Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der letzte Teil des Goethe-Zelter'schen Briefwechsels ist nicht reich an Personalitäten, nach welchen man in den vertrauten Äußerungen interessanter Männer so begierig ist. Doch überrascht es, die Unsterblichkeit von Weimar an vielen Stellen gegen die ihr systematisch dargebrachten Huldigungen kalt und zurückhaltend zu finden, weil es Goethe schwer ankam, für seine Enthusiasten, oder, wie man zu sagen pflegt, für seine Juden überall gut zu sagen. Vergebens, daß der Flügelmann der Hegel'schen Schule, Leopold von Henning, nach Weimar reist, und dem greisen Pontifex die Generalbeichte Berlins bringt; vergebens, daß Hegel selbst, wenn er den alten Zelter sieht, zwei Mal sein Samtbarett lüftet, um anzudeuten, daß sein Leben eine stete Reverenz vor Goethe sei. Merlin bleibt ein Zauberer, der sich allen entzieht, der auch über Hegel nicht ins reine kommen kann, und sich bei so viel Anbetung still bescheidet, er könne ihn nicht verstehen. Aber noch merkwürdiger als diese Geständnisse, bleibt eine Stelle, welche Goethe am 4. Oktober 1831 schrieb, und wo er gegen die württembergische Andacht gegen den süddeutschen Goethoklasmus einen Gestus macht, den niemand erwartet hat, am wenigsten die Stuttgarter und Tübinger, welche noch darüber weinen, daß der dreiundachtzigjährige Goethe viel zu früh für die Literatur gestorben sei. Gustav nämlich, der Bruder des Paul Achaz Pfizer, bekannt durch eine Übersetzung Bulwers, grün beschattet von der in Schwaben wuchernden Lyrik, hatte an Goethe einen Band seiner früh in Garben gebundenen Gedichte übersandt, vielleicht von ihm ein Handschreiben dafür erhalten, das beim alten Reinbeck in Stuttgart von der ganzen schwäbischen Lyrik geküßt wurde, im Vertrauen aber folgende Äußerung nach Berlin hin veranlaßt: »Von den modernsten deutschen Dichtern kommt mir Wunderliches zu: Gedichte von Gustav Pfizer, wurden mir dieser Tage zugeschickt; ich las hie und da in dem halb aufgeschnittenen Bändchen. Der Dichter scheint mir ein wirkliches Talent zu haben, und auch ein guter Mensch zu sein. Aber es war mir im Lesen gleich so armselig zumut, und ich legte das Büchlein eilig weg, da man sich beim Eindringen der Cholera vor allen deprimierenden Unpotenzen strengstens hüten soll. Das Werklein ist an Unland dediziert, und aus der Region, worin dieser waltet, möchte wohl nichts Aufregendes, Tüchtiges, das Menschengeschick Bezwingendes hervorgehen. So will ich auch diese Produktion nicht schelten, aber nicht wieder hineinsehen. Wundersam ist es, wie sich diese Herrlein einen gewissen sittig-religiös-poetischen Bettlermantel so geschickt umzuschlagen wissen, daß, wenn auch der Ellenbogen herausguckt, man diesen Mangel für eine poetische Intention halten muß. Ich leg' es bei der nächsten Sendung bei, damit ich es nur aus dem Hause schaffe.«
Wahrlich, für die schwäbische Lyrik konnte nichts Schmähenderes gesagt werden! Diese kleine, bescheidene, vom Tagesgewühl umrauschte Schule, an welche der Patriotismus und die Begeisterung für Schillers Album seit Jahren so große Forderungen gerichtet haben, diese Gutherzigen, welche in ihrem Gott vergnügt sind, wenn sie einen Maikäfer, ein Bienchen, die Fliege an der Wand und sich besungen haben, hatten alle im Stillen einen lautlosen Kultus für Goethe, der im Grunde ihres Herzens ihnen mehr war als Politik, Schiller und sein Album. Sie sagten's nur nicht laut, damit es Wolfgang II. nicht hörte: nur in stillen vertrauten Stunden machten sie ihrem Herzen Luft, wenn Gustav Pfizer Goethes Farbenlehre besang oder sonst. Dieser fromme Enthusiasmus ist durch jene denkwürdige Äußerung recht schnöde paralysiert, um so mehr, da sie so unverständlich ist, und man so viel darin finden kann. Wir wollen versuchen, aus unserm Standpunkte die literarisch-historischen Folgerungen aus ihr zu ziehen.
Die Veranlassung jener Worte betreffend, so kann niemand die Wahrheit des Goethe'schen Urteils über die ersten Versuche eines jungen Anfängers in Zweifel stellen. Goethe nennt den sich empfehlenden Dichter einen guten Menschen, und damit hat er für die ganze schwäbische Lyrik mehr gesagt, als er vielleicht wußte. Auch Talent besitzt Gustav; doch ist es nicht hoch; es ist etwas weitläufig, weil es Reflexion ist: er käme nicht aus ohne Schiller und das, was Schiller eine gebildete Sprache nannte, die für sich dichtet und denkt. Gustavs Poesie ist nicht schöpferisch, sondern darstellend; er glättet jeden Gegenstand, den er grade vornimmt, ab und gibt uns das Spröde und Faserichte lauter, nett, im Goldschnitt zurück. Ich hasse die Poesie überhaupt, wenn sie nicht erfinderisch ist, und die Reflexion insbesondere wenn sie nicht witzig ist. Hat Goethe über Uhland eine Ungerechtigkeit gesagt? Gewiß, wenn er ihn da tadelt, wo er ihm am verwandtesten ist. Von Unlands sogenannter zeitgemäßer Poesie abstrahieren wir einen Augenblick; aber für die Gattung, für das Lied und die Ballade hat Uhland Unsterbliches geleistet. Wenn es wahr ist, daß das lyrische Gedicht einen begrenzenden Rahmen haben soll, der den Gedanken so zusammentreibt, daß er auf einen Moment ihn verkörpert, so ist Unlands Lyrik noch gestaltender, als Goethes. Jedes Gedicht soll in der Tat aus zwei Teilen bestehen, aus einem sichtbaren Gerüste und einem Nachklange, der so mächtig ist, daß er den Hörer zwingt, ein zweites Gedicht, die Erklärung eines gesehenen oder gehörten, in sich nachzuschaffen. Das wahre Gedicht liegt oft gänzlich außerhalb des Wortes: man muß es erst machen, wenn man die anregenden Worte vernommen hat. Deshalb ist die Einfachheit schon das erste Kennzeichen eines jeden wahren Gedichtes; aber wie oft verpuffen Goethes Verse! Selten bei Uhland, namentlich in der Ballade, deren lyrische Auffassung, deren einfache Fragen und Antworten, deren ganze Form die Hörer immer zwingt, das eigentliche Gedicht erst selbst zu machen, so daß man einen Augenblick das Buch zuschlägt und nicht genießt, sondern ergänzt und tätig ist. So muß man sich ausdrücken, will man an Uhland das Rechte bezeichnen.
Uhlands patriotische Verdienste konnte Goethe nicht würdigen: er bepfuite die politischen Lieder. Das mag ihm hingehen, dem alten Herrn, der nicht im Zusammenhange die Ereignisse sah, und in seiner Jugend wahrlich keine Aufforderung gefunden hatte, sich um die Misere seiner Geschichte zu bekümmern. Ihm dies nachtragen wollen, ist eine Ungerechtigkeit, die in Bezug auf Uhland sich um so mehr vergrößert, da die Tätigkeit desselben in dieser Rücksicht untergeordnet ist, und nur für Württemberg von Wert sein kann. Uhlands Verdienst ist ein generelles, in Beziehung auf das Lied und die Ballade.
