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6

Es regnete die Nacht hindurch, und auch am nächsten Vormittag folgte ein Schauer dem anderen, nur von kurzen, stechenden Sonnenblicken unterbrochen. Trotzdem sagte Marlise beim Mittagessen, daß sie nach Berglingen hinauf wolle, zu dem Bauern, der das Eck mit Honig und einer besonderen Sorte Frühäpfel versorgte und an den Fräulein Sophie eine Bestellung hatte. Es war ein tüchtiger Weg bis dahin, und Marlise konnte sicher sein, daß Adelina sich nicht zu ihrer Begleitung drängen werde.

Als sie aber wanderfertig treppab stieg, stand Stephan im Sportanzug und dem schlaffkrempigen argentinischen Lederhut, der seinen scharfen, dunklen Kopf gut kleidete, wartend in der Diele. Es war heute Sonnabend, die Fabrik früh geschlossen.

»Darf ich mit?« fragte er und lächelte verlegen und bittend.

Marlise stutzte. Sie hatte sich vorgenommen, mit den quälenden Fragen, die sie seit gestern abend nicht losließen, auf dem langen, einsamen Wege ins reine zu kommen. Jetzt aber fühlte sie sich jäh erleichtert in dem Gedanken, daß ihr für dies ganze Wirrsal nun weder Muße noch Aufmerksamkeit bleiben werde. Denn daß Stephan keinesfalls noch einmal davon anfangen wolle, das sah sie an seinem Gesicht, das heute friedfertiger dreinschaute als je bisher.

»Ach ja, komm mit!« rief sie ganz fröhlich und sprang ihm voraus die Haustürstufen hinab.

Gerade schien die Sonne. Und der Himmel hatte sich zum großen Teil geklärt, ein tiefes, regengewaschenes Blau, ein leuchtendes Meer, stand zwischen blendendweißen und düstergrauen Wolkengebirgen, die mit jeder Minute ihre Form veränderten.

»Das tut gut!« sagte Marlise, als sie auf der freiliegenden Straße dahingingen, wo ein heftiger Wind die Pfützen kräuselte und in den Kronen der alten Nußbäume toste. »Ich bin so lange nicht ordentlich ausgeschritten.«

»Ich auch nicht,« gab Stephan kurz zurück. Dann sprachen sie nicht mehr. Der Wind blies die Gedanken auseinander, daß sie nicht am eigenen, engen Ich hängen zu bleiben vermochten und hierhin und dorthin aufflogen in die freie Weite.

Die Straße zog in sanften Windungen über die Wiesenhänge der Vorhügel, die vom dunkleren Grün der Obstbäume gefleckt in breitwelliger Terrasse den Talgrund der Beura begleiteten, bis aus ihnen, sehr hoch, steil und unabsehbar lang sich hinstreckend, die bewaldete Mauer des Gebirges aufstieg. Es war fast menschenleer hier oben: selten ein Fußgänger, ein rasselnder Bauernwagen; und kaum ein Haus in Sehweite. Beurenbach war drunten zurückgeblieben, im Tal pfiff und fauchte ein Eisenbahnzug vorbei; dann war es doppelt still. Nur das Windwehen, das Zwitschern vorüberhuschender Vögel und der klingende Schritt der beiden Wandernden.

Sie durchquerten ein Fichtengehölz und begannen stärker zu steigen. Als sie wieder zwischen den Bäumen heraustraten, standen sie schon hoch, und über den Haseler Berg, den jenseitigen Wall des Beuragrundes hinweg, öffnete sich der Blick in das große Stromtal. Köstlich schimmerte die schöne Krümmung des breiten Wasserbandes, und drüben lagen die schroffen Vorläufer des Hochgebirges unter einer sonnedurchleuchteten, blausilbernen Dunstschicht wie eine fabelhafte, urweltliche Klippenlandschaft.

