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9

In dem großstädtischen Mietshause steigt Marlise langsam drei graue, häßliche Treppen hinauf. Aus jedem Stockwerk dringt ein anderer Lärm hervor, Kindergeschrei, Klaviergehämmer, schwatzende Stimmen. Unter den Fenstern liegt das Gewirr der Höfe und kümmerlichen Gärtchen im letzten Tageslicht als mißfarbiger Teppich zwischen fahlen, hundertaugigen Mauern ausgebreitet.

Marlise bemerkt wenig von dem allen. In ihrem Kopfe summt eine schwindelnde Müdigkeit vom stundenlangen Gehen, Herumstehen, Hasten, Geschobenwerden in menschenerfüllten Straßen und Läden. Sie ist mit Päckchen und Tüten beladen: Eßwaren für die nächsten Tage und ein paar Gebrauchsgegenstände, die einzukaufen keinerlei Spaß noch Anregung mit sich bringt.

Als sie die Wohnungstür aufschließt, an welcher neben zwei anderen Namensschildern Tante Franziskas Besuchskarte angenagelt ist, schlägt ihr aus dem Vorsaal jene schale, unfrische Luft entgegen, die sie bei sich als »den Geruch nach fremden Leuten« bezeichnet, das unausrottbare Merkmal von Räumen und Möbeln, die Jahre hindurch von bald dieser, bald jener Mietspartei mit ihren verschiedenartigen Parfüms, Mottenpulvern und Küchendünsten bewohnt waren. Der Vorsaal ist dunkel, mit Schränken verbaut, Marlise stößt sich an drei Kanten, ehe sie die Küchentür erreicht und ihre Einkäufe aus der Hand legen kann.

Im Schlafzimmer der Klotzschen Damen, das mit einer billig gefühlvollen Eleganz eingerichtet ist – Wandbehänge aus meergrünem Satin und Gardinentüll hinter den Betten, weißer Mull und Atlasschleifen um den Toilettentisch, allerlei unpraktische Hockerchen und Wandkörbchen, Spitzendeckchen und Seidenkißchen –, in dieser nicht tadellos aufgeräumten Umgebung kauert Adelina auf dem Bett, zusammengeringelt wie ein Kätzchen, und liest bei der rosa umschirmten Lampe in einem Romanband mit anreißerischer Umschlagzeichnung. Auf dem Nachttisch ruhen der zerflederte »Lehrgang der Stenographie« und einige Schreibhefte friedlich bei einem fettfleckigen Papier voller Kuchen- und Schokoladekrümel.

Marlise sieht das alles ohne Erstaunen, sie kennt es zu genau, nach fast drei Monaten, die sie nun hier ist. Sie nimmt nur die Hefte vom Nachttisch, blättert darin und fragt: »Hast du wenigstens die Aufgaben für morgen fertig?«

»Mach ich nachher!« Der rote, zerzauste Kopf bleibt tief über die Romanseiten gebeugt.

»Mädel, wo hast du bloß wieder den Schmöker her?« lacht Marlise und entreißt Adelina mit flinkem Griff das Buch. »Pfui, Henker, was für ein Bild! Der Inhalt wird dementsprechend sein –«

»Ganz und gar nicht!« erwidert Adelina verächtlich und wirft sich gähnend auf das Kopfkissen zurück. »Nach dem Einband dachte ich wunder was für aufregende Enthüllungen drinstehen würden, aber schließlich ist's nichts als der gewöhnliche, öde Kitsch. Aber die eine im Kurs – ich weiß nicht einmal, wie sie heißt – meinte ja, das müsse ich unbedingt lesen – so ein Schaf! Sonst ist sie nett und geht so flott angezogen, ich wollte, ich könnte mich so großartig frisieren wie die; aber bei meinem Wuschelhaar –! Du, Marlise, die kleine Meißner, der die Stenographie absolut nicht einleuchtet, die geht nun wirklich filmen! Sie hat so lächerlich davon erzählt, wie es da zugeht, im Filmtheater – na, ich danke! Aber natürlich gibt's eine Menge furchtbar Interessantes zu sehen, und glänzend bezahlt kriegen sie da. Die kleine Meißner hat sich gleich eine feine Wolljacke gekauft, und heute hatte sie herrliches Konfekt mit –«

