Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10

Lieber Onkel Joseph –« steht oben auf dem leeren Briefblatt, vor welchem Marlise schon seit einer halben Stunde sitzt, ratlos und zergrübelt. Heute endlich wollte sie schreiben, daß sie zu Weihnachten bestimmt wieder zu Hause sein wird; fast vier Monate sind es dann, daß sie hier ist, höchstens drei hatte sie in Aussicht genommen – und nun ringt sie doch vergeblich um den endgültigen Entschluß.

Was ist es, das sie hier so eigensinnig festhält? Adelina –? Ja und ja! Da ist so vieles, was einer leise helfenden Hand zu bedürfen scheint. Marlises Sorge um das kleine, wilde Mädchen ist nur noch gewachsen, und sie gesteht sich in schmerzhafter Scham, daß sie bisher wenig genug erreicht hat an gütig bessernder Beeinflussung. Nein, sie kann noch nicht fort, es geht wirklich nicht. Und es ist nicht Adelina allein, es ist das Ganze hier; als müsse dies notdürftig zusammengestückte Hauswesen auseinanderfallen, sowie es sich selbst überlassen bliebe. Tante Franze, so selbstsicher sie immer scheint, unangefochten von den Kleinlichkeiten des Alltags, ist doch sehr abhängig von Marlises häuslicher Hilfe. Und Stephan –; er trägt am schwersten an den neuen Verhältnissen, muß man ihm nicht wenigstens das bißchen heimisches Behagen erhalten, das in regelmäßigen, genießbaren Mahlzeiten, einem freundlichen Tisch und aufgeräumten Zimmern liegt? Könnte man nur mehr tun, ihm ein klein wenig tragen helfen von dem, was auf seiner Seele lastet und was er streng verschließt! Wann kommt eine Stunde wie die der Berglinger Straße, voll vertrauender Offenheit und sicherem Zusammengehen? Fast ist es, als könne Marlise nicht fort, ehe diese Stunde gekommen ist.

Sie ergreift die Feder, – »lieber Onkel Joseph –« und legt sie doch wieder hin, in einer plötzlichen Feigheit. »Morgen –,« denkt sie und schließt unwillkürlich die Augen.

Unbehaglich umfängt sie die frühe Dämmerung und die Leere der fremden, feindlichen Räume. Tante Franze ist bei Steffensens, wo heute der vielberedete Empfang stattfindet und es für sie vor Beginn des Festes allerlei kleine, unterhaltende Helferpflichten gibt. Adelina ist ebenfalls fort, – »bummeln gegangen«, wie sie sagt, mit einer Mitschülerin; also etwa ein Kinobesuch, ein ausführliches Herumschlendern vor Schaufenstern und durch ein Warenhaus, schließlich ein Stündchen molliges Sitzen, Schmausen, Sehen und Gesehenwerden in einer Konditorei. Marlise kennt diese Art Vergnügungsprogramme, die sehr anspruchslos aussehen und denen Adelina sich mit der gleichen Begeisterung hingibt wie einstmals den Autofahrten, Pferderennen und Tanzfesten in Sao Paolo.

Ist Adelina nicht im Grunde beneidenswert, daß sie so unbedenklich ihre Freuden zu pflücken weiß? Und in dem plötzlich aufbegehrenden Gefühl: »ich auch –,« macht Marlise sich hastig zum Ausgehen bereit. In der Musikalienhandlung gibt es sicher noch Karten für ein Konzert heute abend. Warum soll sie auch wieder die Hausunke spielen? Warum nicht wenigstens die einzige reine Freude genießen, welche die große Stadt ihr bietet, den Genuß guter Musik? Wenig genug hat sie bisher die Gelegenheit dazu ausgenutzt.

Am Fenster der Musikalienhandlung hängen die Konzertanzeigen aus, Marlise liest und sucht, da ist nichts, was sie recht verlockt, und ihre Aufmerksamkeit wird abgezogen durch das grellbunte Plakat irgend einer großen Wohltätigkeitsveranstaltung, bei der die elegante Welt ihr nicht eben kleines Scherflein mühelos abführen soll: Konzert einer bestbekannten Kapelle, Kabarettvorführung, Tanzturnier und eine Modenschau, in der die ersten Bekleidungshäuser der Stadt ihre Schöpfungen vorzeigen.