Allein der positive Tadel, welchen Goethe über Uhland ausspricht, ist beherzigenswert, namentlich wenn die schwäbische Lyrik Mode werden sollte, oder gar prätentiös. Diese Lyrik ist so beschränkt auf ihre kleinen Berge und Täler, so einheimisch, ruhig und glückselig, daß sie keinen Schmerz in der Welt kennt, als vielleicht den, von einem Spaziergange kein neues Gleichnis mitzubringen. Diese Dichter sind mit der Welt versöhnt, sie interessieren nur in Beziehung auf ihren beliebigen Gegenstand, den man doch auch nur gelten läßt, weil wir keine Vandalen sein wollen, welche unempfindlich bleiben, wenn von Nachtigallen und Maikäfern die Rede ist. Man kann sie nicht so hart anlassen, diese kleinen Kombinationen und artigen Gleichnisse, aber recht hat Goethe, wenn er hier weder etwas Aufregendes, Tüchtiges, noch Menschengeschick Bezwingendes sieht. Er hat recht, es ist ein sittig-religiös-poetischer Bettlermantel, der die Blößen dieser Herren bedeckt, ein gewisses Sichhaben und Tun, wohinter sich Mittelmäßigkeit und viel Phlegma verbirgt, eine ganz gewöhnliche, auf die Partei sich stützende Weltansicht. Wo ist Prometheus? Wo ist der Gott in Euch, der Euch zu Boden wirft, daß Ihr Tränen der Verzweiflung weint? Wo ist der Schmerz, daß wir schier nichts wissen können? Ich sehe genug Gelbveigelein und Sternblümchen; wo aber sind die Palmen, wo der Lotos? Ich sehe Haberrohr und Holderblätter, auf welchen Ihr pfeift; wo hängen Eure Harfen? Goethe hatte die Welt überwunden: er hatte mit Äschylus gesprochen, Menschengeschick bezwungen. Er hatte die Ewigkeit. Goethe konnte vieles geben, und hatte doch noch alles hinter sich. Man rede nicht von Vielseitigkeit, von der glücklichen Lage, sich um Fossilien und Farbenleiter bekümmern zu dürfen; das ist Spielerei und Nebensache gewesen. Dies ist die Frage: Habt Ihr Euch selbst gefunden? Überwandet Ihr die Welt in Euch? Habt Ihr Eurem Volk etwas Großes und Neues gegeben? Goethe leugnet es; er sagte: Ihr habt dem Bettler seine Lumpen gestohlen und Eurem Taufscheine Euren Glauben, und der Gewohnheit Eure Sitte, dem Herkommen Eure Grundsätze, fremder Poesie Eure eigne; Ihr lehnt euch an das Anerkannte, Ihr standet nie hoch, nie auf den Alpen, Ihr habt nichts, als Eure gemütlichen Stimmungen, Eure Abendsonnen-Spaziergänge, Eure Sommerfäden, die Euch die Poesie zuwehen. Wo ist Prometheus? Goethe sagt: Ihr werdet schon stolz auf Eure Reime. Goethe sagt: Ihr liebkost Euch untereinander und treibt jetzt, nachdem Ihr mich tot seht, mit Schiller Affenschande! Goethe sagt: Ihr wollt Heine nicht unter Euch dulden, der am Schmerze der Zeit leidet, und in seinen Schriften die ihm entflohene Poesie, welche er einst schon erhascht hatte, wieder einzuholen jagt. Goethe sagt: Euer drittes Wort ist der deutsche Süden, gleichsam, als wenn in Schwaben die Poesie an den Bäumen wüchse und die Tübinger Stiftler prädestinierte Genies wären! Er sagt noch mehr; man lese nur im sechsten Bande Zelter'scher Briefe, Seite 305 und 306. Ich freue mich, Uhlands unendliche Verdienste um die Gattung anzuerkennen; doch ist es mir ein rechtes Bedürfnis gewesen, mich gegen Spalier und Reim auszusprechen und die Absicht der Lyrik sich zusammenzutun, oder wohl gar durch Verse das ausdrücken zu wollen, was unsrer Zeit und Literatur not tut, früher zu hintertreiben, ehe sie sich darüber ausspricht. Goethes Wort hielt ich für zu wichtig, als daß es überhört werden durfte. Für die voranstehende Ausführung desselben kann ich nicht; meine Stellung zwingt mich, offen und frei die Wahrheit zu bekennen.
Das neueste Morgenblatt enthält von Görres einen bis heute unvollendeten Artikel über Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Wir wissen noch nicht, was er über Bettina von Arnim sagen wird, über ihre Liebe zu Goethe, und ihre Verheiratung mit der romantischen Schule, vorzüglich aber über die Leiden Achims von Arnim, ihres Gemahles, dieses unglücklichen Elfensohnes, der sich den Rest seines Lebens über mit rationeller Landwirtschaft plagte. Wir wissen noch nicht, wie wir Bettinen sehen werden, ob als geflügelte Libelle der Poesie, oder als gelehrte Dame mit dem nachlässigen Air einer Schriftstellerin, eine kleine runde Person, gehüllt in einen Shawl, der, wie immer von geistreichen, die Toilette nicht achtenden Frauen geschieht, über die Schultern und die beiden Arme fest angezogen wird, so daß die ganze Breite des Körpers zum Vorschein kommt; endlich ob euch die grüne Brille nicht überraschen wird, mit welcher diese poetische Sylphide ihr Auge zu bewaffnen pflegt. Bis jetzt sprach Görres nur von Goethe: und wie sich erwarten ließ, mit demselben Arabeskengeschnörkel, das Görres' Stil charakterisiert, mit seiner ganzen prophetischen Salbung, mit seinem massiven und doch pointierten Witze. Architektonisch bauen sich die Perioden auf, wie Rundbögen ziehen sich die Phrasen hin- und herüber, kleine gotische Spitzsäulen auf ihnen, und allerhand ziseliertes Blätterwerk drum herum, mystische Knaufe, geheimnisvolle Steinrosen. Und doch scheint die ganze Weise mehr Erinnerung zu sein. Görres setzt einen Trumpf darauf, zu zeigen, daß er noch immer in seiner alten Maurischen Manier befangen ist und in der Kutte des Priesters, die er im Grunde doch auf dem Leibe trägt, doch immer noch nicht vergessen hat, wie er sprach, als Jakobiner von Koblenz, als Heidelberger Mithrasdiener und als der geflügelte Rheinische Merkurius. Görres macht es wie Heine. Beide fangen an, jeder sich selbst nachzuahmen.
Es war gerade Pater Cochems Legende der Heiligen, in der Görres gelesen haben mußte, als er auf den Gedanken kam, über Goethe zu schreiben. Denn viel Theologie, viel Salbung und biblische Parabolik ist ihm im Munde haften geblieben, und läuft nun in die etwas redseligen und unaufhörlichen Expositionen über Goethe unter. Die Idee ist schön. Görres teilt die Menschen ein in zwei große Feldlager, hier die Genialen, drüben die Philister. Und siehe, da geschah es, daß ein Fürst von den Genialen, ein im Himmel apanagierter Prinz, sich herabließ zu einer Tochter der Erde, ein Gott zu einer Bajadere, zu einem bürgerlichen Aschenbrödel, und aus dieser Ehe entsproß Wolfgang Goethe. Das wäre gewiß eine sehr schöne Genealogie und würde uns die Natur des großen Mannes hübsch erklären, wenn man das Ganze umkehrte. Goethes Poesie ist nicht genial, wie ein illegitimer Sohn, ein Bastard, der von einem Gottvater mit einer schüchtern-dummen, aber sinnlichen Grisette gezeugt wurde, nicht genial und weltstürmend, wie Edmund im Lear, der sich rühmt, nicht des warmen Ehebettes Frucht zu sein. Sondern diese Poesie entstand durch den Fehltritt einer Fee, durch eine sinnliche Verirrung mit einem jungen servilen Pagen. Daß sich Goethe an die hohem Stände akklimatisieren wollte, das ist an ihm das Prosaische und kann hier gar nicht in Betracht kommen, wo es einzig seiner poetischen Physiognomie gilt, diese aber ist sentimental, sie ist das Menschlich-Schwache, das Weiblich-Schöne. Einen Prinzen als Vater erkennt man nicht, wohl aber eine mondsüchtige Prinzessin, die die offizielle Vermählung mit einem auswärtigen Hofe ohne Liebe nicht abwarten wollte, und ihr Bestes einem hübschen Philister opferte, einem prosaischen Schafskopfe, der sich dabei geniert und zuletzt noch für die Ehre bedankt. Und so gleicht Goethes Poesie einem verschämten, mädchenhaften Gärtnerburschen, voll häuslichen Philisterismus, aber mit naivem Mutterwitz, einem oft recht ordinären, ängstlichen, rücksichtsvollen Diener, der aber poetische Schwingen bekommt, wenn seine Prinzessin Mutter an ihm vorüberrauscht, und mit einer lächelnden Träne im Aug', ihn um eine Blume bittet. Und das ist Goethes eigentümliche Unsittlichkeit, daß sich der Bube wohl gar in seine Mutter, in die Fee, verliebt. Ich glaube, Goethe richtiger charakterisiert zu haben als Görres. Goethe war allem Genialen verwandt, aber selbst kein Weltstürmer, Goethe war ein großes Talent mit dem Takte des Genies, hingezogen zu allem Großartigen nicht schöpferisch, sondern empfangend, nicht männlich, sondern weiblich, und doch im Rückzuge wieder ein sehr prosaischer, bedenklicher und untergeordneter Patriziersohn.
Noch einmal berichtig' ich Görres, was aber auf einem andern Brett liegt. Görres teilt die Personen, die Goethe geschaffen hat, in zwei Rangordnungen ein, in irdische und himmlische, in philisterhafte und geniale; zu diesen soll Werther, Faust u.s.w. gehören, zu jenen Albert, Lotte, Jarno u.s.w. Und dies ist ganz richtig, wenn Görres damit nicht eine persönliche Unzulänglichkeit des Dichters, ein Erbübel seiner Natur hätte bezeichnen wollen. Warum soll Goethe die Verantwortlichkeit für seine Schöpfungen übernehmen? Warum mit jeder Figur selbst identifiziert werden? War er nicht Künstler und sonderte die Masse seiner Idee in Licht und Schatten, in Satz und Gegensatz, in Charaktere, welche sich wechselweise bedingten? Albert, Lotte, Jarno, Wagner u.s.w. diese gleichsam tellurischen Gestalten sind ja nichts als die Schatten, welche Werther, Meister und Faust werfen: sie sind einer tiefen Anschauung des Lebens, einem besonderen Verständnis menschlicher Zustände entnommen, und können das, was wir in Goethe als das Philisterhafte zu bezeichnen haben, gerad' am wenigsten ausdrücken, weil der Dichter sie nur aus künstlerischen Rücksichten, zur Draperie schuf und weil er selbst über ihnen steht. Goethe für alle Charaktere seiner Gedichte verantwortlich machen, und jede seiner Reflexionen aus dem Spiegel seines Wesens herleiten, ist eine Ungerechtigkeit, gegen die er Schutz verdient.