»Das ist schön!« rief Stephan stehen bleibend. Es klang aus glücklich erhobenem Herzen. Marlise freute sich; ihr war, als sei sie selbst hier die Schenkende, die alles vor ihm ausbreiten durfte. Sie nannte die Berge und Ortschaften, die man nun übersah, dann drängte sie: »Komm weiter, es wird noch viel schöner, oben –«

Es ging durch eine Senkung, die von einem Bach durchflossen und von lieblichster Üppigkeit des Gras- und Blumenwuchses, mit zierlichen Erlengruppen bestanden war, sie wirkte wie ein abgeschiedener Garten. Dann erreichte die Straße den Hochwald und begann an der Bergwand emporzuklettern.

Eine scharfe Kehre, – und da vorn, am Ende des laubumstandenen Ganges, schon die nächste; was wird sie bringen, was wird sein, wenn man erst um jene Ecke schauen kann? Die Straße ist Lockung und Verheißung, ein unaufhaltsam rinnender Strom, der die wandernden Fuße bereitwillig vorwärtsträgt zu allen noch verhüllten Fernen. Zur Seite stehen die Buchenstämme wie grauseidene Säulen, die Blätter atmen duftig, goldgrün und blank, im dichten, wilden Unterholz zittern funkelnde Tropfen. Tief drinnen läutet der Kuckuck; aber der Ruf bleibt zurück, verhallt, – denn die Straße zieht und lockt und steigt, schwenkt von neuem um und reißt den Waldvorhang auf, daß man wieder in die Ferne schaut –

Oh! viel höher nun als vorhin, und die Welt wieder größer, weiter, unsäglich herrlicher geworden seitdem! Hemmende Waldrücken liegen überwunden in der Tiefe, und das ganze gewaltige Tal ist geöffnet dort drüben! Türme in der Ferne und glänzende Dächer und dahinter die Berge, ach, die Berge! Geheimnisvolle Welt, fremd und dunkelblau im Schatten eines abenteuerlich belebten Himmels, nur dein Schatten dem Auge erreichbar und dem schweifenden Gedanken das unendliche Geheimnis deiner Ferne!

Ein dichtgeballtes, schiefergraues Gewölk segelte von Westen heran und verdeckte die Sonne, darunter hervor reckten sich Strahlen wie ungeheure Lichtschwerter auf das weitab liegende Land. Die Nähe entfärbte sich, wurde fahl und kalt.

»Da kommt das Regenschiff,« sagte Stephan, »es wird einen tüchtigen Guß bringen.« Marlise fuhr aus tiefer Versunkenheit auf, – und jetzt erst kam es ihr zum Bewußtsein, daß keines von ihnen seit geraumer Zeit mehr gesprochen hatte. Als sie aber Stephan ansah, glaubte sie zu wissen, daß er genau das gleiche wie sie empfunden hatte während des Wanderns und vor der enthüllten Weite.

Sie waren kaum wieder im Walde, als die ersten Tropfen klirrend aufschlugen. Stephan hüllte Marlise in ihren Loden kragen, und als bei einer Wegecke ein wütender Windstoß sie anfiel, legte er einfach den Arm um ihre Schultern und deckte sie vor dem heftigsten Anprall der Luft. Es ging sich gut so; sie spürten erst jetzt, wie sicher sie im gleichen Rhythmus schritten.

Der Regen verzog so schnell, wie er gekommen war. Irgendwo riß die Wolkenwand, blendendes Licht brach durch die Lücke, und der letzte, sprühende Schauer wurde in einen goldfarbig schimmernden Schleier verwandelt, hinter dem die braunen Holzhäuser von Berglingen mit blumenbunten Gärtchen und flatternder Wäsche auf lichtem, regengewaschenen Wiesenhange hingebreitet lagen.

Beim Honigbauern war nur eine dicke, behagliche Großmutter zu Hause, welche die Besucher mit heiterer Redseligkeit empfing und ihnen in der niedrigen, dunkelbraun getäfelten Stube Kirschen, Milch und Käsefladen vorsetzte. Marlise, die ihren Auftrag ausgerichtet hatte und sich den jüngsten, strampelnden Sprößling des Hauses auf den Schoß geben ließ, wunderte sich im stillen über Stephan: in unbefangenster Art, sachlich und ohne jede Herablassung befragte er die alte Bäuerin nach wirtschaftlichen Dingen und schien sogar ihre gaumige alemannische Mundart mühelos zu verstehen.