Diese letzte Ankündigung liest Marlise zwei- und dreimal, denn etwas ist ihr eingefallen: daß sie vor einigen Tagen in Adelinas Schulheften einen Zeitungsausschnitt gefunden hat, eine kleine, merkwürdige Anzeige: »Junge Dame gesucht, schlanke Erscheinung, mittelgroß, blond, zur Vorführung eleganter Modellkleider am 17. Dezember.«

Der 17. Dezember, das ist heute, – und Marlisen wird es plötzlich siedend heiß. Adelina, – wenn sie sich dazu gemeldet hätte –! Es sähe ihr ähnlich, – aber – nein, nein, das ist doch nicht möglich! Es wird sich um eine Mitschülerin handeln, gewiß, – Adelina – nein, so etwas tut man doch nicht –!

Aber der Gedanke läßt sich nicht abweisen, er hat so unheimlich viel Wahrscheinlichkeit! Und Marlise erinnert sich, daß Adelina sich gestern hat das Haar waschen lassen, daß sie heute unendliche Zeit zu ihrer Nagelpflege gebraucht hat, und so ungemein vergnügt ist sie vorhin weggegangen, wie gespannt von spitzbübisch ungeduldiger Erwartung –

Lieber Himmel, was soll man nur tun? Man kann dies doch nicht geschehen lassen, diese Tollköpfigkeit, diese leichtfertige, verrückte. – Man müßte hingehen, Adelina zurückholen, – aber geht denn das, kann man das? Als junges Mädchen, – allein? Wo man selbst so ratlos ist?

Marlise ist wieder zu Hause, aber in peinvoller Aufregung bringt sie kaum ihr Mittagessen zustande. Als Stephan kommt, als sie sich am Tisch gegenübersitzen, kann sie fast keinen Bissen hinunterbringen vor schlechtem Gewissen, und sie fühlt sich glühend erröten, als er nach »dem Wurm« fragt und sie mit einer Lüge antworten muß, – denn eine Lüge ist es, sie ist jetzt fest davon überzeugt.

Wenn er wüßte, – ja, wenn er es doch wüßte, es wäre am allerbesten, es wäre Erleichterung und Beistand! Und – da fragt er schon, lächelnd, als könne es sich nur um eine Kinderei handeln: »Was hast du, Marlise? Du bist ja ganz verblasen, – hat das Wurm etwas angestellt, wie? Und du sollst es nun wieder ausbaden?«

Da sagt sie es ihm; alles was sie fürchtet.

Nun lacht er nicht mehr. Er hat sein härtestes, finsterstes Gesicht und sagt lange gar nichts. Dann wirft er den Kopf in den Nacken. »Ich gehe hin, natürlich. Ich werde nichts mehr verhindern können, aber dabei sein will ich wenigstens.«

Er ist aufgesprungen, da legt sie ihm die Hand auf den Arm. »Nimm mich mit,« bittet sie mit niedergeschlagenen Augen.

Er sieht sie an, – und dann nimmt er ihre Hand und drückt sie schnell und heftig. »Ja, Marlise. Ich danke dir. Du hast recht: dann sieht alles anders aus, für sie und für mich –«

Er sieht auf die Uhr. »Wann geht der Zauber los? Um sieben? So haben wir gerade Zeit. Wir können uns dort nicht anders als unter den zuschauenden Nichtstuern einführen, da wir schließlich nicht genau wissen, ob sie da ist. Mach' dich fein, Marlise! Dies müssen wir einmal für die Wohltätigkeit springen lassen.«

Der grimmige Spott in seiner Stimme tut Marlisen weh, um seinetwillen; aber sonst ist sie ganz ruhig geworden.