Das Geschwätz plätschert behaglich weiter, während Marlise sich im Nebenzimmer umzieht. Jetzt kommt sie zurück, in der weißen Schürze, die sie so hausmütterlich macht. »Steh auf, Adelina, bitte! Du mußt dich ordentlich machen und den Tisch decken, Stephan wird bald da sein, und du weißt, er muß gleich nach Tisch wieder fort. Wo ist übrigens Tante? Kommt sie zum Essen?«

»Wo wird sie sein?« tönt es knurrig vom Bett her, »bei ihren geliebten Steffensens natürlich! Und ob sie deren Lampreten nicht deinen Kochkunsterzeugnissen vorziehen wird – ja, das kann ich dir doch nicht sagen!«

Marlise fragt nicht weiter. Sie geht und macht Licht im Wohnzimmer, das groß und ziemlich behaglich ist, nachdem Marlise die bösesten Geschmacksgreuel an Bildern und Nippsachen hat verschwinden lassen. Die Hängelampe über dem runden Mitteltisch, an dem gegessen wird, hat sie mit einem hübschen Schirm umkleidet, Tischdecke, Divandecke und Kissen stammen aus dem Eck, Marlise hat sie durch Fräulein Sophie herschicken lassen. Der eine Fensterplatz ist Marlises besonderes Reich. Da ihr Schlafstübchen nicht mehr ist als ein schmaler Ritz, der Bett, Waschtisch und Kleiderschrank notdürftig beherbergt, hat sie sich hier mit ihrem bißchen heimatlichen Kram eingerichtet: ein paar Beurenbacher Ansichten an der Wand, Onkel Josephs und Frau Stauffers Bilder auf dem Tischchen zwischen Marlises Handarbeit, Schreibzeug und Büchern. Stephan behauptet, hier rieche es deutlich nach dem Eck; aber der Duft des Alpenveilchenstocks, den er eines Tages auf das Fensterbrett gestellt hat, mischt sich sehr lieblich mit hinein.

Marlise hält Umschau, räumt und wischt hie und da ein bißchen; die Aufwartfrau, die täglich ein paar Stunden kommt, nimmt es mit dem Reinmachen nicht sehr genau. Dann springt Marlise in die Küche; denn Marlise kocht auch. Tante Franze versteht wohl, einen herrlichen Speisezettel zu entwerfen, weiter aber auch gar nichts. Adelina – ach du lieber Himmel –! Und was die Aufwartfrau in den ersten Wochen zusammenschmurgelte, schmeckte gar zu abscheulich. Da hat Marlise es einfach einmal probiert; sie hat Fräulein Sophie gelegentlich dies und jenes abgeguckt und besitzt den gewissen glücklichen Griff für häusliche Dinge, der unerlernbar und unbezahlbar ist. Übrigens hat sich eine Beraterin in allen wirtschaftlichen Fragen in nächster Nähe angefunden: Fräulein Brand, eine Tante der Beurenbacher Pfarrfrau, wohnt im selben Hause in einer puppensauberen, molligen Mansardenwohnung, und das muntere, ältliche Dämchen ist dem Beurenbacher Kind sofort in herzensfreundlicher Weise entgegengekommen.

Marlise klappert geschäftig mit Töpfen und Tellern umher. Als sie das fertige Kartoffelgericht in die Kochkiste verwahrt, wird draußen ein Schlüssel ins Schloß gesteckt – Tante Franze? Nein, es ist Stephan. Marlise hört ihn in sein Zimmer gehen. Also geschwind die Fische in die Pfanne, auf Tante Franze kann nicht gewartet werden. Wenn nur Adelina inzwischen den Tisch gedeckt hat!

Sie hat es getan, unordentlich genug freilich, und von ihr selbst ist nichts zu sehen, als Marlise mit dem Essensbrett ins Wohnzimmer tritt. Aber Stephan kommt ihr entgegen, schließt hinter ihr die Tür, rückt ihr den Stuhl zurecht, es ist, wie früher, seine tadellos höfliche Art. Wie früher und doch ein wenig anders; eine zarte und dankbare Ritterlichkeit ist in seinen kleinen Hilfeleistungen, eine fast schuldbewußte Nachdenklichkeit in seinem verstohlenen Blick auf Marlises Hände, die von ihrer blütenrosigen Gepflegtheit einiges eingebüßt haben.

