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Im Garten des Ecks waren Flieder und Goldregen abgeblüht, und über den blumenbunten, wogenden Wiesenweiten blitzte hier und da schon die Sense. Im Walde färbte sich der goldgrüne Maiwuchs der Tannen und das Buchenlaub sommerlich dunkel.
Aber Marlise kam kaum noch in den Wald hinauf. Weite Spaziergänge machen wie früher, nur von Loki, dem Hund, begleitet – es erschien ihr jetzt wie Pflichtvernachlässigung und Unfreundlichkeit gegen die Menschen, die im Eck saßen und zum Spazierengehen keine Lust hatten. Auch verbrachte sie ihre wenigen freien Stunden lieber in dem friedlichen Zimmer des Spitals, das immer auf sie zu warten schien.
»Die Tage sind so zerrissen!« klagte sie zu Frau Beate. »Hundert unaufschiebbare Dinge hat man zu tun und weiß am Abend doch nicht, was man eigentlich getan hat. Zuweilen wundere ich mich, daß dies Leben mich nicht unzufriedener macht.«
Frau Beate sah sie mit einem nachdenklichen Lächeln an. »Vielleicht, weil Sie fühlen, daß Sie in Ihrem scheinbar unbefriedigenden Tun doch unentbehrlich sind!«
»Meinen Sie, daß ich Tante Franze und Adelina unentbehrlich bin?« fragte Marlise zweifelnd, »und daß nicht jeder beliebige andere, der für ihre Bequemlichkeit sorgte und langmütig zuhörte, wenn sie von ›drüben‹ schwärmen und die Mängel Deutschlands in hundert Abwandlungen beklagen, ihnen dasselbe gelten würde? Manchmal muß man ja lachen, und Mitleid haben muß man auch, denn sie machen sich doch Sorgen, auf ihre Art – nur eben ist diese Art zu verschieden von meiner, ich kann wirklich kein rechtes Verständnis dafür aufbringen.«
»Und Ihr Onkel?« fragte Beate behutsam, »wie stellt er sich zu dem allem?«
Marlise seufzte ein wenig. »Ich weiß es nicht so recht! Er schließt sich mehr und mehr ab, nicht nur von den anderen, auch von mir. Ich muß alle möglichen Künste anwenden, um ihn nur hin und wieder ein Stündchen für mich zu haben – denn das will ich,« fuhr sie lebhaft fort, »damit er doch weiß, das Eck ist noch unser Eck und er und ich sind die Alten! Sagen Sie selbst, liebe Frau Beate: muß ich das nicht?«
»Ganz gewiß!« antwortete Beate, »denn dies ist ein Müssen, das Ihnen aus innerstem Herzen kommt. Aber glauben Sie nicht, Marlise, daß man auch nach zwei Seiten Güte austeilen kann?«
Marlise sah vor sich nieder. »Vielleicht!« sagte sie leise, »doch – nicht auf Befehl, selbst nicht auf den Befehl des Pflichtbewußtseins und des Mitleids. Wahre, reine Güte – mir ist, als könne ich sie nur da geben, wo mein Herz heiß ist und redet.«
»Aber unser Herz ist viel reicher, als wir zuweilen glauben –«
»Meinen Sie damit, daß wir auch andere Menschen als die, welche uns wesensähnlich sind, wirklich lieben können?« fragte Marlise zurück. Sie kreuzte die Hände hinter dem Nacken und blickte sinnend auf die fernen Berge, die blau und sehnsuchtweckend hinter dem Fenster standen. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß nicht, Frau Beate – ich habe nie daran gedacht. Ich wäre zufrieden, wenn ich die Menschen, die ich als die Meinen empfinde, die mich verstehen und die ich verstehe – wenn ich denen Güte und Glück schenken könnte, soviel nur möglich ist.«
Die Worte klangen noch in ihr, als sie heimkehrend an der Fabrik vorbeikam. Onkel Joseph mußte jetzt dort drinnen sein – ob sie auf fünf Minuten zu ihm hineinsprang, nur um ihm ein Lächeln und ein freundliches Wort zu bringen und die beiden roten Rosen, die Frau Beate ihr im Spitalgärtchen geschnitten hatte, auf seinen Arbeitstisch zu stellen?
