Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Marlise war ins Spital gegangen, sobald sie es mit der Schicklichkeit irgend vereinbar hielt. Unter einem hell tropfenden Frühlingsregen, der die Berge mit silbernen Schleiern verhüllte und das ganze Tal duften ließ wie einen riesigen, nassen Wiesenblumenstrauß, war sie quer durch Beurenbach gelaufen auf das mürrische braune Dach und die eigensinnige Tannengruppe zu. Und sie hatte lachen müssen, als sie im Flur des Spitals von einer Schwester gefragt wurde, zu wem sie denn wolle: sie wußte ja nicht einmal den Namen der Frau, zu der sie mit so ungeduldigem Herzen gekommen war! Aber die Schwester hatte gleich Bescheid gewußt: O ja, Frau Michaeli, – sie wohne hinten im Verwalterhause, sie werde sich sicher freuen, – und das gute, ältliche Gesicht unter der weißen Haube hatte so herzlich gestrahlt, als gelte ihm selber die Freude des Besuches.
Dann war Marlise zwei Stunden lang in einem hellen, schlichten Zimmer gewesen, unter dessen altem, klapperigen Möbelkram, der doch so seltsam traulich beieinander stand, auch ein dünnbeiniges Tafelklavier von verschollener Figur in gelbflammigem Ahornholz sich befand. Auf einem harten, kleinen Sofa mit schwarzem Roßhaarbezug und weißen Porzellanknöpfen hatte Marlise gesessen, neben Beate Michaeli, und sie hatte noch etwas mehr erfahren als diesen Namen.
Es war alles ganz schlicht, ganz einfach, was die junge Frau von sich erzählte, und ein Erzählen war es auch kaum, es kam nur so nebenher zur Sprache, während der Gespräche über Musik, über Gesangstechnik und Schumann und Brahms. Daß sie wirklich Künstlerin gewesen war, Konzertsängerin am vielversprechenden Anfang einer Laufbahn, ehe sie sich vor fünf Jahren verheiratet hatte. Seitdem hatte sie der Gesundheit ihres Mannes wegen irgendwo im Hochgebirge gelebt, bis er gestorben war. Das war gewesen, als voriges Jahr die Apfelbäume abblühten, und Beate Michaeli trug noch das Trauerkleid. Auf dem Klavier lagen Noten aufgeschlagen, und das ganze Zimmer stand voller Blumen; ein Bild des Verstorbenen entdeckte Marlises verstohlener Blick nirgends.
Sie hatten sich unterhalten, ohne auch nur einen Augenblick nach Gesprächstoffen suchen zu müssen, als kennten sie sich längst. Frau Beates Ton war so sanfte Gelassenheit, daß Marlise nicht gewagt hätte, das Traurige, das die andere wie unvermeidlich enthüllte, mit einem noch so leisen Wort höflicher Anteilnahme zu berühren. Es war eine klare, heitere Sachlichkeit um diese Frau, etwas, das jede Redensart verbot. Sie hatte sich auch nicht lange bitten lassen, zu singen, man fühlte, sie schenkte bedingungslos und freudig.
Und Marlise saß auf dem harten Sofa am offenen Fenster, draußen standen die Tulpen und Narzissen des Verwaltergärtchens wie lauschend, und vor dem Grün des Haseler Berges glitt der Frühlingsregen ganz leise hernieder; denn Beate Michaeli sang. Zuerst »Ich hör' meinen Schatz, den Hammer er schwinget,« dann die »Feldeinsamkeit« und endlich »Ruhe, Süßliebchen, im Schatten der grünen, dämmernden Nacht.«
»Ach Gott!« seufzte Marlise, »wenn ich ein wenig von Ihnen lernen könnte, nur ein klein wenig –« trotzdem sie jetzt genau wußte, ihre Stimmittel sowohl wie ihr Können würden nie an dieses Vorbild heranreichen und es ihr vielleicht mehr darum zu tun war, sich unter gutem Vorwand in diese helle, stille Stube hineingewöhnen zu dürfen.
»Ich will Sie gern unterrichten,« sagte Frau Beate, »kommen Sie recht oft –« und damit war alles gesagt.
