeschlagen, denn das Geschäft geht nicht gut. Du weißt ja, wie schwer es uns Deutschen jetzt hier gemacht wird, und daß die Kaufleute anderer Nationalitäten, welche die weit größeren Werte ihres einheimischen Kapitals im Rücken haben, ganz anders wirtschaften können als wir. Die Baumwollweberei hat Stephan schon im Dezember verkaufen müssen, und ich glaube, er hat ziemlich bedeutende Verluste dabei erlitten. Nun meint er, er werde auch das Kaffeegeschäft nicht mehr lange halten können. Sein Teilhaber, Herr Carlos Moragaz, der ja schon bei Lebzeiten meines Mannes im Geschäft war, hat sich wohl in letzter Zeit nicht ganz redlich benommen, und es liegt alles sehr im Argen. Eine englische Kaffeefirma will nun das Haus Klotz und Moragaz übernehmen, aber Stephan sagt, er möge nicht als Kommis bei den Engländern arbeiten, und so wird er lieber alles hier auflösen und sich wo anders etwas suchen. Er ist ja auch noch recht jung, um sich unter den jetzigen Verhältnissen hier zu behaupten, und es kann ihm niemand einen Vorwurf daraus machen, daß alles so gekommen ist.

Adelina und ich müssen natürlich mit ihm gehen, und da wir für unser Haus in Sao Paolo einen Käufer haben und Stephan die Abwicklung der geschäftlichen Angelegenheiten sehr bald beenden wird, gedenken wir uns Mitte April auf einem holländischen Dampfer nach Europa einzuschiffen. Der Abschied von Brasilien wird uns allen schwer, besonders mir, die ich seit dem zehnten Jahr meiner Ehe hier gelebt habe; die Kinder erinnern sich ja kaum noch an Deutschland. Aber ich denke, es ist das Gescheiteste, sich dem Vaterlande wieder zuzuwenden, wenn es hier draußen nicht mehr geht. Stephan ist ja so tüchtig, er wird dort gewiß bald eine passende Tätigkeit finden, wobei Du ihm, wie ich hoffe, mit Rat und Empfehlungen behilflich sein wirst.

Wir treffen also Mitte Mai in Deutschland ein und hoffen, fürs erste bei Dir, lieber Bruder, ein Unterkommen zu finden. Ich freue mich von ganzem Herzen auf das Wiedersehen nach so langen Jahren, freue mich vor allem, Dir meine Kinder zuzuführen, die Du ja erst kennen lernen sollst; ich darf sagen, sie sind es wert, einen Platz in Deinem Herzen zu erlangen. Falls es Dir nötig scheint, kannst Du mir ja nach Empfang dieses Briefes ein Telegramm senden, das uns Dein Einverständnis mit unserem Kommen mitteilt.

In alter Liebe Deine Schwester

Franziska Klotz.

 

Marlise las den Brief ein zweites Mal von Anfang bis zu Ende durch; dann legte sie ihn wortlos auf den Schreibtisch.

»Nun?« fragte Onkel Joseph, »was meinst du? Aber im Grunde ist da ja gar nichts mehr zu meinen, – es bleibt uns nach diesem gemütvollen Schreiben durchaus nichts zu tun, als das uns gütigst gestattete Telegramm mit ›Herzlich willkommen‹ abzuschicken.«

Marlise wurde blaß. Sie war noch benommen von der überraschenden Nachricht, jetzt warf ihr sein bitter gereizter Ton hilflosen Schrecken ins Herz.

Er sah es, – und besann sich. Ein Weilchen stand er schweigend vor ihr, und sein Gesicht war hart, als kämpfe er etwas in sich nieder.

