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Über Nacht war der erste Schnee gefallen, oben auf den Bergen. Der Spätherbstwind fegte über Beurenbach dahin und zerzauste den Tannen des Spitals das alte, schwarze Gezweig noch ein wenig mehr.
»Und auch Sie gehen fort!« klagte Marlise, die bei Beate Michaeli im Zimmer saß, in dem lieben, hellen, schlichten Zimmer, dem man keinerlei Unruhe eines Aufbruchs anmerkte. »Es ist, als ob alles, aber auch alles um mich her wanken und sich auflösen müsse!«
»Aber Sie bleiben, Marlise! Und mehr als das: Sie beginnen, Sie bauen auf! Sie werden nun mit sich selbst, mit Ihren eigensten, allerwichtigsten Dingen so viel zu tun finden, daß die Umwelt unwesentlich wird.«
Marlise nickte. »Ja! Für mich ist wohl gesorgt! Und daß Sie in die Stadt gehen, wo Adelina ist, das ist mein bester Trost. Sie werden sich Adelinas ein wenig annehmen, Sie werden sie lieb gewinnen, und Adelina wird Vertrauen zu Ihnen fassen, – wer sollte das wohl nicht, Beate! So brauche ich mir keine Sorge um sie zu machen.«
»Ist denn Herr Perscheid einverstanden, daß seine Braut ihren Beruf weiter ausübt?« fragte Beate.
»Freilich ist er das. Die beiden sind überhaupt immer einer Meinung und werden alles durchsetzen, was sie wollen. Stephan und ich, wir hätten Adelina ja gern bei uns behalten; aber sie sagte gleich: ›Was wäre wohl für ein Verdienst dabei, wenn ich mich hier warm einwickeln und behüten ließe? Nun erst recht will ich auf eigenen Füßen stehen und mir selbst und Matthias beweisen, daß man ein kleines Bürofräulein und doch ein tapferes, tüchtiges Frauenzimmer sein kann!‹ Und sie hat ja recht; ich habe sie noch zehnmal lieber um ihren Mut und ihre ehrliche Geduld! Nur daß sie dort in der großen, fremden Stadt sehr allein wäre, trotz Fräulein Brand, bei der sie alles aufs beste haben wird, Essen und molliges Zimmer und gestopfte Strümpfe, und trotz Perscheid, der doch dann und wann einmal vorbeikommt. Aber wenn Sie dort sein werden, Beate, ist alles gut.«
Von Tante Franze sprach Marlise nicht. Denn es war an dem, was Adelina einmal ahnungslos geäußert hatte: Frau Franziska Klotz kehrte nach »drüben« zurück. Konsul Steffensen hatte ihr die Stellung als Vorsteherin seines großen Hauswesens, als Helferin und verständnisvolle Freundin bei seiner sozialen und wissenschaftlichen Arbeit angeboten, und sie hatte eingewilligt. Nicht ohne innere Kämpfe, wie Tante Franze sie bisher schwerlich durchgemacht, war das geschehen. Ihre beiden Kinder bauten sich nun das eigene Leben auf, und sie sollte gehen, so weit fort, daß ein Wiedersehen, ein Verbundenbleiben beinahe fragwürdig erschien! Adelinas Verlobung erregte ihr eine nicht unbeträchtliche, fast stolze Befriedigung, und daß Stephan, der schwerblütige, unzugängliche Junge, sich die lichte Marlise gewann, das hatte sie auf eine seltene Art weich gemacht. Trotzdem entschloß sie sich zum Gehen. Das »Drüben« lockte zu stark; es lockte die Aufgabe, das eigene tätige und bewegte Leben, das sie dort finden sollte, stärker als ein zuschauendes Teilnehmen am Leben der Kinder.