Seitdem ging Marlise fast jeden zweiten Tag ins Spital. Sie blieb oft stundenlang dort, trotzdem die Gesangstudien so viel Zeit keineswegs in Anspruch nahmen. Aber man konnte jedesmal nur schwer heimfinden, man verplauderte sich recht mit Genuß, wenngleich man nur von alltäglichen, naheliegenden Dingen sprach: über Musik natürlich und einmal auch wohl über Bücher, und dann über den Frühling und die Spazierwege und schönsten Plätze um Beurenbach, die Frau Michaeli nun anfing kennen zu lernen. Es war ein leichtes, heiteres Verstehen zwischen ihnen über diese leichten, heiteren Dinge, und Marlise schied jedesmal mit dem Gefühl, einen sehr anregenden, erfreulichen Meinungsaustausch erlebt zu haben. Dabei hatte sie noch kaum bemerkt, daß Frau Beate eigentlich wenig sprach, ja, man hätte sie zuweilen wortkarg nennen können. Aber sie hatte die Gabe, den anderen zu offenherzigstem Sprechen zu veranlassen, durch ihr freundliches, aufmerksames Zuhören, das ohne jede Neugier war. In ihrem Lächeln und ihrem Ernst war eine belebte Stille, die immer wohltat.
Und Marlise war es recht danach zumute, sich auf unmerkliche Weise wohltun zu lassen. Denn eine leise peinigende Unruhe war in ihr wach geblieben seit Tante Franziskas Brief. Manchmal war es fast, als fürchte sie sich, – vor dem Neuen, das kommen mußte und noch vor irgend etwas anderem, Unerkennbaren, das vielleicht kommen konnte.
Frau Stauffer zwar hatte die Eröffnung des Bevorstehenden mit einer Ruhe, die an Teilnamlosigkeit grenzte, entgegengenommen, und niemand hatte nötig gehabt, ihr begütigend zuzureden. Sie befand sich, wie alljährlich im Frühling, in einem Zustand völliger Versunkenheit in ihre Erinnerungen, als sei ihre Seele weit, weit zurückgewandert zu lang verblühten Lenzzeiten und unempfindlich für die Fragen der Gegenwart. Nur einmal zeigte sie etwas wie Aufmerksamkeit für das, was Onkel Joseph und Marlise über die Geschwister Klotz, Stephan und Adelina sprachen, sie fragte nach deren genauem Alter und sagte mit einem plötzlichen, hellen Lächeln, während sie Marlises Hand streichelte: »Ein wenig Jugend ins Haus, – das wird dir gut tun, mein Herzblatt!«
Marlise zuckte auf; den gleichen Gedanken hatte die Mutter geäußert, als sie Beate Michaeli kennen gelernt hatte, damals hatte sie ihn hingenommen wie eine Liebkosung, heute reizte er sie so, daß sie nur mit Mühe ein heftig abweisendes Wort unterdrückte.
Auch Onkel Joseph hatte dazu geschwiegen.
Überhaupt: er schwieg jetzt völlig, ließ kein Wort verlauten von dem, was er über das Kommen der Verwandten empfand. Dies Schweigen bedrückte Marlise sehr. Sie war es so wenig gewohnt, in Dingen von Wichtigkeit, die sie beide angingen, nicht rückhaltslos seine Meinung zu hören und die ihre rückhaltslos auszusprechen. Sie hätte fragen mögen, wie sie sonst nach allem und jedem scheulos gefragt hatte, aber die eigene Unsicherheit verschloß ihr den Mund: wußte sie selbst denn, wie sie dem Kommenden gegenüberstand?
Was sie an jenem Abend gesagt hatte: daß es selbstverständlich sei, die Heimatlosen mit offenen Armen zu empfangen, das war ihr wohl aus aufrichtigem Herzen geflossen; nun aber, gestern und heute und all diese Tage lang, wurde es ihr quälend schwer, diese freudige Bereitschaft wiederzufinden. Sie wollte nicht kleinlich und engherzig sein, nein, gewiß nicht, und Tante Franziska und ihre Kinder taten ihr wirklich leid; aber – ach, es war ein so großes, mühsames, beängstigendes Aber, das hinterdrein kam!