Überhaupt, da Goethe gern als Devise und Parteiparole genommen wird, so erklär' ich für dies Literaturblatt, daß in seinem Pantheon Goethes Büste den Ehrenplatz behauptet, daß sie aber mit einem schwarzen Flor umhüllt ist, wie das Brustbild Mirabeaus im Konvent verhangen wurde, als man den eisernen Schrank und des großen Redners Verrat entdeckte.
In Goethes Faust, in jenem fragmentarischen Faust, der noch so frei ist von den Verifikationen einer philologischen Koketterie, im Faust des ersten Teils leuchtet die Morgenröte des neuen Jahrhunderts. Kants Kritik der reinen Vernunft war für die Revolution der Geister die Berufung des Parlaments. Faust war die Tragödie des Dings an sich. Da stand die alte Welt mit ihren verrosteten Sätzen der Scholastik, mit ihrer konventionellen Tyrannei der Formen und der Sitten, und war ohne Trost und Erquickung für die denkende Seele. Von außen sehen wir alle Dinge, daß sie grau, weiß, daß sie rund, von Holz oder von Eisen sind; was ist ihr Kern? Wie ist die Stellung des Subjektes zu dem Prädikate? Wie gleichen die Eigenschaften der Dinge sich untereinander aus? Woher die Materie? Woher das Licht in die Finsternis? Woher der Zufall? Wie die Freiheit des Willens bei der Notwendigkeit des Schicksals? Ach, es muß schier das Herz verbrennen, daß wir nichts wissen können! So wehklagte das neue Jahrhundert: es war der erste Fund, der der Menschheit glückte, das Ding an sich: und doch war es der alte Schmerz: nur tiefer wußte man, daß man nichts wissen kann.
Wir, die wir fünfzig Jahre jünger sind, – sind wir näher dem Ziele? Weh' uns! Noch quillen in dunkeln Nächten unsre Augen von Tränen der Verzweiflung über: noch wissen wir nicht, wie wir kommen, gehen und stehen, wie die Welten geschaffen wurden, wie Zeit und Raum, das Sichtbar-Unsichtbare, sich ausspannte über die Dinge und Taten. Es ist der alte Schmerz. Wir hatten eine glänzende Philosophie, welche fünfzig Jahre hindurch die Geister beschäftigte, sie hat kein Problem gelöst; sie ist nur da gewesen, den Schmerz zu verhüllen und durch bunte Erfindungen unsern gierigen Augen einige Nahrung zu geben.
Die Philosophen und Dichter, jeder wählte eine eigne Farbe, das Ding an sich, dies erstarrenmachende Gorgonenhaupt, zu einem holderen Blicke zu nötigen. Kant schuf einte ordinäre praktische Philosophie, Goethe erfand nichts, im ersten Teile nichts, er stellte nur die Tatsache dar. Goethe fühlte aber, daß er dafür einige Versöhnungsmittel haben mußte. Es waren bei ihm die Poesie, der Glaube, das Menschliche und das Tragische eines Ereignisses. Goethe wollte uns Kontraste geben; aber er hatte ein System darin: hier Faust, der ausgebrannte Vulkan, dort Mephistopheles, die Lavaasche, die ihn mit glühendem Spotte umströmt, dann das halbböse, halbgute Reich der Naturkräfte und der Zauberei, dann die Tatsachen der Wirklichkeit, Religion, Unschuld, und zuletzt die Mischung aller dieser Elemente, Himmel, Erde und Hölle, ausgedrückt in dem wahnsinnigen Kindsmorde eines Engels. Dies war der poetische Schluß einer Tragödie, die nicht belehren sollte, sondern nur schildern. Die Poesie ist immer ohne Resultate. Goethes Faust ist nichts als ein Bericht. Die Dissonanz ist seine Harmonie. Die Faustfrage ist vielleicht eine ewige; denn die Wahrheit wird nur erschaut im Jenseits. Sie ist täglich einer neuen Aufnahme fähig: alle Tage geben die Zeit, die Unmöglichkeit ihrer Lösung auszusprechen. Nikolaus Lenau durfte sich ungescheut neben Goethe mit seinem Versuche stellen: es schmerzt uns aber für einen hochbegabten Dichter, daß er ihm gänzlich mißlungen ist.
Über Gutzkows Selbstverständnis als Goethe-Kritiker
Wenn große Männer vom Schauplatze treten, so schwinden die Leidenschaften, die sie aufregten, mit dem allmählich verdämmernden Schatten ihrer Persönlichkeit, mit dem äußersten Saum ihres Kleides, den wir kaum mehr sehen, sondern nur noch rauschen hören, in weiter todesnächtlicher Ferne. Je mehr sich die Erinnerung der Goethischen Individualität und seines gesellschaftlichen Daseins schwächt, desto größer wird die Teilnahme an der Objektivität seines Ruhmes werden. Die Ideenkreise, welche Goethes Schriften wecken, werden mit ihrem Mittelpunkte nicht mehr nach Weimar fallen, sondern sich immer mehr jener unsichtbaren Metropolis nähern, nach welcher sich die Dichter aller Zeiten in der Ausführung ihrer Ideale sehnten. Die Jugend zumal nimmt die persönlichen und individuellen Überlieferungen großer Männer immer nur als Reliquien einer Andacht hin, welche nicht mehr der Leidenschaft, der Liebe und dem Hasse, sondern nur noch dem Wissenstriebe und dem Gedächtnisse Nahrung gibt. Ich kenne wenig von der innern Maschinerie unserer Literaturgeschichte, von ihrer Häuslichkeit, von ihren Familienverhältnissen, ihrer Garderobe.
Literatur und Gesellschaft in der Epoche vor Goethe
Man kann nicht sagen, daß sich die deutsche klassische Literatur, in ihrem abgeschabten Aufzuge, mit den Löchern unterm Ärmel, und der einfachen Stutzperücke von Hanf der vornehmen Aristokratie der Gönner aufgedrängt habe. Im Gegenteil kam ihnen diese entgegen. Die Freude über die beginnende Herrschaft der Schönheit und des tiefgefühlten Gedankens hatte einen rosigen Abglanz auf das Antlitz Hoher und Niederer geworfen. Aus der unschönen, verbrauchten und abgestandenen Wirklichkeit flogen die mit innerem Seelenadel beschwingten Gemüter in die eben erst aufgeschlossenen frisch getünchten Tempel der neuen Kunst, und später der Philosophie. Eine idealische Welt flocht ihre Blumengirlanden durch das rings mit Dornen und Disteln besetzte Dasein; man umging zuerst die Prosa, später jätete man sie sogar schon aus, und versuchte Reaktionen des neuen Himmels gegen die alte Erde. Die Schwärmerei für die Poesie stand denen am schönsten, welche in der Prosa die ergiebigsten Privilegien hatten, den Monarchen und Aristokraten. Auch sie lüfteten ihre Brust, und schwenkten ihren Hut bei dem allgemeinen Frohlocken über die entdeckten Schönheiten und Wahrheiten. Indem nun Standesherren sich selbst unter die poetischen Wettkämpfer mischten, mußten sich da die gesellschaftlichen Unterschiede nicht verlieren? Wenn ein adeliger Offizier den Frühling besang, dann durfte Gleim wohl in den poetischen Tornister des Grenadiers ein Loblied des Königs nach dem andern packen, und Ramler an jene russische Kanonenkugel, die ihn beinahe seinem Wirkungskreise entrissen hätte, eine Hymne auf Friedrich und die tapferen Brennen anknüpfen. Die Aristokratie suchte den Umgang mit der Literatur. Die Kronprinze von Dänemark und von Preußer versprachen ihr für den einstigen Regierungsantritt glänzende Beförderungen, genug die Dichter warfen sich nicht weg, sondern es gab Mäzene genug, welche glücklich waren, ihnen auf eine anständige Weise unter die Arme zu greifen.
Jener schöne Wechselverkehr materiell und geistig Vermögender, hörte erst mit dem Ausbruch der französischen Revolution auf. Die Aristokratie erschrak über die Tändeleien, welche sie mit den dichterischen Predigern, Schulmeistern und Kandidaten so lange in einem arkadischen Rapport gehalten hatten. Diejenigen Sänger, welche von Adel waren, und ihre Winterquartiere in der Poesie genommen hatten, mußten sich jetzt zu irren Regimentern begeben. Ton, Stil, Versmaß wurden anders. Die poetische Epistel, die Parabel, die Paramythie, die geistliche Kantate, das Triolet, das Sinngedicht oder Epigramm, das Lied schlechthin, kurz, alles nahm einen ganz neuen Charakter an. Der Amtmann von Altengleichen fühlte diese Revolution bald, denn er hungerte. Voß emanzipierte die marschländischen Bauern für die Dichtkunst, und vertrieb den arkadischen Plunder, die Phyllen und die Chloen, Dämon und Amynt durch Mistgabeln, Dreschflegel und durch den niedersächsischen Dialekt, der vorm Gutsherrn nur noch halb die Mütze abnahm. Mit dem Pfluge des Virgil, welchen der Schulmeister von Eutin wieder entdeckt haben wollte, wurde der ganze poetische Boden Deutschlands aufgelockert. Freilich, der Same, der nun in die Furchen fiel, brachte keine Pensionen mehr, höchstens noch Professorate.