Dann standen sie wieder auf dem Wiesenpfad, der vom Gehöft zur Straße zurückführte, und um sie her lag der Sonnenschein mit überschwenglicher Leuchtkraft über den Matten und dem nahen, blauen Waldrande.

»Sag doch, Maria –« begann Stephan, »wollen wir nicht den Rest dieses schönen Tages für uns behalten? Ich habe so wenig Lust, mich jetzt sofort heimzubeeilen und dann den Abend in der ungleich zusammengesetzten Tafelrunde des Ecks totzuschlagen. Hier gibt es doch gewiß ein Gasthaus, wo wir noch etwas zu essen bekommen und du dich ausruhen kannst, und nachher haben wir gemütlich Zeit für den Heimweg unterm Sternenhimmel.«

Marlise zauderte ein wenig. »Werden sie sich zu Hause nicht ängstigen?«

»Ängstigen? Wenn ich bei dir bin –?« Es klang so knabenhaft entrüstet, daß sie lächeln mußte. »Ich habe dich ja wohl nicht kavaliermäßig unterhalten,« fügte er ein wenig unwirsch hinzu, »aber mir schien, als sei auch dir solch Alleinsein zu zweien nicht langweilig –«

Ja, dies war es: daß man allein gewesen war, dem eigenen Erleben und Empfinden ungestört überlassen und dennoch nicht verlassen, nicht einsam, – das war der Reiz dieser Stunden gewesen –

»Gut!« sagte Marlise. »Im Goldenen Löwen wird sich wohl etwas Eßbares für uns finden.«

Es fand sich: Eier, Wurst, Butterbrot und Most, die das freundliche Wirtsmädchen übereifrig herbeitrug. Und es saß sich gut auf dem schmalen Platz zwischen Gasthaus und Straße, den eine verschnittene Linde überdachte. Über Dächer und Obstgärten von Berglingen hinweg sah man wieder in die große, blaue Ferne.

»Das ist schön!« sagte Stephan, der unverwandt hinausschaute, noch einmal. »Es ist unsäglich verschieden von den blendenden Landschaftsbildern Brasiliens, und doch ist etwas darin, was mich ebenso packt, wie ich es drüben hundertmal erlebt habe vor den wunderbaren Felsenzügen der Serra und den endlos wogenden Steppen.«

»Du bist gern dort gewesen?«

»Selbstverständlich gern, wie man eben in einem Lande lebt, in welches man als Zehnjähriger hineingesetzt wurde mit der stillschweigenden Aufforderung: hier werde etwas! Meine Eltern besaßen ohne Zweifel eine hervorragende Anpassungsfähigkeit, sie waren, soweit ich zurückdenken kann, vollkommen eingelebt in die Sitten und Anschauungen dieses fremden Landes, das, so reichlich deutsche Bestandteile es auch unter seine Bevölkerung aufgenommen hat, doch im großen Zuschnitt so undeutsch wie möglich ist. So habe auch ich mich nie als Fremder dort gefühlt, – wie hätte ich nicht zufrieden sein sollen!«

»Dir ist Deutschland unmerklich in Vergessenheit geraten –«

»Ja: und doch nicht ganz. Indem ich älter wurde, habe ich viel an Deutschland gedacht. Nicht selten habe ich mir ausgemalt, wie ich einmal dorthin zurückkehren würde, als Vergnügungsreisender sozusagen, und wie ich die Plätze und Menschen, deren mich noch gut entsann, wiederfinden würde. Es mag ein Widerhall der vielen Heimkehrhoffnungen und Heimkehrgeschichten gewesen sein, die dort drüben fast jeder Eingewanderte mit sich herumträgt, mehr oder weniger gefühlvoll und meist in jener gutmütigen Großmäuligkeit des Emporgekommenen: ›Warte nur, altes Europa, wenn ich wieder da bin –!‹ Ein wenig davon steckte auch in mir; – wie hätte ich auch denken können, daß mir nur ein Rückzug jämmerlichster Art bevorstand, die armselige und lächerliche Heimkehr des Gescheiterten, der sich zur Hintertür ins Vaterhaus hineindrückt.«