Sie war schon auf dem Fabrikhof, da sah sie Stephan in blauer Arbeiterbluse, einiges Werkzeug in der Hand, nach dem Maschinenhause hinübergehen, mit dem kräftigen, hochbeinig schwingenden Schritt, der ihm eigen war und der mit seinem steifen Wesen so gar nicht in Einklang zu stehen schien. Unwillkürlich blieb Marlise stehen und atmete beinahe auf, als Stephan verschwunden war, ohne sie zu bemerken – und dann wunderte sie sich in jäher Betroffenheit über sich selbst. Hatte sie nötig, ihr Tun vor Stephan oder irgend jemand sonst zu verbergen? Nein, das war es gewiß nicht, nur – was sie vorhatte, sah mit einem Male so aus, als passe es ganz und gar nicht in diese Umgebung hinein und müsse jedem Außenstehenden als lächerliche Verzärtelung erscheinen. Sehr nachdenklich trug Marlise ihre Rosen nach Hause.
Dort fand sie Adelina mit dick verheultem Gesichtchen, gekränkt, entrüstet, todunglücklich. Das war in letzter Zeit öfters vorgekommen, man konnte es nicht sehr ernst nehmen. Aber Marlise war nicht gefühllos genug, um schweigend darüber hinwegzugehen. »Was gibt es denn wieder, Kleines?«
»Was es gibt? Ich langweile mich!« Adelina hieb mit der rosigen Faust auf den Tisch, daß die Vase mit den Glockenblumen ins Wanken kam. »Ich langweile mich zum Sterben, zum Rasendwerden! Und Mama hat mich so angefahren, wegen der albernen Liebesbriefe, die mir der Romolo Perèz aus Sao Paolo geschrieben hat, wo ich doch gar nichts dafür kann! Mama ist überhaupt gar nicht mehr nett zu mir, seit wir in Deutschland sind! Und kein bißchen Abwechslung und Spaß hat man –« Nun schwamm sie wieder in Tränen.
Marlise kannte die Litanei. Keine Abwechslung, das hieß: keine Gesellschaften und Autofahrten, keine Gartenfeste mit Tanz und Feuerwerk, keine Pferderennen und Tennispartien, kein Theater und Kino, kein stundenlanges Aussuchen, Anprobieren und Kaufen in Läden und Modeateliers, keine Freunde und Freundinnen und Anbeter. Nein, für diesen Entbehrungskummer ging Marlise das Verständnis ab, aber ein Kummer blieb es trotzdem – und sie bedauerte es plötzlich aufrichtig, daß sie nichts, gar nichts wußte und besaß, womit sie Adelina trösten konnte. Sie konnte nur den heißgeweinten, zerzausten Rotkopf in ihren Arm nehmen und die Schluchzende mit kleinen, törichten Schmeichelworten und Zärtlichkeiten beschwichtigen. Diesem unbeherrschten Kindwesen, das gar nicht mehr sein wollte, konnte man nicht anders als kindisch zutunlich begegnen.
Und Adelina ließ sich liebkosen wie ein frierendes Kätzchen. »O Maria, du bist gut! Du bist die einzige hier, die gut zu mir ist! Aber sage mir um alles in der Welt: wie hältst du es hier aus, in dieser miserablen Öde? Du bist doch auch jung – und nie kommen amüsante Menschen ins Haus, nie hast du junge Mädchen, junge Leute um dich –«
»Ich habe mich immer sehr wohl befunden ohne dies alles,« lächelte Marlise.