»Mutter –?« fragt er, »wohl bei Steffensens?«

»Ich denke. Sie kommt wohl noch –«

»Und das Wurm?«

»Wird gleich erscheinen – Adelina!« ruft Marlise ins Schlafzimmer, »der Fisch wird kalt!« Aber nebenan rührt sich nichts.

Sie sitzen sich ziemlich schweigsam gegenüber. Stephan ist abgespannt und hustet, Marlise weiß, daß er den deutschen Winter und die heiße, trockene Luft der Bureauräume nicht gut verträgt. Es scheint auch als befriedige ihn seine Tätigkeit nicht sonderlich, da er aber nichts davon verlauten läßt, mag man nicht fragen. Dann, nach dem letzten Bissen, muß er wieder fort, er nimmt des Abends Stunden in irgendwelchen kaufmännischen Fächern, in denen es ihm mangelt.

Marlise räumt ab, lüftet und ordnet die Zimmer. Sie fühlt sich matt und vereinsamt, das liegt nicht an der fremden Luft, den fremden Sachen, es liegt an der freudlosen Zerfahrenheit der Tage und an der immer erneuten Mühsal, daran zu bessern. Aber Marlise kann nicht anders.

Sie geht ins Schlafzimmer. Dasselbe Bild wie vorher: der Roman, der zerzauste Kopf, der blauseidene Kimono, der einmal sehr elegant gewesen sein mag, jetzt ist er voller Flecken und unter den Armen zerrissen. Es hilft nichts, ein wenig Schelte muß sein: dies Herumfaulenzen, ungekämmt und im Schlafrock, sei unausstehlich, der ganze Nachmittag werde wieder vertrödelt, und es gäbe doch noch reichlich zu tun! Und was solle das heißen, einfach nicht zum Essen zu kommen? Es sei so unfreundlich gegen Stephan, der gerade nur diese halbe Stunde daheim sein könne, und Adelina werde doch nicht etwa verlangen, daß Marlise ihr das Essen ans Bett bringe oder später extra für das gnädige Fräulein auftrage –

»Verlang ich ja gar nicht, Maria, sei doch nicht komisch! Ich hab keinen Hunger gehabt, ganz einfach, und du machst wieder ein Staatsverbrechen daraus!«

»Keinen Hunger? Du hast seit sechs Stunden nichts gegessen –«

»So dumm!« lacht Adelina schnippisch und schielt nach dem Kuchenpapier auf dem Nachttisch.

Marlise greift danach, um es zu beseitigen. »Von solch einem Stückchen wirst du doch nicht satt –« Aber da sieht sie auf dem Papier eine lange Rechnung und die Summe, die all die Törtchen und Schnittchen und Mohrenköpfe ergeben haben, und nun wird sie wirklich böse. »Adelina! wie kannst du so ein Sündengeld dafür hinauswerfen! Das ist ja sinnlos – das ist mehr als ich in drei Tagen für unser aller Mittagbrot verbrauche! Hast du denn immer noch nicht begriffen, daß wir uns einschränken müssen? Und überhaupt – wo hast du das viele Geld her? Vorige Woche stöhntest du schon, du wärest gänzlich ausgebeutelt –«

»Woher soll ich's denn haben, Schockschwerenot!« zetert Adelina erbost, »Mama hat mir doch einen Dollar geschenkt, neulich, wie ich so heulte! Meinst du, ich hätt's gestohlen? Meinst du, ich hab' einen reichen Liebhaber?«

Es ist Marlise nicht gegeben, auf dergleichen zu antworten. Sie ist ganz blaß geworden und wendet sich zur Tür; aber auf der Schwelle bleibt sie dennoch stehen. »Du solltest dich schämen!« sagt sie hart und heiser. »Daß du so etwas auch nur denkst –! Ich weiß nicht, woher kommen dir solche Widerwärtigkeiten in den Kopf –?«

»Woher? Und da fragst du noch?« Adelina ist im Bett emporgeschnellt, in ihren Augen brennt die helle Empörung. »Ihr habt mich doch hineingesteckt, du und Stephan und Mama, in diese ekelhafte Schule, unter all diese ungebildeten, ungewaschenen, proletenhaften Geschöpfe! Was glaubst du wohl, was für Redensarten und Gespräche ich da zu hören bekomme, was da für saubere Geschichten und Klatschereien verzapft werden! Ich sollte ja durchaus einen Beruf ergreifen, wie Krethi und Plethi – und nun wundert ihr euch, wenn ich den Ton von Krethi und Plethi annehme? Ich bin kein dummes Gör mehr, ich hab' Augen und Ohren und meinen Grips im Kopf –«