Sie sprechen fast kein Wort auf dem Wege. Stephans Blick streift häufig die feine Gestalt an seiner Seite: sehr vornehm sieht Marlise aus in dem schlanken, dunklen Straßenanzug mit dem Skunkskragen. Der kleine, silberblaue Samthut steht ihrem empfindlich belebten Gesicht entzückend.

Dann sind sie da. Die schmuckhaften Gebäude des großen Vergnügungslokals strahlen Licht zu allen Fenstern und Türen hinaus in den feuchten, finsteren Abend. In der Eingangshalle zwischen Spiegelwänden und Palmen fluten die Menschen ab und zu, Musik schallt aus den Festräumen. Marlise winkt Stephan zu: »Warte, ich will nachsehen.« – Sie findet eine Seitentür, fragt sich über Gänge und Treppen bis zu den Ankleideräumen durch, die für die bei der Modenvorführung beschäftigten Personen eingerichtet sind.

Irgend eine schwarze Gestalt, Türhüterin oder Garderobenfrau, hält sie am Eingang auf, fragt unwirsch nach ihren Wünschen. Marlise steckt ihr Geld in die Hand. »Ich wollte nur – ich suche meine Verwandte,« bringt sie mit trockenen Lippen hervor, »können Sie mir wohl Auskunft geben, ob sie hier ist?«

»Wie soll das Fräulein denn heißen?« fragt die Frau in plötzlicher, unangenehmer Dienstwilligkeit. Marlise zaudert, – aber da ist irgendwo eine Tür aufgerissen worden, und sie sieht in einen großen, blendend erhellten, mit Teppichen, Korbmöbeln und vielen geblümten Wandschirmen behaglich ausgestatteten Raum, in dem eine bunte, geräuschvolle Geschäftigkeit herrscht. Kleider, Mäntel, Hüte, Pelzsachen hängen und liegen überall, hübsche Mädchen, die lachenden Gesichter von vergnügter Erwartung oder von kunstvoll aufgetragener Schminke gerötet, stehen und trippeln umher, einige schon in der kostbaren Kleidung, die sie vorführen sollen, andere in auserlesen zierlichem Unterzeug. Die weißen Jacken der Haarkünstler, die Schürzen der Ankleidefrauen flitzen hierhin und dorthin, Schneider und Schneiderinnen, Gestalten von anspruchsvoller und korrekter Tüchtigkeit, die maßgebenden Angestellten der großen Modefirmen, bewegen sich anordnend und beaufsichtigend durch das Gewimmel.

Und irgendwo in dem Chaos sitzt Adelina im duftigsten Spitzenunterkleid und überläßt ihren Haarschopf dem Welleisen einer Friseurin, – ja, es ist Adelina, es ist ihr rosiges, von sorgloser Lustigkeit sprühendes Gesicht, sie lacht einem anderen jungen Mädchen zu, das ihr schwatzend und kichernd ein Witzblatt vor die Augen hält. Unter dem mit Bürsten, Nadeln, Dosen, Büchschen beladenen Tisch glitzert der Lackschuh ihres ungeduldig wippenden Füßchens.

Marlise hat genug gesehen. Sie ist ganz blaß, als sie zu Stephan zurückkehrt. Er sieht es, und hat nicht den Mut zu fragen. »Komm!« sagt sie leise und entschlossen, »wir müssen hinein; es ist schon so –«

Im Saal finden sie mit Mühe Platz an einem der winzigen, weißgedeckten und blumengeschmückten Tischchen auf den Estraden, die beide Längsseiten des riesigen Raumes einnehmen. Die übermäßige Helligkeit aus hunderten von Glühlampen flirrt wie ein goldiger Nebel vor den Augen, es flimmert der krasse Farben- und Linienwust der in einem wilden neuzeitlichen Stil gehaltenen Wandbemalung; die Luft ist heiß und unklar von Zigarettenrauch, Staub, Parfüm- und Kaffeegeruch und schwirrt vom Gesumm und Getön der Menschen, die den Saal dicht gedrängt erfüllen, Stuhl an Stuhl und Körper an Körper, ein regelloses Beet geröteter Gesichter heller und dunkler Gestalten; viel bunte, grelle Kleiderfarben dazwischen und die weißen Flecke der Tischtücher. Es ist allerhand schmucke Eleganz zu sehen neben simpler und aufgeputzter Geschmacklosigkeit, Herren und Damen im Straßenanzug, andere in gewählter Nachmittagskleidung, wieder andere in festlicher Tanztracht.