»Dummes Zeug, das glaube ich dir einfach nicht. Wie eine Nonne zu leben und dabei so hübsch zu sein wie du, das ist ja der helle Unsinn! Und überhaupt, wie soll man denn je zum Heiraten kommen, wenn einen kein Mensch sieht? Ich – oh, ich habe drüben im letzten Winter schon drei Anträge gehabt, aber natürlich, sie haben alle zurückgezupft, als es bekannt wurde, daß unser Vermögen futsch ist. Nur Romolo Perèz, der schreibt mir noch und jammert und bettelt, aber den hätte ich sowieso nicht genommen, so ein armer Schlucker, der kein Auto hat und keine Villa, nur eine gottverlassene Kaffeefarm ganz weit weg von der Stadt –«
»Laß das nur,« lenkte Marlise ab, die die Geschichte schon kannte und die dem Heiratsthema, das Adelina unerschöpflich behandeln konnte, stets nur eine geärgerte Gleichgültigkeit entgegenbrachte. »Hab doch nur ein Weilchen Geduld! Vielleicht zieht ihr bald in eine größere Stadt, da hast du mehr Abwechslung und findest auch etwas zu tun –«
»Ach, das wird auch was Rechtes sein!« maulte Adelina. »Ich seh' es schon kommen: wir werden kein Geld haben, um anständig zu leben, und ich werde womöglich allerlei eklige Arbeit tun müssen, Staubwischen und so etwas, was nur die Hände verdirbt! Die Stadt, in der Stephan eine Stellung gefunden hat, soll auch gar nicht elegant sein –«
»Stephan hat eine Stellung?« rief Marlise überrascht, »wo denn?«
»In – ich weiß nicht, wie es heißt; und es ist auch noch nicht sicher, glaube ich. Mama sprach davon, aber ich habe nicht recht hingehört.«
Marlise hätte sehr gern näheres erfahren. Als aber Tante Franziska jetzt ins Zimmer trat, mochte sie nicht fragen. Sie hatte ein wenig Angst, in ihrer Wißbegier das deutliche Erleichterungsgefühl zu verraten, das die Aussicht auf eine baldige Abreise der Verwandten ihr erregte.
Tante Franze war immer sehr liebenswürdig zu Marlise, wenngleich diese Liebenswürdigkeit eine deutliche Beimischung von gönnerhafter Herablassung enthielt. Tante Franze blieb unter allen Umständen die große Dame, die die Welt gesehen hat und Ansprüche stellen kann, Marlise das kleine, ungelenke Provinzmädchen mit dem beschränkten Horizont und den spießerhaften Anschauungen. Nur in einem Punkt erkannte Tante Franze eine Überlegenheit Marlises an, obschon sie das mit Worten nie zugegeben hätte: das war, was den Einfluß auf Onkel Joseph anbetraf. Frau Franziska Klotz kannte ihren Bruder noch recht genau und wußte, daß bei diesem Träumer, der scheinbar alle Dinge laufen ließ, wie sie wollten, mit ihren Wünschen und Forderungen herzlich wenig auszurichten war. Nur auf Umwegen war ihm beizukommen – und Marlise war ein solcher Umweg. Das hatte Tante Franze am deutlichsten gespürt, als sie sich zu jener Stichelei über Marlises berufsloses Dasein hatte hinreißen lassen.
Auch heute hatte sie wieder verschiedene Anliegen und Vorschläge, die ganz wie nebensächlich herauskamen: ob Onkel Joseph nicht Lust haben werde, die paar alten Freunde, die Frau Klotz geborene Stauffer aus ihren Jugendtagen in Beurenbach und Umgebung noch kannte, zu einem netten, kleinen Abendessen einzuladen; ob Onkel Joseph nicht Stephan, dem guten, tüchtigen Jungen, ein Zeugnis ausstellen könne über die Tätigkeit, die er in den Webereiwerken Heinrich Stauffer ausgeübt habe; endlich, ob Onkel Joseph nicht dafür sei, daß Adelina, die ja leider recht nervös und reizbar wäre, eine kleine Kur mit Solbädern und Elektrisieren in dem Schnepfheimer therapeutischen Institut durchmache, solange man sich noch am Ort aufhielte.