»Es hätte ja auch wenig Zweck, erst lange nach unserem Ja oder Nein zu fragen,« sagte er endlich viel ruhiger. »Sie brauchen mich, – und wenn der Brief, der mir das mitteilt, auch herzlich wenig Ernst und Wirklichkeitssinn zeigt, so geht doch klar daraus hervor, daß sie drüben den Boden unter den Füßen verloren haben. Dieser Brief –« er schob den fliederfarbenen Bogen mit einem kleinen Achselzucken beiseite, »ach, er ist ganz meine Schwester Franze, ganz so wie sie als Mädchen, als Kind schon war: in den Tag hineinleben und lachen und sich amüsieren, nur immer das Angenehme sehen wollen und das Unangenehme totschweigen, solange es irgend geht! Jetzt geht es aber scheinbar durchaus nicht mehr, und da besinnt man sich auf die alte Heimat und den Bruder und weiß auch diesen Dingen eine hübschgefärbte Seite anzuschwatzen. Nun, genug, – die Tatsache bleibt: sie sind in Not, ich werde also telegraphieren; – obgleich das ja gar nicht mehr nötig wäre, – und sie werden kommen. Nur gut, daß wir Platz genug im Eck haben, und es wird ja vielleicht nicht auf lange sein. Man wird Stephan irgendwo unterbringen, eine Stellung für ihn suchen, er ist vierundzwanzig Jahr und muß dort geschäftlich allerlei gelernt haben, wenn ich auch den Lobeserhebungen meiner guten Franze nicht unbedingt traue –« Er wandte sich und schritt in Gedanken durchs Zimmer hin und her.

»Weiß Mutter es schon?« fragte Marlise.

»Nein. Ich wollte zuerst mit dir sprechen. Und – wenn du mir helfen wolltest, es ihr schonsam beizubringen, damit sie sich nicht aufregt. Ich werde alles so einrichten, daß ihre Behaglichkeit nicht gestört wird, darüber mag sie beruhigt sein.«

»Du bist so gut, Onkel,« sagte Marlise, »und Mutter ist doch gar nicht so anspruchsvoll! Sie wird es ganz selbstverständlich finden, daß du es deinen Verwandten, die heimatlos zurückkehren, so traulich wie möglich machst, – deinen nächsten Verwandten, Onkel, sie stehen dir doch in Wirklichkeit näher als Mutter und ich!«

»Meinst du?« fragte Onkel Joseph zurück und blieb stehen. »Weil das dort meine Schwester ist und ihr nur Frau und Tochter meines Vetters –? Mir ist meine Schwester sehr fremd geworden, nicht weil wir uns fünfzehn Jahre lang nicht gesehen haben, sondern weil wir uns nie, selbst als Kinder nicht, wahrhaft verstanden haben. Ihre unzerstörbare Lebenslustigkeit habe ich nie teilen können, und sie fand mich immer langweilig und zu wenig schneidig; womit sie recht gehabt haben mag.« Er lachte kurz auf und kam langsam ins Lampenlicht zurück.

Marlise hatte den Kopf in die Hand gestützt, sie schwieg, es fiel ihr durchaus nichts ein, was sie hätte sagen oder fragen können. Sie war immer noch so sehr überrascht.

Onkel Joseph sah auf ihren dunkellockigen Scheitel nieder und seufzte ganz leise auf. »Lasten wir das nun,« sagte er dann freundlich, »es wird sich alles finden, dann –. Wir haben noch ein paar Wochen Zeit. Und, Marlise, ich möchte nicht, daß du dich durch die Aussicht dieses Verwandtenbesuches in deinen Wünschen und Plänen stören läßt! Wenn deine neue Bekanntschaft sich wirklich als das erweist, was du vermutest, so bin ich ganz einverstanden, daß du bei ihr Unterricht nimmst oder wie sonst die Förderung deiner Gesangstudien vor sich gehen soll.«

»Ach ja, Onkel! Ja!« Marlises Aufmerksamkeit kehrte erleichtert zu dem Erlebnis ihres Nachmittags zurück. »Ich gehe sehr bald ins Spital! Und jetzt möchte ich mir die ›Frühlingsfahrt‹ einmal ansehen, nicht wahr, ich darf?«

Sie war schon am Notenschrank, suchte und trug sich den Schumannband zur Lampe. Joseph Stauffer verschloß den Brief aus Brasilien; trotzdem war es ihm, als hänge der Parfüm- und Zigarettengeruch störend in der Luft, und seine Züge behielten die leise Gespanntheit einer Unruhe.


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