Marlise erschrak vor dem Zittern in seiner Stimme, ansehen mochte sie ihn nicht. »So mußt du nicht denken!« sagte sie leise. »Es war nicht deine Schuld, – die wirtschaftlichen und politischen Mißverhältnisse haben so viele Existenzen über den Haufen geworfen, und du hattest obendrein mit unredlichen Menschen zu tun –«

Er lachte kurz auf. »Das sind Ausflüchte! Mutter mag sich damit trösten, und ich gönne ihr die Bequemlichkeit der Auffassung. Ich weiß aber, daß es sich anders verhält, – ich weiß, daß es dennoch meine Schuld war, weil ich mich in dem Lande dort drüben, in seinen Anschauungen des Lebens und Handelns nicht zurechtfand, weil ich viel dummer, viel schwerfälliger, viel gutgläubiger als mein Vater war und vom Tage seines Todes an einen Fehler über den anderen machte! Der Moragaz war ein Gauner, jawohl, – aber mein Vater hat trotzdem mit ihm gearbeitet, hat ihm unerbittlich auf die Finger gepaßt und dabei aus seiner Geschäftstüchtigkeit herausgezogen, was herauszuziehen war. Ich – verstand nur, mich von ihm übers Ohr hauen zu lassen! Und mit der Baumwollweberei ist es ebenso gegangen! Ich hatte von klein auf einen Narren daran gefressen, ich wollte die Fabrikation erweitern, wollte alles mögliche verbessern, bauen und Arbeiter ansiedeln und was der Phantastereien mehr waren; und ließ mich, kaum daß ich den Kram selbständig in die Finger bekam, von dem nordamerikanischen Agenten in unvernünftige Maschinenkäufe hineinreiten, ließ mich zu sinnlosen Belastungen beschwatzen und begriff nicht, ich Idiot, daß alles schon an des Teufels Schwanz gebunden war! Und als dann die ganze saubere Pastete aufflog, da hab' ich immer noch nicht einsehen wollen, warum keiner, nicht ein einziger mir beisprang, und daß sie alle nur über meine blöde Untauglichkeit lächelten, – das ist mir erst hinterher eingefallen, während der Überfahrt und hier, als es still um mich wurde! Ich bin der tölpelhafte deutsche Hans Narr, ich habe nur verpatzen und vertun können, was mein Vater mir hinterließ. Vielleicht, wenn Mutter ein klein wenig mehr Einsehen gehabt hätte, wenn sie nicht immer nur davon gesprochen hätte, daß wir reichliche Mittel brauchten zu unserer Lebenshaltung, die ich ja gedankenlos mitmachte. – Aber ich habe niemand gehabt, seit Vater tot war –«

Er sprang auf, überquerte mit heftigen Schritten die Straße und stand drüben am Wiesenrande still, die Fäuste in die Taschen gebohrt und den Kopf auf steifem Nacken abgekehrt. Als er zurückkam, war sein Gesicht grau, matt und gealtert, wie Marlise es gestern gesehen hatte, als er vom gläsernen Berge sprach.

Ein Mitgefühl war in ihr, heiß und drängend wie Tränen. Sie hatte Angst zu sprechen, Angst vor der Unzulänglichkeit jedes Wortes; und dennoch sprach sie. »Nein –« sagte sie fast flehend, »nein! So darfst du es nicht mit dir schleppen, – und es kann auch nicht nur dies gewesen sein, – nicht nur du –« Sie stockte, dachte nach. »Vielleicht aber, wenn es dies war, – vielleicht ist es dann gut gewesen, daß es dort so schnell mit dir zu Ende ging; daß du nicht noch Jahre hast darangeben müssen, Jahre der Kämpfe und Mühseligkeiten und Enttäuschungen, und hättest schließlich doch mit leeren Händen dagestanden. Nun bist du doch schon durch das Böseste hindurch, bist hier und bist jung und kannst wieder anfangen, auf neuem Boden, – in dem du vielleicht fester und besser Wurzel schlägst als dort.«

Unwillkürlich legte sie die Hand auf seine hartgeschlossene Faust, – aber im selben Augenblick überkam sie eine traurige Unsicherheit; würde er dies alles, ihre Worte und die heftige Hilfsbereitschaft ihres Gefühls, auch nur als Almosen, an langer Stange gereicht, empfinden?