»Sei still!« springt Marlise glühend in den Wortstrudel hinein. »Es ist nicht wahr, daß die Schule schuld ist und die anderen Mädchen! Stephan hat sich genau erkundigt, ehe er dich dort anmeldete, und ich hab' mir die Sache angesehen, jedesmal wenn ich dich abholte, und ich weiß: es sind mindestens ebenso viele gebildete, sympathische Mädchen da wie – wie von der anderen Sorte. Aber du bist es selber, die nur Aufmerksamkeit für die andere Sorte hat, immer spürst du nur denen nach, die die flottesten Kleider und die gewagtesten Frisuren haben, und die die aufregendsten Geschichten erzählen. Wenn du Augen und Ohren und Grips hast, warum gebrauchst du sie nicht, um das Gute und Wertvolle zu suchen, das es überall gibt, auch in der Handelsschule? Aber dazu hast du keine Lust, du machst dich ja absichtlich mit den Oberflächlichen und Leichtsinnigen gemein, aus Bock und aus Neugier! Nur irgend etwas Abenteuerliches willst du erfahren und erleben, irgendwie –«

Marlise unterbricht sich jäh; mit weiten, dunklen Augen, die Adelina nicht mehr sehen, steht sie und horcht der eigenen Stimme nach: hat diese Stimme nicht ganz ähnliche Worte gesprochen, vor gar nicht langer Zeit? »Mich versuchen und erleben will ich, mich herumschlagen mit den Menschen und der Stadt und dem unbekannten, ungeordneten Kram –.« So hat das starke Verlangen aus ihr gerufen an jenem Abend in Onkel Josephs Zimmer –, was ist es anderes gewesen als die gleiche Sehnsucht nach neuen Dingen, nach Erlebnis und Abenteuer, die Adelina empfindet? Und darf man Adelina schelten, weil sie diese Sehnsucht in die Farben ihres leichtherzigen, sinnenfrohen Wesens taucht? Niemand hat Adelinas schweifenden Blick auf die edlen und reinen Schätze des Lebens hingelenkt, ihr Wünschen kennt nur die bunten, schillernden Dinge, die man für Geld kaufen kann, und den halb verbotenen Reiz spielerischer Liebesgeschichten, die sie selber nicht ernst nimmt –, darf man sie verurteilen, weil sie nicht gelernt hat tiefer zu sehen und tiefer zu fühlen?

Marlise ist ins Wohnzimmer getreten. Die Stille des unheimlich schweigenden Raums singt ihr in den Ohren, sie starrt verloren auf Onkel Josephs Bild und auf Stephans Alpenveilchen, dessen große, weiße Blüten geisterhaft aus dem Halblicht schimmern –, oh, was geht vor mit ihr und in ihr? Warum ist sie hier –? Erleben –, aber was? was nur? Eine feine, unbestimmte Angst beschleicht sie – und Adelinas klägliche Stimme, die plötzlich nach ihr ruft, ist ihr wie eine Rettung. Hier liegt ein begreifliches, einfaches und sicheres Tun vor ihr –

Sie geht hinein; sie beschwichtigt Adelina, die in drollig verblüffter Zerknirschung ganz klein geworden ist, mit ein paar sanften Worten und einem Kuß –, es ist sehr leicht, diesen Kindskopf zu beschwichtigen. Und dann sitzen sie bei der Wohnzimmerlampe über Adelinas Stenographieaufgabe, Marlise überhört und verbessert, sie hat von Anfang an mitgelernt und weiß fast so gut Bescheid wie Adelina selbst.