Marlise, die eine derartige Veranstaltung nie erlebt hat, blickt in dumpfer Neugier auf das bewegte Bild. Es könnte recht unterhaltend zu betrachten sein, wenn man hier nicht in dieser quälenden Beklommenheit säße, ungeheuerlich fremd inmitten der Menge gedankenlos fröhlicher Menschen.

Die letzten Nummern des Kabarettprogramms, irgend ein komischer Liedervortrag und die phantastischen Darbietungen einer Tänzerin, sind noch zu überstehen, dann, während das Orchester die Ouvertüre zur »Schönen Galathee« anstimmt, beginnt die Modenschau. Die Damen im Saal recken sich auf den Stühlen, Lorgnettengläser blitzen, und Marlise krampft in frierender Aufregung ihre Hände im Muff ineinander. Aber Adelina ist nicht unter der Schar anmutiger Mädchen, die von der Bühne aus in die freigehaltene Saalmitte herabsteigen, wo sie die Straßenkleider und Pelzmäntel eines großen Schneiderhauses ein paarmal auf und ab tragen, unter den bewundernden oder spöttischen Blicken, den lebhaften Urteilsäußerungen der Zuschauer. Nach den Mänteln marschieren elegante Hauskleider auf, Teekleider, Sportkostüme, zur Schau gebracht von den lebenden Wachspuppen, die in wohleinstudierter Gelassenheit, mit gedankenlos liebenswürdigen Gesichtern, die Wirkung der schönen Sachen an gefällig bewegtem Frauenkörper vorführen. Dann erst kommt der Knalleffekt, die Sensation: die auserlesenen Gesellschaftstoiletten einiger kleiner, unsäglich vornehmer, unsäglich teurer Modeateliers, deren Namen ehrfurchtsvoll wie die berühmter Künstler im Publikum ausgesprochen werden, – und da –, da ist auch Adelina.

Sie trägt ein unwahrscheinlich schönes Kleid aus schmiegsamster, glänzend schwarzer Seide, von ausgeklügelter Einfachheit des Schnitts, ohne jeden Ausputz bis auf das weich geschlungene, schärpenartige Etwas um die Hüften, das aus türkisgrünem Samt und irgend einer fabelhaften Silberstickerei besteht und von dem lange Seidenfransen und Perlengehänge zu beiden Seiten des Rockes herabfließen. Und Adelinas blondfarbener, rosenblütiger Reiz leuchtet aus diesem Gewand hervor, als sei es eigens für sie erdacht. Ihr Haar, mit bewußter Einfachheit höchst geschmackvoll geordnet, schimmert wie ein Goldhelm, ihr Nacken und ihre jungen, schlanken Arme heben sich wie weiße Nymphenglieder aus der dunklen Seide. Mit glänzenden Augen, die nichts und niemand sehen, ein kindlich beglücktes Lächeln um die Lippen, so trägt sie sich selbst und ihr Kleid durch den Saal, unschuldig und ahnungslos, unverletzlich eingehüllt in den Glanz der eigenen Schönheit.

Marlise sitzt und schaut und staunt mit großen Augen, die ihr plötzlich naß werden, sie weiß nicht warum. Sie hat das Gefühl, als sei Adelina aus einer großen Gefahr errettet, – ja, warum hat man sich nur so aufgeregt und gebangt? Das süße, strahlende Geschöpf dort, es feiert seine Jugend und Lieblichkeit auf diese unbedenkliche Weise nicht anders als ein Kind, das im Sonnenschein auf einer Wiese tanzt, einen Blumenkranz im Haar. Und müssen nicht die tausend fremden Blicke, die auf Adelina ruhen, klar und froh und gut werden? Müssen nicht alle Menschen spüren, daß ihr Bild sich reiner und holder über dem der anderen Mädchen erhebt, die diese Vorführung als eine gewohnte, gleichgültige Arbeit oder als einen gewinnsüchtigen Fang betreiben?