Er schwieg und rührte sich nicht. Endlich sagte er mit einem harten Aufatmen: »Es könnte ja sein –; aber heute tröstet mich das wenig. Ich kann noch kein Verhältnis zu Deutschland finden, – werde es auch nicht finden, solange ich tatenlos im Eck herumsitze. Noch weiß ich nichts, was mir Deutschland lieb machen könnte, keinen Fleck Erde, keine Arbeit, keinen Menschen –«

»Es wird kommen, das alles, irgendwann –« sagte Marlise ganz leise. Er zuckte die Achseln, mutlos abweisend und plötzlich fast gleichgültig.

Dann stand er auf, ging ins Haus, um zu zahlen und sagte, als er wieder heraustrat: »Ich denke, wir brechen auf, Maria. Die Sonne ist bald fort, es möchte hier oben zu kühl für dich werden.«

So gingen sie; eine lange Weile noch unter der sanft leuchtenden, goldfarbenen Helligkeit, die, von der Sonne zurückgelassen, die hohe, jetzt wolkenlos reine Himmelskuppel durchsichtig erfüllte. Windstill, in vollkommenem Frieden, lag der Sommerabend über den Wiesenhängen, der Wald stand unbewegt, kaum raunend, von vereinzelten, fragenden und rufenden Vogellauten verhallend durchtönt.

Die beiden schritten in raschem Takt bergab, jeder für sich schauend und horchend. Marlise dachte nichts. Und diese Gedankenleere war wohltuend, klar und licht wie die schimmernde Leere des Himmels über ihrem Haupt.

Aber langsam, unmerklich tauchten Sterne aus dem erblassenden Blau, winzige Nadelstiche, die den silbernen Strahl einer neuen, geheimnisvollen Welt hindurchlassen, jetzt bemerkt man den ersten, und nun, nur Minuten später, sind es schon mehrere, viele, viele! Und wie der Himmelsstreif, der über dem Einschnitt der Straße von Baumwand zu Baumwand hing, dunkler und dunkler wurde, so wuchs die Lichtschar dort oben zum vollzählig versammelten Volke jener geheimnisvollen Welt, die höher ist als alle Vernunft.

Sie hatten die Bergwand und den Hochwald hinter sich, durchquerten die Wiesensenkung, in der ein geisterhaftes Nebelweben umging, und waren an dem hohen Platz oberhalb des Gehölzes, wo sie vorhin zuerst den Strom erblickt hatten. Hier stand eine Bank, und Marlise steuerte darauf zu. »Laß uns ein Weilchen sitzen,« bat sie.

»Du bist müde –«

»Nein; aber es ist so schön –« Sie kreuzte die Hände im Nacken und blickte zurückgelehnten Hauptes nach oben, reglos und schweigend. Stephan saß neben ihr, die Augen am Himmel und ebenso still.

Plötzlich rührte sich Marlise, als fahre sie zusammen. »Wie merkwürdig –!« sagte sie mit bedrängter Stimme, wie aus einem Traum heraus.

»Was –?«

Sie atmete laut und schnell. »Mir fiel etwas ein – wie sehr, sehr merkwürdig! – ich habe ewig nicht mehr daran gedacht – und nun kam es mit einem Male so wunderbar deutlich –«

»Sag doch –« bat er flüsternd.