Seit dieser Zeit zog sich die Literatur immer mehr von den gesellschaftlichen Autoritäten zurück, ja sogar als sie romantisch wurde, von der Nation selbst. Mit keinem der Traktate, welche allmählich die Verfassung des deutschen Reiches zerschnitten, hatte die Literatur etwas gemein. Durch die Einwirkungen der Philosophie, und besonders eines, durch die Unbill der Zeiten geweckten Studiums der germanischen Vergangenheit, bekam die Poesie ein ganz neues Gepräge, und hinterließ, wenn auch keine außerordentlichen Produktionen, dennoch eine neue Kritik für Kunstleistungen, welche in der Literaturgeschichte zur Markscheidung höchst interessanter Resultate benutzt wurde. Dem goldenen Zeitalter unserer Literatur, dem Zeitalter der Produktion und des Genies, folgte eine silberne Periode, eine Periode der alexandrinischen Kritik und des Talentes; aber war dies schon an und für sich die aufgeblasene Haut eines Menschen, dem es an Knochen und Muskeln fehlte, so war noch weniger an eine Versöhnung der Dichtkunst mit den großen Tatsachen der Wirklichkeit zu denken. Ein Schimmer leuchtete davon auf, als nach dem Winter in Rußland ein fürchterliches Gewitter am Horizonte heraufzog und sich in Blitzen entlud, die diesmal glücklicherweise unsere Feinde zerschmetterten.
Wenn man unter Literatur eine im Schatten des Friedens sich entwickelnde Vermischung tiefsinnig abstrahierter Formen oder Stoffe mit den dreisten Wagnissen prädestinierter Genies versteht, wenn alle Literatur sichere und ruhige Grenzen haben muß, um ohne den Vorwurf des Egoismus ihren Selbstzweck zu erfüllen, so konnten ihr in Deutschland die unbehaglichen Zeiten von 1815 an keine Handhabung darbieten. Es ist auch in diesen Zeiten auf dem Felde der schönen Literatur wenig erzeugt worden, das, wenigstens bis in die letzten Jahre vor der Juliusrevolution, dem deutschen Namen einen merklichen Zuwachs an Ehre' gebracht hätte. Denn Hoffmann, Tieck, Müllner und Jean Paul waren bloße Reste und Luftspiegelungen vorangegangener Zeiten, wo Tieck wenigstens sein Talent retten wollte, Jean Paul die Zinsen seines tüchtigen Kapitals, Müllner das letzte Ächzen Schillers und wo die Originalität Hoffmanns darin bestand, Absude und Tafelabgänge durch pikante Saucen wieder aufzufrischen.
Und wie nun die Echos der alten klassischen verklangen, und der belletristische Ton schwindsüchtiger wurde, da regten sich auch schon zu gleicher Zeit hie und da vereinzelte Präludien einer neuen Entwicklung, einer Entwicklung, die im gegenwärtigen Moment und Ringen in unserem Ohre saust. Dieser jetzt hoch gesteigerte Kampf kündigte sich vor 15 Jahren erst mit ganz leisen poetischen Hornklängen an, welche hie und da aus dem Walde kamen, wieder verhallten und wie kleine Federspulen den sorglosen Riesen der Vergangenheit aus seinem Schnarchen weckten. Der Glanz der alten Zeit hatte mit der Kritik geendet, die Hoffnung einer neuen mußte mit der Kritik wieder anfangen. Sie griff einen Namen an, der die klassische Periode durch sein Genie, und die romantische durch seinen Ruhm beherrscht hatte, und den die Götter in die äußerste Zeit hinausstellen wollten als Grenzstein, in welcher das Alte enden, aber auch das Neue beginnen müßte.
Dies war Goethe.
Die Bedeutung Goethes in der Entwicklung der deutschen Literatur
Die Königssöhne der alten Germanen drängten sich danach, in die Hände ihrer römischen Feinde als Geiseln ausgeliefert zu werden. Die jungen Löwen schnitten ihre gelben Mähnen kurz, und folgten bereitwillig einem Sieger, von dem sie etwas lernen konnten; sie wußten, daß das Schulgeld, welches sie zahlen sollten, doch immer Fersengeld wurde, welches die Römer zahlten. Dietrich, der Ostgote, haßte die Römer gewiß, aber er verließ sein Volk, und um soviel Strategik zu lernen, daß er Italien erobern konnte, diente er gehorsam am Hofe zu Konstantinopel.
So dachten die langen Haare einer späteren Zeit nicht; sie verbrannten die alexandrinische Bibliothek, da sie, wenn nicht für, dann gegen den Koran geschrieben sein mußte. Sie ließen sich von dem schönen Enthusiasmus für Freiheit, Nationalität und Religion zu einem Despotismus hinreißen, wo Gesetze der Gegenwart eine rückgängige Wirkung auf die Handlungen der Vergangenheit haben sollten. Wie grob und grausam, einem Alten, der mit der aufgeregten Jugend nicht um die Wette laufen kann, die Krücke auf den Kopf zu schlagen! So verloren damals unter uns die großen Namen ihre individuelle Geltung und dienten, noch ehe sie das Zeitliche segneten, als Parteiparole. Die Jugend, auf der Flucht vor der aufgereizten bürgerlichen Gewalt, genötigt, sich in Schlupfwinkel zu verbergen, sprang aus der Politik in die Literatur, verwechselte die Begriffe der einen mit denen der andern, und tobte letzte Leidenschaften auf einem Tummelplatze aus, wo die Neuerung mit keiner Gefahr verknüpft war. Hinter großen Namen wählte man seinen Versteck, und eröffnete zwischen Schiller und Goethe eine fingierte Diskussion, die für die literarischen Prinzipien hätte von Wert sein können, wenn sie nicht zuletzt in eine ganz triviale Rangstreitigkeit ausgeartet wäre. –
Goethe blieb bei allen diesen Wirren unerschüttert. Die Wellen des Tages brachen sich am Fuße dieses Mannes, der vor Alter und Genüge des Lebens sich schon halb in Stein verwandelt hatte, und wie die Memnonsäule nur dann erklang, wenn der rosige Schein irgend einer historischen oder literarischen Zukunftshoffnung, wie Byron, morgensonnig zu ihm herüberstrahlte. Wenn er die verschiedenen Stufen der Pflanzenmetamorphose belauschte, die Wirbelknochen der Tiere zählte, oder die Farbenskala des Lichtes maß, so glaubte er sich mit dem Leben der Welt immer im männlichsten Zusammenhange. Warum protestierte er nicht gegen die Karlsbader Beschlüsse? oder forderte vom Bundestag die Wiederherstellung einer Pressefreiheit, wie sie Preußen unter Friedrich dem Großen so unbeschränkt und vollkommen genoß? Goethe würde eine solche Zumutung an ihn gerichtet, für Wahnsinn gehalten haben; dafür mag ihm die Gegenwart die Bürgerkrone verweigern. Durfte man Goethe den poetischen Lorbeerkranz entreißen, und ihn für einen untergeordneten Laien des Parnasses ausgeben, weil es seinem Patriotismus an der Aufregung eines jungen Mannes fehlte, und er die Hast in neuernden Versuchen mißbilligte? Diese Motive der Verketzerung zu verraten, hütete man sich auch wohl, sondern man warf sich einen ästhetischen Mantel um, auf welchem Lappen verschiedener Farben, gelbe Fetzen Nikolais, blaue Restchen Novalis' aufgenäht waren, kurz jenen religiös-sittlich-poetischen Bettlermantel, von dem Goethe in einem Briefe an Zelter spricht. Was müßten England und Frankreich, die recht gut kennen, was uns seit dreißig Jahren Ehre gemacht hat, von unserem Verstande urteilen, wenn ihnen jemand verriete, daß der Fanatismus Menzels so weit ging, eine deutsche Literaturgeschichte ohne Goethe schreiben zu wollen!
Goethe als Dichter der Häuslichkeit
So ist Goethes Auftreten in allen bürgerlichen Beziehungen resignierend, bedächtig und die sozialen Abstände ermessend. Ist es doch, als lehnte er sich gleichsam an seine eigene heroische Gestalt, die Arme auf den Rücken zurückgelegt, freilich imponierend, aber weniger durch das, was er bei anderen an freier Bewegung hinderte, als durch das, was er ihr zu gestatten schien. Seine Erscheinung vernichtete durch die Rolle, die man übernehmen, durchführen und tüchtig spielen mußte, um nicht ganz in seinen Schatten zu fallen ...
Das Haus und die Familie, die stille Sittlichkeit und Naivität der bescheidenen Existenz, ja sogar Blödigkeit, wenn ihr die Erziehung nicht einige Haltung gegeben hätte, waren an Goethe das nächste. Doch hier begannen schon seine dichterischen Übergänge in andere Sphären. Aus der Beschränkung kleiner Kreise spann sich Goethes poetischer Faden hervor, aus dem Rocken an der schnurrenden Spindel, aus dem Leib der behäbig sich schmiegenden Katze, kurz aus echtdeutschen Elementen, wie sie im Götz, im Faust, im Egmont zu so meisterhaften und unsere Herzen magnetisierenden Geweben sich zusammenfügen.