Marlise hörte alles geduldig mit an. Sie werde Onkel Joseph fragen, ja, gern; gelegentlich. Sie war unaufmerksam und dachte unter Tante Franzes plätschernder Redseligkeit nur immer wieder: »– wenn Stephan eine Stellung hat – Onkel Joseph wird auch nicht untröstlich sein –«
Seltsam unbehaglich war die Verwirrtheit dieser Empfindungen.
Marlise machte sich frei und ging ins Musikzimmer hinunter. Sie hatte Verlangen nach einer Stunde des Alleinseins, nach dem Untertauchen in ganz anderen Vorstellungen, stilleren und reineren Gedankenkreisen. Musik –? Nein, dazu war sie nicht ruhig genug; aber lesen, etwas Liebes, Altbekanntes, das mußte gut sein. Sie holte sich, als müsse sie sich mit einer Schar von Freunden schützend umgeben, gleich drei, vier Bände aus dem großen Bücherschrank, blätterte kurz darin herum und versenkte sich dann in die »Lebenserinnerungen eines alten Mannes«.
Es war fast dämmerig im Zimmer. Ein leiser Sommerregen pochte an die Fensterscheiben.
Nebenan im Wohnzimmer ging die Tür. »Onkel –?« rief Marlise, ohne vom Buche aufzusehen. Wie schön, wenn er sich jetzt zu ihr setzte, ganz still, auf ein Stündchen bis zum Abendessen –
Aber auf der Schwelle erschien Stephan. »Ich bin es nur. Verzeih, daß ich dich störte. Ich hatte etwas auf Onkel Josephs Schreibtisch zu legen.«
»Komm doch näher,« sagte Marlise, deren Aufmerksamkeit sogleich von dem Buche weggerissen war. Und nach einem kleinen Zögern fuhr sie fort, so freundlich wie es ihr irgend möglich war: »Adelina sagte mir, du habest eine Stellung gefunden – oder wenigstens in Aussicht?«
»Nein; es hat sich zerschlagen.«
»Oh –!« rief sie, »das tut mir aber leid –«
»Mir auch,« gab er zurück, es klang hart und höhnisch. »Nein, es ist wieder einmal nichts. Gar nichts. Und – das Eck wird seine Almosenempfänger noch ein paar Wochen länger durch füttern müssen.«
Marlise richtete sich erschrocken auf, – was war dies? Wer sprach in diesem Zimmer solche überdeutlichen, mit Bitterkeit und Feindschaft triefend vollgesogenen Worte? Und sie, hatte sie nötig, diese Worte anzuhören? Was wollte dieser fremde Mensch von ihr?
»Ich wüßte nicht,« entgegnete sie kalt, »daß das Verhalten irgend eines Menschen im Eck dich zu dieser Auffassung der Dinge berechtigte.« Sie war aufgestanden und nahm mit einer kleinen Bewegung, von der sie selbst nichts wußte, ihr Kleid um sich zusammen, – da sah sie in Stephans Gesicht. Es war sonderbar fahl, stumpf, gealtert, in den Augen eine wütende und verzweifelte Pein –
»Stephan –! Was ist dir denn?« fragte sie leise.
Er antwortete nicht. Aber er ließ sich in einen Stuhl fallen und saß da, krummrückig, in sich verkrochen und schweigsam.
Auch Marlise setzte sich wieder. Sie hätte jetzt nicht fortgehen können. Ihr war, als sei es ihre Pflicht, die sanfte Gelassenheit, die in der Luft dieses Zimmers lag, um jeden Preis aufrecht zu erhalten. Sie nahm ihr Buch wieder zur Hand, blickte hinein und wartete ohne einen klaren Gedanken.