Und vieles noch sollte anders werden, ganz anders. Joseph Stauffer hatte alles bedacht und geordnet, sorgsam, überlegen klug und doch so, daß den Jungen alle Freiheit der Entscheidung erhalten blieb. Die Webereiwerke Heinrich Stauffer waren in Stephans Hand gelegt, daß er seine Lebensarbeit dort finden und behalten konnte, wenn er wollte. Doch sollte die endgültige Besitzübergabe erst nach Ablauf von zehn Jahren vollzogen werden. Bis dahin war er frei sich einer anderen Wirkungsstätte zuzuwenden, mindestens für Zeiten und an anderem Ort zu lernen, was ihm wünschenswert und notwendig dünkte. Bis dahin würden Niemeyer und andere bewährte Männer, die Joseph Stauffer ernannt hatte, bei der Leitung der Werke verbleiben. Marlise aber glaubte schon heute zu wissen: Stephan würde in zehn Jahren nicht einen Augenblick über seinem Entschluß zu schwanken haben.
So verhielt es sich mit den Werken. Aber da war noch das Eck, das weiße, schimmernde Haus in seiner schönen Abgeschiedenheit am Berge. Und Marlises Augen wurden dunkel, als sie davon sprach.
»Wir können dort nicht wohnen, Stephan und ich. Wir wollen es nicht. Ich – will es nicht. Es würde immer wie ein Schatten über uns sein, ein teurer, geliebter, aber doch ein Schatten. Und immer würde ich Angst haben, daß wir die schöne Stille dort verletzten. Nein, das Eck ist nicht mehr für uns! Später einmal, – wer weiß? In zehn Jahren vielleicht –! Aber das ist so unendlich lange hin. Onkel Joseph hat ja auch bestimmt: wenn wir nicht bleiben mögen, soll das Eck eine Erholungsstätte für mittellose Musiker werden. Ein paar abgearbeitete, arme Künstler oder Studierende sollen immer dort sein, jeder ein Weilchen, und die Ruhe und Pflege haben, die sie sonst nicht erschwingen können. Perscheid war ganz begeistert von dem Gedanken; er wird auch dafür sorgen können, daß die rechten Menschen gefunden werden.«
»Und Sie, Marlise?« fragte Beate nach einem Schweigen. »Sie denken an alle und alles, nur von sich selber sprechen Sie nicht –?«
Marlise lächelte. »Ich? Nun, Sie wissen ja,« – aber sie unterbrach sich, horchte, blickte zum Fenster hinaus und stand auf. »Ich muß gehen, Beate. Stephan kommt, er wollte mich hier abholen. Leben Sie wohl für heute, ich sehe Sie ja noch, bevor Sie reisen.«
Sie drückten sich warm die Hände. Marlise ging, sie war schon halb zur Tür hinaus, da kam sie noch einmal zurück und fiel der Freundin um den Hals. »Beate, liebe Beate! wie danke ich Ihnen –«
»Kind, wofür?«
»Für alles, alles! O ich vergesse es nie, wie Sie mir geholfen haben! Als ob Sie ein Licht in mir anzündeten, so ist es oft und oft gewesen!«
»Kind, – aber nein, so nenne ich Sie nicht mehr. Marlise, es war sehr schön, Ihrem Wachsen zuzuschauen! Es war das beste Erlebnis meiner Beurenbacher Tage. Aber nun ist es besser, daß ich gehe, auch für Sie.«
»– warum?«
»Das fühlen Sie wohl selbst, Marlise: weil Ihr altes Leben im Versinken ist, und ich, die ich so manches davon gewußt und geteilt habe, wäre Ihnen immer noch wie ein Stück davon. Das sollte nicht allzu dicht an Ihrem Wege liegen bleiben.«
Vor dem Spitalgarten wartete Stephan unter den alten, störrischen Tannen. Marlise hatte, als sie ihn stehen sah, plötzlich den Eindruck, er trage den Kopf anders als früher, höher und doch weniger steifnackig. Das Herz wurde ihr heiß, sie hing sich an seinen Arm und sagte: »Endlich!«
»Hast du gewartet?«
»Jetzt –? Nein, das meinte ich nicht. Es war etwas anderes –« Sie konnte nur schweigend ihrem Gedanken nachlächeln, und er sah sie herzlich an, süß berührt von ihrer kleinen Wunderlichkeit, die er ohne Neugier liebte.