Die verschnörkelte Bronzestutzuhr, die Stephans und Marlises wochenlange Bemühungen endlich in einigermaßen zuverlässigen Gang gebracht haben, schlägt acht, Marlise steht auf, um Tee und Brötchen zu besorgen. »Ob wir auf Tante warten –?«

Adelina wehrt ab. »Unsinn! Wer weiß, wann Steffensens sie loslassen!«

Konsul Steffensen – der Name ist das rote Tuch für Adelina – hat lange Jahre in Brasilien zugebracht, jetzt lebt er als reicher Privatmann seinen schriftstellerischen und wissenschaftlichen Neigungen, die sich alle auf die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der südamerikanischen Länder beziehen. Er ist Witwer und macht als Vater von mehreren jungen Söhnen und Töchtern ein großes Haus. Die Bekanntschaft mit Klotzens ist durch gemeinsame Brasilianer Freunde vermittelt worden, und Tante Franze kann den Zufall nie genug preisen, der sie gerade in diese Stadt und in Konsul Steffensens Haus geführt hat. Durch ihre erstaunliche Anpassungsfähigkeit, ihre frische, liebenswürdige und weltläufige Art und nicht zum wenigsten durch ihre unauslöschliche Begeisterung für alles, was mit »drüben« zusammenhängt, hat sie sich nach wenigen Wochen einen warmen und sicheren Platz bei Steffensens geschaffen. Sie geht dort ein und aus wie bei langjährigen Freunden, sie ist die Beraterin der jungen Töchter in manchen gesellschaftlichen Fragen, die Gehilfin und unermüdliche Zuhörerin des Konsuls bei seinen Arbeiten, seinen Forschungen und Ausführungen über brasilianische Verhältnisse.

Tante Franze ist sehr glücklich gewesen über diesen Verkehr, der sich so schnell anspann: welch ein Gewinn für Stephan und Adelina, daß ihnen die Geselligkeit dieses glänzenden Hauses in weitgehendem Maße offensteht! Aber es hat sich gezeigt, daß die Kinder das Glück gar nicht zu schätzen wissen. Stephan behauptet an seinen wenigen freien Abenden zu müde zu sein, um am Tanzen, Tafeln und Hofmachen Geschmack zu finden, und Adelina hat nach den ersten Besuchen deutlich zu verstehen gegeben, daß es ihr im Hause Steffensen gar nicht gefalle und daß sie »den Zimt« nicht wieder mitzumachen gedenke.

Es ist neun Uhr vorbei, als Tante Franze heute heimkommt, strahlend munter und angeregt, gönnerhaft und gemütlich. »Ach, ihr armen Mäuse, wie sitzt ihr hier trübselig bei eueren Schulheften! Aber da habt ihr Tee, ja, danke, Maria, ich trinke gern eine Tasse, der ewige Wein und Kognak und Likör bei Steffensens macht einen schließlich nur durstig. Aber so interessant war es wieder, Kinder –,« und sie erzählt von Gästen von »drüben«, die zu Tisch da waren, so daß man sie, Frau Klotz, natürlich nicht fort ließ; von Herrn Steffensens Buch über die Entwicklung der deutschen Siedlungen in Rio Grande do Sul, an dem er jetzt arbeitet, wobei sie ihm mit Sichtung des Materials, Ordnen der Notizen und Auszügen aus seiner Bibliothek behilflich ist. Sie erzählt auch, daß in vierzehn Tagen ein Riesenempfang mit künstlerischen Veranstaltungen bei Steffensens stattfindet, wer alles erwartet wird von der ersten Gesellschaft der Stadt, Künstlern und wissenschaftlichen Größen. »Herr Konsul hat ausdrücklich gefragt, Adelina, ob du mich diesmal nicht begleiten wirst, und Fräulein Isa läßt dich grüßen und wird dir einen entzückenden Tischherrn aussuchen! Du solltest doch nicht dumm sein, Herzchen, und dir dies Vergnügen nicht entgehen lassen, wo du jetzt wahrhaftig wenig genug von deiner Jugend hast!«

Adelina wirft den Kopf auf. »Was soll ich da? Mich von dem blödsinnig reichen Volk begönnern lassen und dazu die dankbar Untertänige spielen? Mein Kleid vom vorigen Jahr unter all den hypermodernen Protzentoiletten herumziehen? Ich danke.«

»Aber Kind! Dein blaues Crêpe de chine-Kleid ist wunderschön und so gut wie neu!«

Ein Naserümpfen voll unsäglicher Verachtung. »Mode von vorgestern, und dazu noch Mode von Sao Paolo. Meinst du, ich weiß nicht, daß man jetzt ganz andere Dinge trägt?«

»Und wenn schon! Ein junges Mädchen wie du wirkt immer nett und anziehend, wenn auch die Toilette nicht › dernier cri‹ ist.«

»Ach, das sagen die Mütter immer, sobald es zu einem neuen Kleide nicht langt! In Sao Paolo hast du nicht so geredet.«