»Du liest wohl sonst viel?« fragte Stephan nach einer Weile mit seiner gewohnten, höflich ruhigen Stimme. »Drinnen im Wohnzimmer steht ja eine Riesenbibliothek beisammen –«
»Ja, Onkel hat so viele Bücher,« antwortete Marlise. »Manche gehören auch mir, Onkel hat sie mir alle geschenkt. Aber wir sind beide sehr anhänglich in unserem Geschmack: wenn wir ein Buch erst einmal liebgewonnen haben, lesen wir es immer wieder und lassen die anderen links liegen.«
»So gehört dieses hier wohl zu den Auserwählten,« meinte Stephan und nahm einen der Bände, die Marlise neben sich liegen hatte, in die Hand. Es war ein Märchenbuch.
Marlise lächelte. »Ja, das ist eine heimliche kleine Schwäche von mir! An den alten, lieben Geschichten habe ich immer die gleiche Freude und bin mit Schneewittchen und Rapunzel und den sieben Raben heute noch auf du und du.«
»Eine Schwäche?« wiederholte Stephan nach einem kurzen Schweigen, »eine sehr begreifliche, wie mir scheint. Wenn du im Märchenlande umherläufst, kreuz und quer durch goldene Schlösser und Elfenwälder und Schatzhöhlen, – nun gut, da bist du ja ganz in deiner Welt und atmest die Luft, die allein dir bekömmlich und notwendig ist.«
»Was meinst du damit?« fragte Marlise befremdet.
Er schlug das Buch in seiner Hand flüchtig auf und zu. »Ich bin doch auch ein deutscher Junge gewesen und habe mir in der Dämmerstunde von Dornröschen und Ritter Blaubart und dem Vogel ohne Herz erzählen lassen, – und gibt es nicht auch ein Märchen vom gläsernen Berge, in dem die verzauberte Prinzessin wohnt? Dieser gläserne Berg ist mir wieder eingefallen, seitdem ich ins Beurenbacher Eck geraten bin! Oh, er steht so wunderbar schön und glatt und schimmernd in seiner Märchenlandschaft, und drinnen glänzt alles von Gold und Edelsteinen und Seide, und Blumen duften überall, und es ist ein Singen und Klingen von silbernen Harfen und betörend süßen Stimmen. Durch die kühlen, blanken, gläsernen Wände hindurch kann man das alles sehen, aber die blanken Wände sind auch undringlich fest, und der Weg, der hinaufführt, ist so steil und so glatt, daß jeder Wandersmann, der ihn etwa erklimmen möchte, sich unweigerlich Hals und Beine dabei bricht. Mein Gott, man ist ja nicht so vermessen, sich als sieghaften Märchenprinzen zu fühlen, ach nein! Aber warum steht er denn am Wege, der gläserne Berg, und leuchtet und lockt so aufreizend, wenn er uns doch um keinen Preis einlassen will?«
»Was meinst du eigentlich?« fragte Marlise noch einmal wie betäubt, »was ist er, – wo ist er, dein gläserner Berg?«
»Aber wir greifen ihn ja mit unseren Händen!« rief er mit aufflammenden Augen. »Das heißt: ich stehe draußen auf dem halsbrecherischen Wege, du aber sitzest mitten darin, hinter der schimmernden, undurchdringlichen Wand, du Prinzessin Marlise mit deinem Märchennamen und deiner verzauberten Unnahbarkeit! Deine Mutter ist eine gefangene Königin, die lebenslang um ihre verlorene Krone weint, dein Onkel ist ein neunmalkluger Zauberer, der alle Bücher der Welt gelesen hat und irgend ein schreckliches und jammervolles Geheimnis mit sich herumzutragen scheint. Und in eurem gläsernen Berge sitzt ihr so sicher, oh, so fürchterlich fest und sicher abgeschlossen, daß man friert, wenn man nur daran denkt, und doch ist euch da drinnen warm und wohl und stolz zumute!« Er sprach mit heißer, flatternder, von Erregung bedrängter Stimme auf sie ein, und es schien ihm eine wilde, aufrührerische Freude zu bereiten.