Sie gingen zwischen den Beurenbacher Häusern dahin, die ihnen mit gutmütig blinkenden Fenstern nachsahen, und schritten durch das Tor der Weberei und über die stillen Höfe. »Wie weit sind sie denn mit den Arbeiten?« fragte Marlise, als hinter dem letzten Lagerschuppen das kleine, rote Haus austauchte, das vor Jahren Orlando Stauffer mit Frau und Kind bewohnt hatte und das seitdem zu den Betriebsgebäuden hinzugenommen worden war. Jetzt hatte man es frei gemacht, und die Handwerker von Beurenbach waren eifrig dabei, es zum Wohnhaus für den jungen Fabrikherrn herzurichten. Die Reihe schöner Pappeln, die das Grundstück wie eine Wand von den Fabrikanlagen trennte, stand entlaubt, das Gartengelände stieg wüst zum kiesigen Bett der Beura hinunter. Aber von den nüchtern altväterischen Backsteinwänden des Häuschens glänzte die frischgewaschene Sauberkeit wie ein neues, freundliches Kleid.
»Komm hinein,« schlug Stephan vor, »die Leute sind fort, wir können uns in Ruhe umsehen.«
Drinnen war es kühl, sehr hell und hallend leer, es roch nach frischer Farbe und Fichtenholz. Sie gingen durch die unteren Räume, stiegen die hübsche, weiße Treppe hinauf und traten oben in das große, lichte Zimmer, das auf die Beura und die gegenüberliegenden Hügel hinaussah.
»Weißt du, daß du hier an deinen Ausgangspunkt zurückkehrst, Marlise?« fragte Stephan fröhlich. »In diesem Zimmer bist du geboren, Niemeyer hat es mir gestern anvertraut, als handle es sich um das allerzarteste Geheimnis!«
Sie antwortete nicht; sie stand am Fenster und lehnte sich weit hinaus. Als sie sich umwandte, war ihr Gesicht von Versonnenheit überschattet. »Man kann das Eck von hier aus nicht sehen,« sagte sie, »der Wald tritt davor, – das wußte ich gar nicht –«
Er kam zu ihr und legte den Arm um sie. »Wirst du Heimweh danach haben?« fragte er liebevoll. Sie schüttelte den Kopf, aber die Art, wie sie sich mit geschlossenen Augen in seinen Arm schmiegte, verriet ein wenig Bangigkeit. »Es ist alles – so sehr neu hier –« sagte sie fröstelnd.
Er blickte auf ihre gesenkten Lider und hielt sie zart und fest an sich. »Neu, –« wiederholte er, er sprach ganz leise, um den Hall des leeren Raumes nicht zu wecken, »ist denn das nicht schön? Daß wir ganz neu beginnen werden, mit unserem Leben und miteinander, – Liebste, es ist ja ein solches Glück in dem Gedanken! Du und ich und das Leben, – ja, da liegt so viel unbekanntes Land, so viel geheimnisvolle, süße Ferne! Lockt es dich nicht, Marlise, daß wir alles zusammen erleben sollen, du und ich?«
Ein Lächeln ging um ihren Mund, kühn und träumerisch, der blühende Ausdruck jener Sehnsucht, die sie aus Kindertagen her mit sich getragen hatte. Und ihr Herz füllte sich mit seligem Begreifen, während sie in Stephans tief leuchtende Augen sah.
»Komm mit,« fuhr er flüsternd fort, »alles steht offen! Und so weit wir auch gehen mögen, können wir wohl je eine Stunde heimatlos werden? Ich nicht, denn ich habe dein Herz. Du nicht, denn meine Liebe ist bei dir.«
Sie hielten sich in bebender Innigkeit umfaßt. Und während der letzte, trennende Stein des Gewesenen lautlos untersank, stieg es um sie empor wie neue, schimmernde Wände einer unzerstörbaren Geborgenheit.
* * *