»Dort war alles anders. Aber wenn sich unsere Verhältnisse auch leider geändert haben, von unserer gesellschaftlichen Stufe sind wir deshalb nicht herabgestiegen –«

Adelina lacht dreist in der Mutter Worte hinein, es ist ein ungutes Lachen. »So? meinst du? Vielleicht bist du nicht herab gestiegen, Mama; aber ich –? Was denkst du wohl, was ich mit dem entzückenden Tischherrn bei Steffensens anfangen soll und er mit mir? Von Bällen und Kostümfesten und Opernhausbesuchen und Wintersport kann ich nicht mitreden, und wenn er mich am Ende seiner Weisheit fragt: ›Womit beschäftigen sich denn gnädiges Fräulein?‹ soll ich dann sagen: ich gehe in eine Handelsschule und werde nächstens eine Stellung als Tippfräulein annehmen – wie?«

»Du bist töricht, Adelina. Es gibt heutzutage viel reichere Mädchen als du, die einen Beruf ergreifen –«

»Glaub' ich nicht, daß sie so dumm sind! Und wenn wirklich, so bilden sie sich in Musik aus oder studieren oder werden Kunstgewerblerin, – in die Handelsschule und ins Büro gehen sie sicher nicht. Nun gut, ich tu's, weil ihr es durchaus für nötig haltet, aber nun laßt mich gefälligst auch zufrieden mit euerer Geselligkeit in den ersten Kreisen! Ich werde mir mein bißchen Vergnügen schon selber suchen, wo ich's eben finde und wie es für mich paßt, – da ich doch nun einmal zum sogenannten arbeitenden Volke zählen soll!«

Das letzte Wort erstickt in ohnmächtigem Trotz. Adelina wirft sich in den Schaukelstuhl zurück, daß er fast umkippt und nimmt ein Modenheft dicht vor die Nase: sie ist nicht mehr zu sprechen.

Tante Franze hat nur die Achseln gezuckt: »Des Menschen Wille ist sein Himmelreich.«

Inzwischen ist auch Stephan heimgekommen und hat sich seinen Platz am Tische gesucht, ohne irgend ein Aufhebens von sich zu machen. Das kochende Wasser für seinen Tee holt er selbst aus der Küche und läßt es nicht dazu kommen, daß Marlise ihm die Brötchen zurecht macht.

Marlise sitzt sehr tief über ihre Handarbeit gebeugt, innerlich zitternd. Ihr graut vor dem aufsässig erbitterten Ton, den Adelina gegen ihre Mutter anschlägt, und sie begreift es nicht, daß Tante Franze ihn so gleichmütig hingehen läßt. Da sie es tut, hat Marlise keine Berechtigung sich einzumischen, aber daß sie derartige Szenen mitanhören muß, bringt sie oft dem heimlichen Weinen nahe. Allein Stephans Anwesenheit erleichtert sie ein wenig; an seinen heftig gerunzelten Brauen erkennt sie seine schweigende Bundesgenossenschaft mit ihrer Entrüstung.

Jetzt hat er Adelinas Schreibhefte zur Hand genommen, durchblättert sie und fragt: »Hast du dich nun endlich für den Buchführungskurs nach Neujahr angemeldet?«

Nur ein unverständliches Knurren hinter dem »Wiener Chic« antwortet. Da zieht er ihr einfach das Blatt aus der Hand. »Also jetzt reden wir mal vernünftig, Lina. Wie ist's mit dem Kurs?«

»Gar nichts ist.«

»Hast du dich nicht angemeldet?«

»Ich denke nicht daran! Wozu denn? Kapieren tu ich doch nichts davon. Die Stenographie hat mir gerade genug Not gemacht, und in vier Wochen ist Schluß mit der blöden Lernerei.«

»Was –? Jetzt schon? Aber bestes Kind, glaubst du denn, ein Vierteljahr Stenographie und Schreibmaschine sei Vorbildung genug für eine gute Bürostellung?«

»Jawohl, das glaub' ich. Mein Ehrgeiz geht gar nicht höher als nach einer netten Stenotypistinnenstellung, wo man seinen Kram diktiert bekommt und sich sonst nicht anzustrengen braucht. Rechnen und Bücherführen und sogenannte selbständige Arbeit – danke, das ist nichts für mich. Ich hab' Sprachkenntnisse und schreibe jetzt schon hundertsechzig Silben, mehr brauche ich gar nicht, um in einem anständigen Büro anzukommen.«