Die Poesie bildete sich hier sogleich mit einer Maxime. Der Übergang von den Erinnerungen an den mütterlichen Ursprung und dem Hause, und der von Goethe ziemlich kalt aufgeworfenen Frage: Was ist das Vaterland ergab sich bald. Goethe leugnete das Schöne und Herrliche in den Bardentendenzen Klopstocks und Sineds gewiß nicht; im Gegenteil tadelte er seine Zeitgenossen, daß sie lieber auf französische Füttern blickten, als auf jene goldenen Harfen, welche die ermüdeten großen Sänger in Deutschland aufgehängt hätten, aber er las ein Buch von Sonnenfels über die Liebe zum Vaterlande und fand es sehr lächerlich. Er gestand offen, eine Erziehung zum krassen Patriotismus der Römer läge nur im Interesse gefahrvoller Zeiten und könnte, zum absoluten Gesetze erhoben, den Ruin aller Zivilisation herbeiführen. Das Schlechteste, worauf sich in der Tat eine Nation gegen die andere berufen kann, ist der bloße Patriotismus. Ein unbeholfener und deutscher Bär entschuldigt seine Verstöße gegen den Anstand sehr schlecht, wenn er brüsk sich umwendet und an seine Lenden schlägt, die von Thuiskon stammen. Sagte nicht Themistokles schon, das Liebenswerte sei niemals die Schule des Landes, sondern treffliche Institution? Goethe fürchtete, daß durch Schriften, wie die von Sonnenfels, die Leerheit der Köpfe mit einem Lärm angefüllt würde, den tüchtigere Dinge, und besonders die Erkenntnis der eigenen Oberflächlichkeit, hätten ersetzen sollen. Er philosophiert mit Recht, daß man in Zeiten der Ruhe die Erziehung, statt an Nationalhaß und den patriotischen Spektakeln, an die Familie und die Bildung im Schloß der Guten und Edlen anknüpfen müsse.
Die Familie, das Häusliche, ja sogar das Philisterhaftdeutsche ist der Leib, aus welchem die höhere Psyche der Goethischen Lebensanschauung emporsteigt. Es ist ein Winken nach einem fernen Heimatlande, ein süßes Locken aus den Grotten der Natur und dem Empyreum des Geistes, es ist der rauschend vorüberklingende Moment, als die Götter über die Geburt eines Genies zu Rate gingen. Und der Auserwählteste der Sterblichen schwebt dem geheimnisvollen Winken nach, mit den rauschend entfalteten Schwingen der Poesie, die Pforten des Himmels öffnen sich und werfen die glänzenden Lichtströme der Sonne in ein Auge, das nicht erblindet, da es Verwandtes sieht. Jetzt ist Goethe der freie Göttersohn des Himmels und schreitet stolz und keck durch eine Welt, die ihm Spielzeug ist. Titanenideen ergreifen sein Hirn, während er durch die Wälder und Berge streift, die Sprache wirft den Reim von sich, seine Einfälle sind erhaben, wahnsinnig, humoristisch, bis sich an dem Versuche eines Prometheus zu dichten, endlich die wogende und schäumende Welle bricht, und in dem Moment, wo der fiebernde Trotz eines Genies, Krankheit wird, die rotwangige besonnene und vom Vater geerbte Gesundheit der transzendentalen Krisis zu Hilfe kommt; dann genas er allmählich in einer Mäßigung, innerlich gesund, doch noch im Auge die Spur des Unheimlichen tragend, bis er zuletzt mit frischgesammelter und die Erinnerung des ganzen Himmels in sich tragender Kraft den Faust schuf. Prometheus, in der Anlage, die uns fragmentarisch erhalten ist, konnte ein Titanendrama werden, das auf Deutschland vielleicht gräßlicher gewirkt hätte, als Werthers Leiden; aber wir hätten mit ihm auch den Dichter verloren. Denn die Idee dieses Prometheus ließ sich nur mit einer Einseitigkeit durchführen, die derjenige haben muß, welcher seine Rechnung mit dem Leben und seiner Wirtin abschließt, das letzte Geld und die Uhr auf den Tisch legt, und unangenehm zu enden weiß. Goethe hat sich zeit seines Lebens von der Prometheusfabel nicht erholen können. Sie spukte in allerlei Formen wieder in ihm durch, aber die Zurückhaltung der Leidenschaft erkältete mietet die Auffassung.
Geh vom Häuslichen aus und verbreite dich, so du kannst, über alle Welt! Hiemit bezeichnete Goethe selbst den Weg, den seine Poesie zu ihren Zielen nahm. Es ist die eigentliche Zauberformel, welche ein ganzes dichterisches Geheimnis erschließt.
Sie war das Symbol des Goethischen Lebens in auf- wie in absteigender Linie. Aus beschränkter Sphäre hinaus sich drängend wurde seine Sehnsucht schnell ein poetisches Bild, daß seinen Schritten voranschwebte, und ihn lockte, und Berge und Täler vergessen ließ, die er durchwanderte, und die in immer schöneren Farben und deutlicheren Umrissen sich malende Anschauung einzufangen. Jeder Anfang in Goethe war harmlos und vom nächsten ausgehend. Ja, er versprach in erster Jugend so wenig, daß er selbst von Herder in Straßburg, der schon Standpunkte, Übersichten und Allgemeinheiten gewonnen hatte, für linkisch in der Auffassung und Schönheitsurteilung angesehen wurde Goethes poetische Entwicklung war ein träumerisches Ausspinnen seiner häuslichen Zustände und primitiven Eindrücke, und so hinaus über die Vorurteile, Gesetze, Sitten hinweg, bis in die Alpenregionen des freien Gedankens und der dichterischen Wahrheit. Ein rüstiger Wanderer, zieht er von seiner Heimat aus, und fernt Schönheit, zurückblickend in ein sonniges vom gelben Strom durchschlängeltes Tal, fern der blaue Rand der Gebirge, die unvollendete Kuppel des Domes, und doch ergänzt und vollkommen, gleichsam durch ihre Herrschaft über das was unter ihr liegt, ein rauschendes Treiben, das der Dichterjüngling verlassen kann, ohn; aufzuhören es zu lieben. Dies war für Goethe entscheidend, dein jeder andere Genius, pflegt die Metamorphosen seines Dichten! und Lebens in sich wechselseitig zu zerstören, und nicht selten auf das was er heute war, morgen, wie schon auf das Unwürdigste zurückzublicken. Goethe gab seine primitive Anschauung niemals auf, sein häusliches Vermächtnis, das Stilleben der bescheidenen Existenz, auf welches er sich immer wieder zurückziehen konnte, wie ein industrieller Spekulant nach großen Gewinnen oder Verlusten auf seine liegenden und für ein würdiges Dasein immer zureichenden Gründe.
Will man Goethes Steigen aus der Häuslichkeit zur Verbreitung über alle Welt mit einem Bilde vergleichen, das ihm ganz besonders gegenwärtig war; so nehme man seine Wanderung nach Erwins Grabe, eine Besteigung des Straßburger Münsters, wo er auf jeder einzelnen Station innehielt, und ein Gebet des vom Schöpfergeist durchdrungenen Dichters an den großen Meister des Baues richtete. Auf der letzten Platte blickte er in die sonnige Ebene des gesegneten Landes, weit hinaus in die blauen Ahnungen der Schweiz, und heimatlich gen Speyer und Worms; das Herz frohlockte der unermeßlichen Augenweide, und schmiegte sich dankend an das, was ihn auf diesen so wunderbar erhöhten Gipfel trug, an die Kunst, und wie ein Seher seiner eigenen Zukunft schrieb er den bedeutungsvollen Spruch, daß alle Poesie innere, individuelle Keimkraft ist, und ein dem Genius sich von selber gebendes Anschwellen der Gefühle für Maß und Verhältnis.
Die absteigende Bewegung fehlte bei Goethe nicht, und in neuerer Zeit ist sie sogar mehr besprochen worden wie die aufsteigende. Hatte Goethe einmal in dem Allgemeinen vergeblich getastet, dann zog er zur rechten Stunde behutsam seine Fühlfäden zurück. Er verspätete sich niemals beim Ideale, oder genoß die Umarmung der Phantasie länger, als der Mond am Himmel stand. Hatte er gegen die Prosa einen poetischen Feldzug geführt, so zog er es doch vor, was die Winterquartiere betraf, sie lieber in der Prosa selbst zu nehmen. Wer ihm hieraus einen Vorwurf macht, was betrachtet der? Nur das Ziel, nicht den Gang selbst.
Über Goethes Sprache
Seine Sprache war früh reif, vollständig, keck. Sprichwörter ersetzten das noch mangelnde eigene Urteil. Noch seine ersten Produktionen sind ganz in diesem Lakonismus geschrieben, den Goethe zum Beispiel im Götz nicht vom Mittelalter oder vom Volke zu entlehnen brauchte, sondern der seine eigene Natur war. Die Wendungen körnig, die Verbindungen abgerissen. Partikeln in Fülle, wenn sie den Ton nuancieren, und gleichsam der Akzent des Stiles sind, und fehlend, wo man sie als Ruhepunkte des logischen Prozesses, und der künstlich ausgesponnenen Dialektik zu brauchen pflegt. Die Weitläufigkeit der persönlichen Fürwörter wird vermieden, als verstände es sich von selbst, ob ich, oder du, oder er gemeint ist. Auch ging dies kurze, die Sprache ihre Privilegien prellende Verfahren auf Goethes erste Versifikationen über. Man glaubt, Goethe habe bei seinem Puppenspiel und den satirischen Kleinigkeiten an Hans Sachs und dessen Weise gedacht. Gewiß nicht, er lernte ihn erst später kennen; es war dies etwas Angeborenes, das selbst in der Kunstprosa des Veteranen als Reminiszenz öfters zurückkehrte, und durch die damals so kalte n und bedächtigen Abstraktionen als ein gar ergötzlicher Transparent zuweilen hindurchschimmerte.