Marlise sitzt und schaut und fühlt fast ein Bedauern, als Adelina hinter der Bühnentür verschwindet. Dann aber, wie sie sich Stephan zuwendet, erschrickt sie über sein graues, finster verbissenes Gesicht. Was denkt, – was weiß er? Ach, gewiß Dinge, die fremd und schwer und beängstigend sind, die sie nicht begreifen kann und die ihn maßlos peinigen –

Wenn man jetzt ein Wort sprechen könnte, ein zartes, verstehendes, helfendes –! Aber sie sagt nur nach einer Weile fast demütig: »Ich will sie nun holen, – sie muß ja fertig sein –«

Dann steht sie wieder vor der Tür des Ankleideraums und hört drinnen den aufgeregten Tumult des Aufbruchs. Unbehindert diesmal und ohne Zaudern tritt sie ein, schwebende Hitze schlägt ihr entgegen und ein betäubender Geruch nach Seife, Puder und warmen Körpern. Alles rennt, wuselt, schiebt sich durcheinander in ausgelassenem Wirrwarr, über den fragenden, mahnenden, scheltenden Rufen der Aufsichtsführenden schwirren die hellen Mädchenstimmen, übermütiges Lachen, Necken und Schwatzen nach der überstandenen Arbeit, die halb ehrenvolle Mühe, halb aufreizendes Vergnügen war. Heiß blitzen die Augen unter den kunstvollen Frisuren, wohlig herausfordernd dehnen sich die schlanken Mädchenleiber, als sei aus den verführerischen Gewändern ein Strom ungebändigter Lebenslust in jeden einzelnen hinübergeflossen.

Marlise muß lange suchen, ehe sie Adelina entdeckt: in einem entfernten Winkel steht sie, schon im Mantel, und stülpt eben mit eiligen Händen ihr Pelzhütchen über das schöngewellte Haar; sie wird dunkelrot, als Marlise plötzlich vor ihr steht, – aber dann leuchtet ihr Gesicht auf wie in großer Erleichterung. »Ich bin fertig,« flüstert sie hastig, und packt Marlises Arm, »komm, komm, wir gehen.« – Sie wundert sich scheinbar gar nicht, sie fragt auch nicht: aber draußen im leeren Flur fällt sie Marlisen um den Hals: »O wie gut, daß du da bist, Maria, liebste Maria! Gerade fing es an so ungemütlich zu werden –«

Marlise küßt sie still. »Liebling! daß ich dich nur habe –; aber nun komm schnell, Stephan wartet auf uns. Und – mach' dich gefaßt, Lina: ich glaube, er wird nicht gut mit dir umgehen –«

Fürs erste kommt es dazu nicht, Stephan empfängt sie mit trockener Schweigsamkeit, und während der Heimfahrt im überfüllten Straßenbahnwagen kann kein Wort gewechselt werden. Aber je mehr man sich dem Hause nähert, um so heißer würgt die Bangigkeit Marlises Kehle, sie fühlt sich völlig zugehörig zu Adelina, deren Hand auf ihrem Arm zittert. Und – auch das noch: die Wohnzimmerfenster sind hell, Tante Franze also schon zu Hause! Wäre das nicht gewesen, man hätte vielleicht die ganze Geschichte totschweigen können, wie Kinder eine noch leidlich abgelaufene Untat in treuer Spießgesellenschaft unter sich begraben; aber davon kann nun nicht die Rede sein.

Und Marlise ist feige, beschämend und unwürdig feige: sie läuft schnurstracks in ihr Zimmer und beginnt sich dort mit aller Umständlichkeit auszuziehen, während Stephan Adelina ins Wohnzimmer geführt hat, unerbittlich wie ihr Richter und Henker. Marlise ist entsetzt über sich selbst, aber sie kann nicht, – kann es nicht mitanhören, wie Stephan den Sachverhalt vor Tante Franze auseinandersetzt.