Fremde Leute im Eck, – ganz fremde, und mochten sie auch nahe Verwandte sein! Menschen, die aus anderem Lande, anderen Lebensgewohnheiten, anderen Anschauungskreisen herkamen; die nicht wußten, wie still behütet der Tag im Eck dahinlief, die keinen Teil hatten an Onkel Josephs und Marlises Freuden, die Mutters Eigenheiten nicht kannten und schonten! Tante Franzes naiv selbstsüchtiger Brief verhieß wenig Gutes, und Stephan und Adelina waren eine heißere, leichtlebigere Welt und die Abwechslung geselligen Getriebes gewohnt. War es nicht allzu wahrscheinlich, daß es einen Mißklang geben werde mit dem schönen, reinen Klang, der die besinnliche Abgeschlossenheit des Ecks erfüllte?
Und noch eines machte ihr Sorge: daß die fremden Menschen Onkel Joseph allzu sehr mit Beschlag belegen würden. Immer konnten sie dasitzen, um mit ihm tausenderlei zu besprechen, seine Zeit, seinen Rat, seine Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen. Was wurde da aus den stillen Abenden im Musikzimmer oder im Garten, aus den lieben Stunden zu zweien, wo so viel gute und nachdenkliche Dinge zur Sprache kamen und man redend und zuhörend glücklich war, weil Belehrung und eigene Mitteilung aus gleicher Quelle zu fließen schienen? Sollte das alles gestört, – zerstört werden durch die stete Gegenwart andersfühlender Dritter?
Nein, Unsinn, – so schlimm konnte es nicht werden. Onkel Joseph würde es verhindern, daß das trauliche Leben des Ecks auseinanderfiel, – ja, aber – konnte er das verhindern? Wollte er das? Marlise wußte gar nicht mehr, was er wollte und dachte!
An jenem ersten Abend hätte man einen Augenblick glauben können, daß ihm Tante Franziskas Ansinnen sehr unwillkommen sei, ja, daß er es als unberechtigt und verletzend empfinde. Seitdem aber? Er hatte das Telegramm umgehend abgeschickt, und Marlise wußte, daß es durchaus herzlich gehalten war. Jetzt ordnete er alles aufs sorgsamste an, was im Hause zur Unterbringung der Verwandten notwendig war, die beiden Fremdenzimmer im Giebel hatte er herrichten lassen und Marlisen in beinahe selbstverständlichem Tone vorgeschlagen, daß sie ihr Wohnzimmerchen an die Tante und Cousine abgebe. Sie hatte es getan, natürlich, gern, sie hatte auch zugeredet, daß der Balkon des Oberstocks den Besuchern eingeräumt werde und daß man zu ihrer Bedienung ein zweites Hausmädchen mietete. Nun war alles bereit, sie konnten kommen, – aber Onkel Joseph ging mit sonderbar gleichgültigem Gesicht umher, blieb länger als sonst in der Fabrik und war schon seit Tagen nicht mehr zum Musizieren aufgelegt, trotzdem Marlise darauf brannte, ihm den »Nußbaum« vorzusingen, den Frau Michaeli mit ihr durchgenommen hatte und der wirklich schon recht brav ging.
Nachricht traf ein, daß die Familie Klotz in Rotterdam angekommen sei und ohne längeren Aufenthalt nach Beurenbach weiterzureisen gedenke. Onkel Joseph wollte ihnen entgegenfahren bis zu der Station, wo sie in die Kleinbahn umsteigen mußten. »So vermeidet man die Begrüßungsszene auf unserem Bahnhöfchen, das in diesem Fall das Auge von ganz Beurenbach darstellen würde,« begründete er seine Absicht vor Marlise.
Es war am Morgen vor seiner Abreise, sie saßen am Frühstückstisch auf der Veranda, wie immer nur zu zweit, da Frau Stauffer ihr Zimmer vor der Mittagstunde nicht zu verlassen pflegte. Ein wolkiger Maimorgen hing über den Hügeln, das junge Laub im Garten war blank von nächtlicher Regennässe. In der Veranda war das Licht trübe und fahl.
Aber Marlise sah, es war nicht das Licht, was Onkel Josephs Gesicht so grau machte. Er hatte schwer umschattete Augen, und seine Hände, die dem, der ihn kannte, stets noch mehr verrieten als sein Gesicht, bewegten sich mit einer gewissen kranken Unrast über dem Tischtuch hin und her.