»Ja – es ist etwas von meinem Vater, von ganz früher! Es muß kurz vor seinem Tode gewesen sein. Da war er eines Abends mit mir im Garten und zeigte mir die Milchstraße, sie zog gerade so weiß und schön über den Himmel wie eben jetzt. Er sagte: ›Sieh dorthin, wo sie auf die Erde herabstößt, dort oben am Berge, – wenn wir hinaufklettern hinter den Tannen, bis dicht an den Himmelsrand, dann können wir hinübersteigen auf die silberne Straße mit ihren taufend Lichtern. Und wir wandern weit hinaus über die ganze Welt, so hoch und so weit, wie kein Gedanke reicht, und sehen alle Ferne uns zu Füßen liegen und sind sehr glücklich. Und die Sterne, die leuchtenden, seligen Geisterchen, wandern neben uns her und schauen mit uns hinab auf die Berge und Länder und Meere, und es ist ein feines, silbernes Lachen der Fröhlichkeit rings um uns her und mit uns, die wir alle, alle wandern –‹ Das sagte er mit seiner warmen, klingenden Stimme, und sein Gesicht war so hell – o ich weiß es noch, wie lieb ich ihn hatte in dem Augenblick und wie sehr ich wünschte, mit ihm auf die silberne Straße hinaufzusteigen! Seltsam, daß ich das seither ganz vergessen hatte – und warum nun heute wieder, ganz unvermutet, das auftaucht –?«

Sie verstummte in tiefen, erregenden Empfindungen.

»Möchtest du hinauf?« fragte Stephan plötzlich, ohne die Blicke von dem leuchtenden Bande dort oben zu lösen.

»Ja – ich glaube, ich möchte wohl.«

»Um die Ferne zu sehen –?«

»Die Ferne? Ja – aber nicht die Länder, die räumliche Weite, nein, das ist es nicht! Die Ferne – es ist als liege noch so viel anderes darin verborgen, Erlebnis und Abenteuer, aber Erlebnis des Herzens, Abenteuer der Seele! Das ist's, was ich möchte – von diesen Dingen erfahren, sie selbst erleben, vieles, ach vieles! Wenn man hinauf könnte, auf die leuchtende Straße – würden nicht alle Geister der Sehnsucht, der Hoffnung, der Liebe – und auch die des Leidens und der Schmerzen mit uns durch die Zeit wandern, um uns zu zeigen, wo unsere großen Aufgaben liegen und unser Glück, und um uns klug und still und gut zu machen? Ja, ich möchte wohl hinauf –«

Ihre Worte waren kaum verständlich; sie sprach nur zu der schweigsamen Nacht, zu den Sternen, zu der webenden Luft vor ihrem Munde. Und neben ihr blieb es still; lange ganz still.

»Komm heim, Marlise,« sagte Stephan endlich und erhob sich langsam, als seien ihm die Glieder schwer.

In dem Fichtengehölz war es so finster, daß er ihre Hand nahm, um sie zu führen. Dann gingen sie über die freien Hügel eilig heimwärts.

Als Marlise zwei helle Fenster des Ecks – es war Onkel Josephs Wohnzimmer – in die Nacht hinausleuchten sah, empfand sie einen Stich im Herzen, wie ein feines Schuldgefühl. »Ob er sich nicht doch geängstigt hat?« dachte sie und rannte, Stephan hinter sich lassend, spornstreichs den Weg hinauf und durch das Gartentor. Und wie ein heimkehrender Vogel, allen Schwung und Rausch des Fluges noch im zitternden Gefieder, so fiel sie zu Joseph Stauffer in das lautlose Zimmer.

»Onkel, da sind wir! Du bist nicht böse, nicht wahr? Stephan hat mich entführt; aber er hat mich auch gut behütet!« Nun lachte sie schon wieder und neigte ein schelmisches, rosig belebtes Gesicht zu ihm herab.

»Habt ihr es schön gehabt?« fragte Onkel Joseph zurück, »ja? nun, dann ist es gut! Böse, – als ob ich jemals böse wäre auf dich, Kind Marlise –«

Er sagte es mit einem kleinen Lachen, das erleichtert in ihren Schmerz einstimmte. Wie ein warmer, goldener Ring umschloß sie beide das Lampenlicht; und draußen lag die Sternennacht in undurchdringlicher Stille versunken.


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