Aber obgleich sie sich gewaltsam bemüht, nicht nach dem Gespräch dort drüben hinzuhorchen, dringt durch die Türen Tante Franzes Entrüstungsruf: »Adelina! das ist ja unerhört!« und nun das überstürzte Durcheinander von Fragen, Schelten und Lamentieren, aus dem einzelne Worte verständlich herausklingen: »– deine gute Erziehung! – dein Ruf! – unter diesen ordinären Geschöpfen! – Wenn dich jemand erkannt hätte!« Adelinas aufbegehrende Verteidigung, halb trotzig, halb weinerlich stammelnd, mischt sich hinein und jetzt auch Stephans Stimme in ihrem heftigsten, härtesten Ton, – oh, Marlise weiß es nur zu gut, was für unbarmherzig scharfe Worte er zu finden weiß, wenn es not tut! Und ehe sie es selber recht weiß, steht sie in der Wohnzimmertür hinter Stephan, der seinen Zorn schonungslos über die zitternd am Tisch hockende Adelina hinbrausen läßt.

»Schlimm genug schon, daß deine Neugier, deine kindische Verwegenheit dich treibt, eine solche Unternehmung heimlich einzufädeln, schlimm genug, daß du hier zu Hause lügst und Vorwände erschwindelst! Aber es bleibt nicht bei der Unbedachtheit, bei dem törichten Versuch, nein! Du schämst dich nicht, das Abenteuer bis ans Ende durchzuführen, du schämst dich nicht, deinen Körper herzuleihen, um einen glitzernden Kleiderfetzen vor den Augen der gaffenden Nichtstuer spazieren zu tragen! – Ja, Herrgott, hat sich denn dein Gefühl nicht dagegen empört, du Kind, du Mädchen, daß du dein Gesicht, deinen Hals, deine nackten Arme vor den Augen von tausend fremden Männern ausstellen solltest, noch eigens aufgeputzt und zubereitet in diesem verteufelten Kleide? Bist du so dumm oder so leichtsinnig, daß du das nicht begriffen hast? Daß nichts in dir sich dagegen auflehnt? Und weißt du etwa nicht, was alles unter diesem jämmerlichen Eitelkeitsmarkt versteckt ist –«

Er will noch viel mehr sagen, aber Marlise steht plötzlich neben ihm und sieht ihn an. »Nein, das hat sie wirklich nicht gewußt,« sagt sie sehr leise, aber mit merkwürdiger Festigkeit, »und ich meine, es ist nun genug –«

Er starrt sie an, betroffen, doch keineswegs besänftigt. »Es fehlt gerade, daß du die in Schutz nimmst, du, Marlise –« ruft er heftig.

»Ja, das fehlt wirklich,« gibt sie zurück, und ihre Stimme zittert ein klein wenig; sie tritt von ihm fort zu Adelina, als sei dort ihr Platz.

»Maria hätte vielleicht etwas früher auf Adelinas Tun und Treiben acht geben können, ehe das Unglück geschehen war!« sagt Tante Franze von der anderen Seite des Tisches her.

Marlise zuckt zusammen wie unter einem Schlage, und die Tränen schießen ihr in die Augen. Sie weiß, es ist eine schmähliche Flucht, aber sie folgt ohne Widerstreben, als Adelina, die heftig aufgesprungen ist, sie mit sich aus dem Zimmer zieht.