»Du hast schlecht geschlafen, Onkel,« sagte Marlise, während sie ihm den Tee mit besonderer Sorgfalt zurechtmachte.
Er fuhr sich über die Stirn. »So gut wie gar nicht. Nun, das macht nichts; ein wenig verzeihliche Aufregung.« Scheinbar eifrig zog er Tasse und Teller heran, legte aber das Brötchen wieder aus der Hand, ehe er einen Bissen genommen. »In einem Leben wie dem unseren, wo ein Tag so geräuschlos hinter dem anderen herläuft, nehmen Ereignisse wie das heutige eine beängstigende Wichtigkeit an! Man sollte sich nicht aus der Fassung bringen lassen, und doch – dies Wiedersehen mit meiner Schwester nach fünfzehn Jahren, in welchen wir uns völlig auseinandergelebt haben –! Ihre Kinder, zwei erwachsene, fremde Menschen, zu denen man Verhältnis und Umgangston erst vorsichtig suchen muß? Es ist etwas beinah Widersinniges darin, und alles rückt gleich so unentrinnbar nahe an unser Leben heran, in unser Leben hinein –«
Er stockte, sah auf Marlise und streckte ihr mit einer fast bittenden Bewegung seine Hand hin. »Und wir beide, Marlise?« fragte er, »was wird aus uns, wenn die fremden Geister in unser Eck eindringen?«
Marlise sah sein halbes Lächeln, das der Frage eine scherzhafte Leichtigkeit anspotten wollte; aber sie konnte nicht mit ihm lächeln. Ein kleiner, heißer Schreck stieß ihr in die Brust und mit dem Schreck ein jähes Begreifen: sie wußte mit einem Male, daß Onkel Joseph der Zukunft genau so bänglich entgegensah wie sie selbst, daß er nichts so sehr fürchtete wie die Trübung ihres Zusammenlebens, die Gefährdung ihrer umhegten Einsamkeit. Und sie konnte plötzlich aufatmen, befreit und erlöst, – wenn er es ebenso empfand, dann war ja im Grunde alles gut, nichts ernsthaft Trennendes konnte sich zwischen sie drängen, und damit war dem Neuen, das kommen mußte, sein schlimmstes Gesicht genommen! Nein, man durfte sich nun keinesfalls mehr bei schwarzseherischen Befürchtungen aufhalten, um Onkel Josephs willen durfte man das nicht –
Sie nahm seine ausgestreckte Hand, umschloß die kühlen, nervösen Finger mit ihren beiden warmen Händen. »Ach, Onkel, was denkst du denn?« fragte sie, und in ihrer Stimme war ein zarter, schmeichelnder Vorwurf. »Und wenn sie uns das ganze Eck auf den Kopf stellen und dir wer weiß was zu schaffen machen, – was geht das dich und mich an? Wir bleiben doch, die wir sind! Sei unbesorgt, du sollst in allem Trubel ein Stückchen von unserer Stille wiederfinden, denn die liegt zwischen uns und in uns wie ein unsichtbares Königreich. Glaubst du das nicht, Onkel Joseph?«
Er drückte ihre Hand. Über sein verwachtes Gesicht breitete sich ein Glanz tief innerlicher Erleichterung. »Ich glaube es dir,« antwortete er nur.
Schweigend beendeten sie ihr Frühstück. Dann ging er hinauf, um sich zur Reise fertig zu machen. Sein Zug ging in einer Stunde, am frühen Nachmittag dachte er mit den Verwandten zurückzukehren.
Marlise war fast ein wenig bewegt, als er von ihr Abschied nahm. Sie hätte ihm noch einmal sagen mögen: »und sorge dich nicht um uns beide –«, aber sie fühlte eine Scheu, den Gegenstand zu berühren.
Er hielt schon die Haustür in der Hand, da kam er noch einmal zurück zu ihr, die ihm aus der dämmerigen Diele nachsah. Leise zog er sie an sich und küßte sie auf Stirn und Haar, was er seit ihren Kindertagen nicht mehr getan hatte.
Sie lächelte ihm zu, dankbar und herzlich aufmunternd, bis er gegangen war.