Wenn Goethe im späteren Verlauf seines Dichterstrebens, diesen naiven Volkston verließ, so adoptierte er doch keineswegs eine ihm dargebotene fremde Ausdrucksweise. Zum Glück wie zum Nachteil der deutschen Literatur war die Sprache, ihr Organ, niemals auf dem bestimmten Kammerton einer akademischen Skala gestimmt. Frankreich hat eine Dichtersprache, die man einmal adoptieren muß, will man den Kothurn betreten, oder auch nur auf dem Haberrohre der Idylle blasen. Dies beeinträchtigt die Originalität, hält aber auch, wie Goethe selbst in seinen Entwürfen über den Dilettantismus bemerkt, die Unzulänglichkeit und die Liebhaberei zurück. Deutschland hat bei seiner bildsamen und von keiner Crusca bevormundeten Sprache doch das l Unglück, daß mit ihr alle Welt in die Literatur hineinpfuschen kann. Wäre Unsere Literatur im vorigen Jahrhundert nicht durch ihre klassischen Kräfte im Aufschwünge gewesen, es würde den zahllos auftauchenden Naturdichtern und Dilettanten gelungen sein, sie mit einem Schlage in die Anarchie zu stürzen, in welche sie jetzt durch eine allgemeine Pfuscherei allmählich gekommen ist.
Klassische Muster boten sich Goethe an. Er verschmähte sie alle, bis auf ein Beispiel, dem er nicht widerstehen konnte. Wer seinen ersten prosaischen Versuch, zum Anderen Erwins von Steinbach, gelesen hat, scheidet den Anteil, welchen Hamann an dem Stile desselben hat, sehr leicht heraus. Der Ton ist prophetisch, die Wendung apostrophisch. Dogma und Polemik wechseln ab. Die Bilder sind gelehrt, die Leidenschaften gegen die Franzosen und Pfaffen überraschend grell, das Ganze endet wieder mit Prometheus, dem Goethischen Steckenpegasus. Doch schon ist Klang in diesem Weihegebet, ein Gefühl für jene Rundung, die die Sprache des Egmont und Clavigo, für die Rezitation noch willkommener macht, als die Schillersche. Allmählich wurde Goethe Meister dieses üppigen fleischigen Ausdrucks seiner zweiten Periode, der elastisch weicht und zurückkommt, wogend und wallend wie das Meer und, mit etwas rhetorischem Numerus rauschend, doch nie anders als in sanft schmelzender Zerkräuselung sich am Ufer bricht. Der Wellenschlag des mittelländischen Meeres lockt das Gefühl des Taktes und der rhythmischen Abmessung, und die Herrlichkeit dieser Prosa flutet nun hinüber in Tassos und Iphigeniens melodischen Jambus. Seine Poesie wird Atmen der Natur. Die Natur spricht, spricht in Tönen, Musik ist die Seele seiner Schöpfungen; mag er nun in Venedig, am Ufer des Lido, bunte Epigrammenmuscheln fischen, oder auf dem Nacken einer Römerin die fleischigsten Hexameter trommeln.
Goethe hatte Not, sich von Formen loszureißen, die ihm leicht wurden, und Vergnügen machten. Er opferte ihnen wohl einen zufälligen Inhalt, fühlte aber bald, wie wenig echt dies war, dauerte nicht aus, und blieb im Fragmente stecken. Was trieb ihn nicht alles zum Hexameter? Was opferte er ihm nicht! Wolfs Zweifel an der Einheit der Ilias, Voßens Geheimnis über den rechten Bau des Hexameters, das erst mit dem Tode Klopstocks veröffentlicht werden sollte, hielten Goethes epische Interessen in fortwährender Spannung. Er gesteht selbst, daß ihn das metrische Bedürfnis zu Reineke Fuchs getrieben. Gott sei Dank, Achilleis blieb schon Fragment. Aber die epische Breite hatte ihn erfaßt, und zwang seinen Genius zu einer neuen Metamorphose, zur Kultur einer Prosa, deren glänzende Entfaltung die schon erschienenen Bände Wilhelm Meisters ahnen ließen.
Goethes prosaische Diktion verdient eine Betrachtung, die sich vom Dichter ganz unabhängig anstellen läßt; denn hier ist in der Tat ein Maßstab entdeckt, durch welchen die schwankenden Bestimmungen über den deutschen Ausdruck geregelt werden sollten. Von der gelehrten Bilderfülle Jean Pauls und dem Naturalismus der Modernen wird man immer auf jenen bezaubernden Ton zurückkehren müssen, welcher, reich an Gesetzen, in Goethes Prosa herrscht. Diesen geglätteten Marmor nachzuahmen, möcht ich weniger anraten; als ihn zu studieren.
Goethes Prosa ist kein Ausdruck der Unmittelbarkeit, man sieht in ihr die Sprachwerkzeuge nirgend selbst, oder die Gehirnfieber transparent hindurchschimmern, welche den Gedanken oben auf ihrer Spitze trägt. Nirgends verrät sich die logische Maschinerie oder ein dialektischer Kampf der Idee mit dem Stoffe; sondern Goethes Prosa ist eine Perspektive des Theaters, ein überdachtes erlerntes, vom schaffenden Gedankensouffleur leise zugerauntes Stück. Goethe reproduziert sprechend, was er im selben Momente denkend schuf. Die Dinge sprechen bei ihm nicht selbst, sondern sie müssen sich an den Dichter wenden, um zu Worte zu kommen. Darum ist diese Sprache, deutlich und doch bescheiden, klar ohne dadurch aufzufallen, im Extrem aber diplomatisch.
Dem Jean Paulismus oder der modernen Naivität lauscht man neugierig zu, und dennoch strengt die Lektüre an, und nimmt alle unsere Geistestätigkeiten in Anspruch. An Goethes Prosa arbeiten wir mit, unterstützen die Produktion des Gedankens, und schließen, da Goethes Bericht immer nur das Spiegelbild und Reflexion ist, von dem Bilde auf sein Gegenüber. Vergleicht Prosa mit der ozeanischen, majestätisch flutenden Ruhe des Weltmeeres, so ist doch nur der äußere Anblick so stille, gezähmte Leidenschaft. Goethes Anregungen sind belebend und reproduktiv, und so hat diese trügerische Ruhe eine überwältigende Unterlage, eine Wirklichkeit, gerade so wild und schroff in uns wieder auftauchend, wie der Dichter sie in sanften schlummernden Träumen erzählt. Das Äußerliche dieses Geheimnisses wird unzählig nachgeahmt, man scheint dabei vergessen zu haben, daß Goethes Prosa nur für die Erzählung als Organ der epischen Dichtung klassisch ist, und dabei sind noch am glücklichsten die Herren Carus in Dresden und Varnhagen von Ense in Berlin.
Man muß aber nicht übersehen, daß Goethe selbst dies Mißverständnis veranlaßte. Indem er diese Sprache mit ihrer höchstzerbrechlichen Kostbarkeit selten mit Auswahl und Sparsamkeit nutzte, so verwischte er ein wenig ihren klassischen Stempel. Die Reproduktion verwandelte sich in Abstraktion, Alle konkreten Anschauungen verflüchtigten in formlose Verallgemeinerungen, das Handgreiflichste verhüllte sich in mystifizierende Nebelflöre, und das, was sich krystallinisch gebildet hatte, zerschmolz in sehr vage Flüssigkeiten. Ja, diese verschwimmende abstrakte Ausdrucksweise Goethes teilte sich sogar der Poesie seines Verses mit. Wenn auch der Reim und das metrische Gesetz hier die Verallgemeinerung beschränkte, wenn sich gerade im Gedicht diese ausweichende Diplomatie in eine besondere Geheimnissung und Wichtigkeit verwandeln konnte, so schützt uns doch nichts davor, daß wir zuweilen das Unnützeste in die vielversprechendsten Kleider gehüllt sahen. Wer erinnert sich hier nicht der Artikelauslassungen, der Infinitiv- und Partizipalkonstruktionen, des Superlativs für den hinreichenden einfachen Grad, kurz eines Tones, der hier erweiternd, dort beschränkend, sanft zum einen anderes lenkend, alles in dem Schönen, Reinen schönstens suchte zu vereinen? Oft aber drang durch diese häßlichen Töne noch eine jugendliche Naivität, und ohne aufhören wurden sie entschuldigt, durch des Alters redselige Lust der Mitteilung, die uns auch hier so manches hinterließ, was wir zur Charakteristik unseres Dichters schmerzlich vermissen würden.