Dann sitzt sie auf Adelinas Bettrand und hält die ganz Zerschlagene, aufgeregt Weinende in ihren Armen. »O Maria, ist es wirklich wahr, daß ich so schlecht bin? Und daß alles so gefährlich und gräßlich ist, wie Stephan sagt? Natürlich hab' ich so etwas läuten hören, daß von den anderen Mädchen viele einen Schatz haben, und die keinen haben, die wünschten sich ganz einfach, es möchte sich irgend jemand in sie verlieben, wenn sie da in den wunderschönen Kleidern zu sehen sind. Aber was ging denn das mich an? Ich wollte doch nur einmal recht, recht hübsch angezogen sein und ein bißchen Spaß erleben, solch feines, elegantes Fest wollt ich wieder einmal sehen, wie früher als wir noch reich waren, – und wenn ich's diesmal auch nur von der anderen Seite sehen konnte! Ist das wirklich so schlimm? Ist es so schrecklich, daß ich mich nicht geschämt habe? Aber ich habe wahrhaftig nicht darüber nachgedacht, das mußt du mir glauben, Maria!« – Sie umklammert Marlisen in verzweifelter Hilflosigkeit, und Marlise ist selber verzagt und im tiefsten aufgewühlt. Was soll man sagen? Was antworten? Es geht hier um so schwerentwirrbare, dunkle Dinge, klein und bänglich steht man vor ihnen und wagt nicht, sie mit prüfenden Gedanken zu betasten. Oh, viel mehr müßte man wissen von der Welt und vom Leben, um diese dunklen Dinge und ihren Zusammenhang mit deinem und meinem Ich zu durchschauen! Es ist, als suche man mühselig einen Weg durch finsteres, dorniges Gestrüpp, und nichts kann man tun als den Weggenossen, der weinend um Hilfe bittet, liebevoll bei der Hand nehmen, ihn trösten mit warmer, traulicher Menschennähe und selber Trost daraus schöpfen. »Ja, ja, Liebling, ich glaube dir, daß du an nichts Schlechtes dachtest, ich weiß es, weiß es ganz genau! Aber – du darfst nie wieder solche Heimlichkeiten haben! Versprich mir das eine, Herzblatt, – versprich, daß du mir alles sagen wirst, wenigstens mir, wenn da irgend etwas ist, – ja, willst du? Zu zweien finden wir uns dann eher heraus, und ich muß nicht immer Angst und Sorge um dich haben –«

Adelina erdrückt Marlisen fast mit ihren weichen, weißen, seidenglatten Armen. »Ja, Maria, Liebste! Ich verspreche es dir! Ach gewiß, dann kann nichts ganz schlimm ausgehen, wenn du darum weißt!« Herzlich erleichtert trocknet sie sich die Augen, atmet auf und langt ihr Handtäschchen herbei, aus welchem sie ein Bündelchen Geldscheine hervorklaubt. »Da sieh, das hab' ich bekommen, dafür –! Mein erstes selbstverdientes Geld, – oh, wie hatte ich mich darauf gefreut, und nun? Was soll ich nun mit dem Geld anfangen? Es ist mir gründlich verleidet, und wenn ich mir etwas dafür kaufte, eine Bluse oder den grünen Lederhut, den ich so schrecklich gern haben wollte, so würde ich's ja gar nicht tragen können vor schlechtem Gewissen und vor Angst, was Stephan davon denken würde?«

»Leg es fort, irgendwohin, wo du es nicht siehst; bis vielleicht eine Zeit kommt, wo du es wirklich brauchst,« rät Marlise, aber Adelinas Augen spiegeln schon einen neuen Gedanken und glänzen. »Höre, Maria: in der Schule ist ein Mädchen, – ich habe kaum zehn Worte mit ihr gesprochen, sie sieht so jämmerlich aus und ist sehr schlecht angezogen, – die hat so furchtbar erfrorene Hände, daß sie manchmal kaum schreiben kann, und dabei trägt sie niemals Handschuhe! Es hat mich immer ein bißchen geekelt vor diesen blauroten, geschwollenen Fingern; aber – für das dumme Geld da muß man doch ein Paar sehr gute, warme Handschuhe bekommen, nicht wahr? Und vielleicht noch ein bißchen Pfefferkuchen und Spielzeug, denn das Mädchen hat kleine Geschwister; und man könnte alles nett zusammenpacken und ihr zu Weihnachten irgendwie ganz heimlich hinschicken, – was meinst du, Maria? Oh, das würde doch Spaß machen –«

»Was ist mit mir?« denkt Marlise, »ich muß heute wohl ganz nervös sein, nun bin ich schon wieder dicht am Losheulen.« – Sie verbirgt ihr Gesicht in Adelinas duftigem Haar und fühlt sich tief erleichtert, in der Beratung über die kleine Guttat dem wirren und schweren Ernst des eben Durchlebten zu entgehen.