»Warum sagst du das alles? Warum denkst du so von uns?« flüsterte Marlise angstvoll erschüttert, als käme etwas Dunkles, schwer Bedeutungsvolles auf sie zu. »Wir haben euch doch aufgenommen, ohne lang zu fragen, wir haben alles getan, was wir konnten –«
»O gewiß!« Stephans zustimmendes Lächeln war schmerzhafter Hohn. »Ihr habt uns ein gutes Bett und einen Stuhl und einen wohlgefüllten Teller gegeben, Onkel Joseph hat Ratschläge und Versprechungen und viel Geduld für meine und Mutters Nöte gehabt, er hat sich taktvoll und großmütig gezeigt, und du hast Adelinas Verzogenheiten nachsichtig ertragen und bist immer freundlich, anmutig und wohlerzogen zwischen uns herumgegangen. Aber ihr habt das alles nur mit heimlicher Überwindung getan? Über einen leeren Raum von Fremdheit, von unbarmherzig überlegener Kälte und Stille hinweg habt ihr uns eure Guttaten an langer Stange gereicht, wie man früher den aussätzigen Bettlern ihr Almosen verabfolgte! Von der ersten Stunde an habe ich es gespürt, daß keiner von uns euch nahe kommen würde, – weil ihr uns nicht wolltet, weil ihr allein bleiben wolltet in eurem gläsernen Berge, der so viel Geist und Kunst und Schönheit und Liebe umfaßt, und der doch so eisig und unzugänglich daliegt, daß wir anderen uns die Hände daran blutig klopfen können!«
Marlise fand keine Worte. Nie im Leben hatte eine so unverhohlene Feindseligkeit ihr innerstes Sein und Wesen angegriffen, gerade das angegriffen, was sie stets in fröhlichem Stolze hochgehalten hatte. Sie war tief verwirrt und konnte sich noch nicht fragen, was hiervon etwa Wahrheit sei und was der ungerechte Eigensinn eines Feindes, der selbst irgendwie verletzt, irgendwie hilflos war. Verstohlen blickte sie zu Stephan hinüber: er hatte sich in den Stuhl zurückgelehnt und sah plötzlich sehr müde aus. »Was hat er durchgemacht, daß er so bitter wurde?« flog es ihr durch den Sinn, und sie fühlte sich in dieser Unwissenheit scheu und ratlos.
»Sag nichts mehr!« sprach sie leise und heftig. »Es ist ganz unnütz! Wir verstehen einander nicht, und – wenn wir uns nur irgendwie verständen, wäre es erst recht unnütz, über solche Dinge zu sprechen. Ganz still muß man sein und –« Sie brach ab, sie wußte nicht: was mußte man tun, damit – ja, damit aus der Stille Güte wurde, die nach allen Seiten leuchtet?
Es war auch für heute zu Ende mit ungestörten Gesprächen. Onkel Joseph kam soeben nach Hause, Marlise mußte in der Küche und im Speisezimmer nach dem Rechten sehen, dann klang der Gong zum Abendessen.
Es ging lebhaft bei Tische zu, wie jetzt immer; Frau Stauffer saß in leidender Zerstreutheit unter den anderen, hinter ihr stand ein Fenster offen, und ihre Schultern verzogen sich in leichtem Frösteln. Stephan stand auf, holte ein Tuch von der Veranda herein und legte es ihr mit behutsamen Händen um.
Sie sah zu ihm auf, mit dem hellen, herzlichen Lächeln, das zuweilen wie ein huschender Sonnenstreif ihre Versunkenheit erhellte.
»Danke, Stephan!« sagte Marlise von der anderen Seite des Tisches herüber. Aber sie sagte es so leise, daß er es nicht hörte.