Über Goethe und Schiller
Wenn man die Gesetze der Goethischen Dichtkunst auf eine Formel zurückführen will, so beschränken sie sich auf die Relativitäten der beiden Begriffe des Allgemeinen und Besonderen. Das Besondere sollte immer dem Genie, und das Allgemeine der Kunst angehören, aber die Erfahrung zeigt uns, daß man das Allgemeine gern für die Sache des Interesses und das Besondere für die Sache des Geschmacks hält. Es gibt viele Dichter, welche die Nation beglückt haben, wenn sie zur abstrakten Allgemeinheit einer löblichen Idee die positive und konkrete Unterlage eines Faktums suchten. Aber die Größten sind es nicht. Das Genie beginnt mit dem Faktum, und besitzt so viel Kunst und Natur, daß es dasselbe auf die günstigste Weise auch immer unter die Strahlenbrechung der Allgemeinheit bringen kann. Wäre unser Zeitalter nicht in der Notwendigkeit, sehr viel auf den guten Willen, die Ehrlichkeit und die Tendenz geben zu müssen, und wäre die Bildung dieses Zeitalters weniger rhetorisch, so würde es für die Besonderheit denselben Instinkt haben, den es nur für die Allgemeinheit zu haben scheint; es würde allerdings die Dichtungen Schillers heißer lieben dürfen, als die Goethes, weil Schiller kühn, und Goethe nur weise war; aber doch niemals das Genie des letzteren gegen das Genie des ersteren in Abrede gestellt haben; da in der Literatur wenigstens das Besondere höher steht als das Allgemeine.
Goethe, wie er sich denn selbst das Klarste war, empfand bei einer zwischen ihm und Schiller eingetretenen zarten Differenz den Unterschied vollkommen, wenn er sagt: »Es macht viel aus, ob der Dichter zum Allgemeines das Besondere sucht, oder im Besonderen das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken, oder darauf hinzuweisen. Wer nur dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst zu spät.« Wir setzen hinzu: die Initiative der Schillerschen Dichtung war das Interesse. Er suchte dann für seine Begriffe die persönlichen Spiegelbilder, und Dank seiner Bestimmung! daß er oft die trefflichsten fand. Von einem edeln, feurigen, aber inhaltlosen Instinkte ging er aus, seine glühende Einbildungskraft kam dem suchenden Verlangen zu Hilfe, und gaukelte ihm lange Züge von Gestalten vor, aus denen er wählte, was stark genug war seine Stärke zu tragen. Je reifer die Anschauung, desto glücklicher die Wahl. So sind Karl Moor und Kabale und Liebe noch Schöpfingen, die, trotz ihrer dämonischmarkierten Bestimmtheit, doch unsere Vorstellungen nur an Allgemeines überliefern. Immer mit dem Schluß dieser Dramen stürzt ihre Erfindung zusammen, und der uns packende Rest ist ein unbestimmtes, leeres, schauerliches Mißbehagen an der Gesellschaft, das, weil die Weltkopie in ihnen das Original doch wahrlich nicht treu wiedergibt, auch nicht einmal Entschlüsse in uns bewirken kann. Wie schnitt Schiller am Stoffe des Fiesko herum! Wie schwer wird es ihm, vom Mittelpunkt der Tatsache aus, die Tatsache zu sichten und zu ordnen! Prosa ist vortrefflich, aber für das Hauptinteresse des Carlos nur eine Zutat aus der Allgemeinheit. Ebenso müssen in der Stuart und Jungfrau immer Repräsentationen von allgemeinen Begriffen auftreten, Liebhabereien und Empfindungen, welche das Ereignis verrücken, und die Tatsache nur zum Vehikel beliebiger Vorstellungen zu machen scheinen. Erst Wallenstein und Teil genügen; jener, weil er in der Tat individuell gehalten ist; dieser, weil in ihm das Allgemeine zufällig mit dem Besonderen selbst zusammenfällt.
Über Goethes Dichtungen schwebt niemals der große Schillersche Horizont, sondern sie halten das Interesse streng an der Sache, und offenbaren sich mikrokosmisch. Goethe gibt, was das Allgemeine betrifft, immer nur Perspektiven uni Fernsichten in sie, unermeßliche zwar, aber in einem und demselben Kunstwerke oft nach den entgegesetzten Richtungen hin. An der einzelnen Blüte der poetischen Besonderheit zeigen sich hier alle Gesetze der Pflanzenmetamorphose; an diesen dünnen Staubfäden wird man dennoch in das innerste Heiligtum des Naturgeheimnisses gezogen; an diesen bunten schimmernden Farben sprechen sich die himmelanziehenden Gesetze der großen Sonne ans. Ob uns Tasso eine Gefühlswelt, Carlos ein System der Lebensphilosophie, und die Hölle im Faust den ganzen Himmel erschließt; es geht von kleinen zufälligen Punkten aus. Am Schleppkleide der Gelegenheit, wie sie eine Zeitung, ein fliegend Blatt, ein altes Buch angibt, zieht der Dichter den Triumph der ganzen Erde nach sich. Wenn Schiller einen größeren Umfang zu haben scheint als Goethe, so ist dies, wie Sterne von großen Nebelringen umgeben sind. Goethe hat diesen Nebelring nicht; dafür ist aber sein Kern strahlender, und wirkt besser in der Finsternis.
Goethe hatte einen solchen Abscheu vor dem Allgemeinen, daß ihn auch jede Definition des Schönen in Verwirrung brachte. Fragt man, worin liegt der Zauber der Dinge, wenn sie gefallen; läßt er sich den Dingen geben, oder müssen sie darnach gewählt sein? so trieb Goethe seine Furcht, daß man das Leben in eine Formel einfangen könne, so weit, daß er sogar erklärte, der Ausdruck, Idee des Schönen, habe schon an sich etwas Unstatthaftes. Goethe hütete sich, die Schönheit in etwas Einzelnem zu finden, da sie im Gegenteile immer etwas Zusammengesetztes sein müsse.
Goethe und die Weltliteratur
Goethe hat sich im Anfang dieses Jahrhunderts von allen Liebhabereien desselben entfernt gehalten, sowohl von dem Nifl- und Muspelheimer-Himmel der Nordlandsreckenromantik, wie von der blauen Blume Hardenbergs, der Indomanie der Schlegel, welche sich beide im Ganges von ihren literarischen Sünden reinigen wollten. Allen diesen Bestrebungen lag in der Tat eine gewisse Verwandtschaft mit Ideen der Zeit, ja sogar eine Sympathie mit dem Schicksale der Nation zu Grunde; aber es war von einem vollendeten Charakter nicht zu erwarten, daß er aus Patriotismus seinen Geschmack verderben sollte.
Alle neuere Poesie in Deutschland hat nun einen Ton angenommen, der von fremden Dingen auf sie übertragen ist. Sie lehnt sich an allgemeine Tatsachen und Begriffe, welche, da sie nicht selten erhebender Natur sind, den durch sie angeregten poetischen Empfinden eine heilige Weihe und Wirkung geben. Durch eine sinnige Behandlung ihrer Interessen sind die Menschen bald gewonnen. Jene poetischen Trompeter, die den Zügen der Tendenzen voranreiten, gekleidet /in die Livree der Kämpfenden, sind die Augenweide der Masse, die sie mit Ruhm bezahlt. Sie nützen, sie erfreuen, sie schmeicheln, und kosten wenig. Sie kosten keine alten Traditionen, sie kosten keine uns liebe Philosophie oder Religion; sie beeinträchtigen niemanden in seinen alten Besitztümern. Das Genie kostet die Menschheit etwas. Da muß immer eine Nation oder ein Stück Religion, Philosophie oder Wissenschaft zugrunde gehen. Diesen Schaden wird das Genie freilich später aus seinen eigenen Mitteln wieder herstellen.
Zu dieser Wohlfeilheit gesellte sich seit Herder der große Nachdruck, welchen man auf die Unterscheidung der Nationalliteraturen legte. Studium und Interessen vereinigten sich die Literaturen unter allgemeine Kennzeichen und klimatische Reverberen zu bringen. Der Begriff des Nationalen legte sich wie ein Reifen um die Anschauungen des Poeten, und drückte alle seine Bilder und Gedanken auf einen kleinen Mittelpunkt zusammen, der ungefähr dem Durchschnittswert der Allgemeinheit gleichkam. Die Nation will sich in der Literatur bespiegeln: sie will, daß die Literatur ihre jeweiligen politischen, religiösen und moralischen Zustände ausspreche. Sie wollen sich in den Weisen des Dichters wiederfinden mit ihren kleinen und großen Leidenschaften, mit Frau und Kind, wie sie in ihrem Besuchszimmer im Konterfei hängen. Dem, was alle fühlen und denken, soll der Dichter nur die schöneren Worte geben. Man sagte damals: die Zeit ist wie eine Riesenharfe ausgespannt, aus welcher jeder einzelne Dichter sich einen Ton auffangen müsse für sein eigenes kleines Instrument der Subjektivität.
Wohin diese damals mit entsetzlicher Leidenschaft gelehrte Ästhetik geführt hat, zeigt der gegenwärtige Augenblick. Die poetischen Kräfte der Nation sind erschöpft, keine einzige derjenigen Leistungen, welche sich unter uns noch einiger Teilnahme zu erfreuen haben, lassen sich mit den Voraussetzungen jener Ästhetik in Einklang bringen. Sie widersprechen in ihren Prinzipien all den Merkmalen, welche die sogenannten Nationalliteratur tragen soll. Es ist durch den Erfolg entschieden, wie wenig befruchtend und anregend jene patriotischen Lehren wirken konnten. Wir sehen es. Überall Produktionsohnmacht. Und wo ein Produkt ist, da wird nur die Tendenz gesehen!