Währenddessen wird im Wohnzimmer mit unterdrückten Stimmen ein lebhafter Wortwechsel geführt. Frau Franziska ist ganz aus der Fassung gebracht. Sie begreift weder, wie Adelina auf ein so unmögliches Betragen verfallen konnte, noch wie dergleichen Unliebsamkeiten in Zukunft verhütet werden möchten, und ihre Ratlosigkeit schlägt in nörgelnden Ärger um, der sich nicht allein gegen Adelina wendet.

»Du scheinst mir doch den Mund sehr voll zu nehmen, mein Sohn, wenn du dich hier als Tugendheld aufspielst! Du selbst hast solche Veranstaltungen früher recht gern mitgemacht, als harmloser Zuschauer wie jeder junge Mann der Gesellschaft –«

»Ja, früher! Weil ich nicht wußte, wie es tut, die eigene Schwester dort ausgestellt zu sehen! Aber die Welt hat seitdem ein anderes Gesicht für uns bekommen, und wie gefährlich schwer es Adelina fällt, sich in dieser veränderten Welt zurechtzufinden, das haben wir ja nun gesehen.«

»Ja, was soll man denn dabei tun? Da wir nicht die Mittel haben, sie in der wohlbehüteten Umwelt unserer alten gesellschaftlichen Sphäre weiterleben zu lassen? Ich habe tausend Dinge im Kopf, ich kann nicht jeden ihrer Schritte überwachen, und gerade hierin hatte ich ein wenig auf Marias Unterstützung gerechnet –«

»Mutter, – ich bitte dich, laß Maria aus dem Spiel! Du weißt nicht, wie sie war, heute nachmittag, wie alles nur erträglich wurde durch ihr Dabeisein? Ich bin ihr so dankbar –«

»Es hörte sich nicht so an, wie du sie vorhin anfuhrst!«

Stephan wird dunkelrot. »Es hat mir im nächsten Augenblick bitter leid getan! Und ich meinte es im Grunde ja ganz anders. – Es könnte unserem wilden Füllen gar nichts besseres geschehen, als wenn es sich von Marlise lenken lassen wollte.«

»Willst du damit etwa sagen, ich bekümmerte mich nicht genug um Adelina? Ich hätte keinen Einfluß auf sie?«

»Aber, Mutter, wie werde ich –! Nur, – siehst du, wir sind doch alle noch recht fremd in dieser veränderten Welt, da hat jeder einzelne seine Not –«

Er bringt das letzte mit bitterer Heftigkeit heraus, und Marlise, die nebenan seine Stimme hört ohne die Worte zu verstehen, fühlt ihr Herz sich zusammenkrampfen. Was hat er nun wieder? Und wie soll man diese Wirrnis ertragen, wenn er darin feindlich und ungerecht wird, wenn er nicht begreift, daß man doch nur helfen und bessern möchte?

Als sie bald darauf in den dunklen Vorsaal tritt, stößt sie mit Stephan zusammen. In einer wehen Empfindlichkeit befangen, will sie sich still vorbeidrücken, aber er hält sie an der Hand zurück. »Verzeih!« murmelt er, »verzeih, Marlise! Das – wollte ich wirklich nicht, – ich meinte nur, – wo du so ganz, ganz anders bist, – und du hattest ja recht« – Es ist nur ein wirres, flüsterndes Gestammel, knabenhaft ungelenk, mit einem Unterton der altem Heftigkeit. Aber Marlise versteht alles, – und nun fühlt sie, daß er ihre Hand sacht emporzieht und fühlt seine Lippen warm und zart auf ihrer Hand.

Sie lächelt wortlos ins Dunkel hinein, ihr Herz klopft heiß und stark, – das tut seltsam wohl –

»Daß man am Ende eines solchen Tages noch so froh sein kann –!« geht es ihr durch den Sinn, als sie sich todmüde in ihrem schmalen Bett ausstreckt.


 << zurück weiter >>