»Du bist ja sehr genau unterrichtet –«

»Natürlich! Denkst du, ich kümmere mich um gar nichts, und warte nur geduldig ab, was mein Herr Bruder über mich beschließen wird? Nein, mein Lieber. Wenn ich nun einmal auf eigenen Füßen stehen soll, wie ihr das nennt, so mag's denn in drei Teufels Namen möglichst bald damit losgehen, damit ich zum Genuß der einzigen Annehmlichkeit komme, die dabei zu finden ist: daß ich nämlich mein eigenes Geld verdiene und mein eigener Herr bin!«

Stephan starrt seine kleine Schwester an, schmerzhaft verblüfft. Frau Franziska liest in der Zeitung und hört nicht auf das, was die beiden da reden.

»Seid doch froh, daß ich euch so bald von der Tasche gehe, Mutter und du!« fährt Adelina fort, mit einem gereizten Triumphlachen, das wie Schadenfreude klingt. »Und das sage ich euch schon heute, – dir auch, Maria: dann lasse ich mir nicht mehr auf die Finger sehen, um jede Mark, die ich für meinen Spaß ausgebe –«

»Hör auf!« fällt Stephan ihr heftig ins Wort, »du weißt nicht, was du redest! Nichts weißt du, – wie schwer es ist, – und willst hier das große Wort führen –«

»Kinder! aber Kinder!« Tante Franze blickt entrüstet von ihrer Zeitung auf. »Könnt ihr denn nicht Frieden halten? Stephan, was tust du ihr?«

»Ich – ihr?« wiederholt er, das Blut schießt ihm in die Stirn, und er findet nicht weiter. Adelinas Überlegenheit aber fällt plötzlich zusammen, wie jedesmal, wenn ihr Auftrumpfen auf tiefer liegenden Widerstand trifft. Sie schluchzt auf, – vielleicht nicht ganz unwillkürlich, da sie die Mutter zur Parteinahme für sie bereit sieht. In kleidsamer Gekränktheit räumt sie das Feld.

»Stephan, nimm doch ein bißchen Rücksicht!« mahnt Tante Franze vorwurfsvoll. »Sie ist doch so ein Kind! Und sie hat es wirklich nicht leicht!« Sie folgt Adelina ins Schlafzimmer, drinnen hört man ihre tröstende Stimme.

»Ob sie ihr nun wieder Geld schenkt zur Entschädigung?« denkt Marlise, – an der Gehässigkeit ihres Einfalls merkt sie, wie erregt und unglücklich sie selber ist.

Sie steht auf, geht an ihren Fenstertisch, kramt zwecklos darauf umher, zwischen Onkel Joseph und der Mutter Bildern. Wie immer in solchen Augenblicken packt sie ein reißendes Heimweh nach dem Eck. Hier –? ach, es ist schrecklich hier, man weiß nicht was man tun soll und warum man dies erträgt –

Dies ist nicht das bedeutsam Abenteuerliche, das zu erleben so stark lockte, dies sicher nicht –

Sie wendet sich, um aus dem Zimmer zu schlüpfen, ehe Tante Franze oder Adelina zurückkommen, sich in ihr kaltes, enges Schlafstübchen zu flüchten, wo sie wenigstens allein ist. Da sieht sie Stephan noch am Tisch sitzen. Er starrt in die Lampe, blicklos; sein Gesicht und seine Haltung drücken jene stumpfe, zerschlagene Müdigkeit aus, in der eine Art Verzweiflung ist. Und bebend heiß steigt es in Marlises Brust empor, der drängende Wunsch, nahe zu ihm hinzutreten und mit leiser Hand über sein Haar zu streichen, liebkosend und zart –

Wie eine Welle strömt das heran, schwillt empor, wirft sich vernichtungsselig über seinen Höhepunkt hinab und zerrinnt –

Marlise ist aus dem Zimmer gegangen, in ihrem Schlafstübchen steht sie und fröstelt. Hier ist es dunkel, und nichts erinnert sie mehr an das Eck; aber sie empfindet es nicht, das Heimweh ist ihr entglitten, und sie weiß es nicht.

Ihr Herz, wundersam berührt, schwingt in einem neuen Ton und zittert, – vor zagem, zärtlichem Staunen über sich selbst.


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