Die Weltliteratur will die Nationalität nicht verdrängen. Sie verlangt schwerlich, daß man seinen heimischen Bergen und Tälern entsagend, sich an kosmopolitische Bilder und Landschaften gewöhne. Die Weltliteratur ist sogar die Garantie der Nationalität. Sie wird immer, wenn das Evangelium der letzteren mit zu vielen Golgathagefahren gepredigt wird, oder sonstige Beanstandnahmen desselben eintreten, den mißlichen Anknüpfungspunkten zu Hilfe kommen, und vor einem europäischen Forum dasjenige möglich machen, was in der Heimat unzuverlässig ist. Die Nationalität wird durch den weltliterarischen Zustand nicht aufgehoben, sondern gerechtfertigt. Der heimischen Literatur wird das Urteil und die Geburt durch ihn erleichtert, wie namentlich in Deutschland die Voraussetzungen einer nationalen Literatur so sehr erschwert sind, daß man bei uns über ein Talent den Stab bricht, während demselben das Ausland akklamiert. Was wir auch gegen Heine einzuwenden haben, so ist es doch unerträglich, daß bei uns ein Name ungestraft darf gelästert werden, der durch seine außerordentlichen Fähigkeiten sich bereits eine europäische Bekanntschaft erworben hat.
Wenn man weiß, wie wesentlich für Deutschland diese zänkische und hypochondrische Kritik ist, welche nichts in der Welt ohne Anfechtung lassen kann, die über alles sich erhitzend, an jede Statue des Phidias noch ein Fragezeichen anhängen würde, so kann man sich die erboste Hartnäckigkeit erklären, mit welcher man sich bei uns gegen das Prinzip einer Weltliteratur sträubt. Man muß wohl ein so durchgreifendes und einfaches Regulativ der ästhetischen Beurteilung hassen, weil es das Gewerbe beeinträchtigt, weil es alle die Bosheiten, Unversöhnlichkeiten und Angebereien ausschließt, mit welchen in Deutschland produktive Talente begrüßt, verfolgt und oft getötet werden.
Die Grundsätze der Weltliteratur geben sich sogleich zu erkennen, wenn man nur die äußere Physiognomie derselben näher bezeichnet. Zur Weltliteratur gehört alles, das würdig ist, in die fremden Sprachen übersetzt zu werden, somit alle Entdeckungen, welche die Wissenschaft bereichern, alle Phänomene, welche ein neues Gesetz in der Kunst zu erfinden und die Regeln der alten Ästhetik zu zerstören scheinen. Die geringe Ausbeute derartiger Produktionen würde namentlich Deutschland von jener Überflutung des Literaturmarktes befreien, welche den Umsatz, die Teilnahme, den Überblick und die Kritik erschwert. Mit dem inneren Werte käme die äußere Würde der Literatur. Die Literatur erhöbe sich von der niederen Stufe, auf welche sie als ein Bedürfnis herabgesunken ist. Sie würde sich als eine organische Offenbarung des Menschengeistes betätigen, und mit einem Schlage durch ihre eigene naive Unübertrefflichkeit alle jene Fragen beenden, welche sich auf dem jetzigen Gebiete der Geisteswelt zu keinem andern Zwecke durchkreuzen, als um die Mittelmäßigkeit zu ordnen, zu plazieren, zu erläutern und mit falschen Lorbeeren zu bekränzen.
Ich gebe zu, daß in der Weltliteratur dieselben Verwechslungen vorkommen können, wie in der Nationalliteratur. Kotzebue ist vor dem europäischen Tribunal anerkannt. Raupach sogar dürfte eher übersetzt werden, als der Faust von Nikolaus Lenau, oder ein Roman von Julius Mosen. Ich kann nicht sagen, daß ich etwas wüßte, was hier dem Genie den Rang immer vor dem bloßen Talente sicherte, es sei denn, daß sich das Genie die Tugenden des Talentes anzueignen suchte. Dies wäre Aufforderung genug an unsere heimische Literatur, sich aus ihren flüssigen, wenn auch noch so edlen Bildungsstoffen herauszugestalten, frei die Welt zu überblicken, alle nebelhaften Anschauungen von jenen urschönen Bildern hinwegzuziehen; die nicht fehlen werden, wo Prädestination ist. Diese zusammengeronnene Schönheit, welche sich in der deutschen Poesie findet, gleicht dem Korinthischen Erze, das von tausend flüssigen Götter- und Heldenstatuen siedet ur d wallet. Da ist keine Prägnanz, keine Deutlichkeit, keine Wahrheit der Umrisse. Licht und Schatten gehen ohne Perspektive ineinander, und machen, daß die ordinärsten Gestalten Sieger sind, weil sie sind. Dies schöne lebendige Sein mit Händen und Füßen, dies Sein mit einschmeichelnden überredenden Worten, dies Sein in Stiefeln und Sporen, klirrend auf den Marmorstiegen der poetischen Phantasiepaläste; wo fände sich dies oft bei den tiefsinnigsten Dialektikern des Gemüts und der Einbildungskraft, bei Fähigkeiten, die zum Siege alles zu besitzen scheinen?
Das ist es. Der Dilettantismus zerstört die Wirkung des Genies. Jene der Zeit parallellaufende sogenannte Nationalpoesie brachte die Poesie nicht außer Atem, da das Leben immer dasjenige ist, was uns am leichtesten wird. Die Poesie als eine Sonntagsfeier, als ein an hohen Festtagen angetanes Kleid, hat nicht jenen olympischen Schweiß auf der Stirn, den man mit Lorbeeren zu trocknen unwillkürlich versucht wird. Uhlands Muse ist nie echauffiert. In seinen Gedichten ist täglich Sonntag. Die Glocken läuten, und die Menschen gehen geputzt in die große Kirche der Natur, wo zum festlichen Tanze unter der Linde der Boden hübsch rein und sauber gekehrt ist, wo alle Dinge im Chore singen, und die Meinungen im Unisono einfallen. Gewiß schön; auch weltliterarisch als deutsches Genrebild, als eine Sammlung von Nationaltrachten, die sich der Engländer kauft, wenn er über Rotterdam in seine Heimat zurückreist. Allein in jedem andern Bereiche, das nicht die Lyrik ist, wird diese Sonntagsstimmung in phlegmatisches Wohlbehagen, ein romantisch genießendes, nicht plastisch schaffendes. Wer ein fremdes Leben wirken will, muß zuvor das seinige aufs Spiel setzen.
Die Deutschen bilden sich ein, daß ihnen eine Menge Dinge gestattet seien, die sich die Franzosen und Engländer nicht erlauben dürfen. Die eigentümliche Komplexion unserer physischen und moralischen Natur soll andere Gesetze zu verlangen scheinen, als sie das Ausland befolgt. Man rundet Bemerkungen zuletzt gern mit einer schmeichelhaften Phrase ab, wovor der Genius unseres Vaterlandes erröten müßte, wenn er nicht schon an das seit Jahrhunderten stinkende Eigenlob der Deutschen gewöhnt wäre. Ich mag auch gegen die noblen Eigenschaften meiner Landsleute nichts einwenden. Ich ließe diese patriotische Koketterie gern gewähren, wenn sie nicht in der Literatur etwas gelten und das Schlechte nur durch die Eitelkeit, die man darauf hat, rechtfertigen wollte; und ich glaube wohl, daß ein Franzose daran keinen Geschmack hat, woran sich deutsche Herzen erfreuen. Aber es gibt auch viele deutsche Tugenden, die uns selbst schon zur Last werden. Die sogenannten echtdeutschen Produkte unserer Literatur sind die mittelmäßigsten.
Goethes Nachwirkungen
Überhaupt ist auch für Deutschland Goethes Nachwirkung nicht materiell, sondern formell. Was er uns hinterließ, ist die Tradition des abstrakten Genies, die Form, die Grenze und die Methode. Er hinterließ uns etwas, woran man lernen soll, sein großes Vorbild, eine Meisterschaft, die sich gewiß auch für die Beurteilung fremder Produktionen auf einige ausgesprochene Maßstäbe zurückführen läßt. Durch Goethes Studium soll sich jede ausschweifende luxurierende Phantasie im Zügel ergriffen fühlen, und auf jene Bahn einlenken, wo selbst das Willkürlichste nicht ohne innere Formation ist, jenen Blumen gleich, welche der Frost auf Fensterscheiben zeichnet. Es ist wahr, Goethe war ein Kondottiere des Genies. Will ihn die Vergangenheit dafür strafen, immerhin! Die Zukunft muß ihm danken; denn von seiner Allgemeinheit lernt sie, von seiner Unbefangenheit wird sie befruchtet. Niemand kann ein Vorbild sein, der nicht etwas in sich trägt, das sich auf alle Fälle anwenden läßt.
Nicht beim lebenden, sondern bei seinem Grabe bei den welken Herbstblättern, die im Park von Weimar liegen, bei seinen Münzen und optischen Täuschungsvorrichtungen, bei dem verrostenden Ehrenbecher, den ihm Frankfurt vor Jahren schickte, bei den aus Tiefurths Wiesen dampfenden Herbstnebeln und dem Ufer der gutmütigen Um, an welches einst Goethe seine unglücklichen Gelegenheitsdichtungen anknüpfte. Aus Busch und Baum, von jeder Höhe, aus jeder architektonischen Verzierung der öffentlichen Gärten um Weimar brannte mir Goethes Geist entgegen. Wo ist hier etwas, das er als Künstler nicht mitschaffen half, oder als Geschäftsmann nicht wenigstens begutachtet hätte? Schon bei der ersten Einfahrt in Thüringens Berge mit rotem Fuß und grünem Tannenwipfel, in Eisenach und überall, wo man weimarische Husaren trifft, könnt' ich mich nicht enthalten, in allem Goethes grabende, messende, nivellierende Hand, seine Gärtnerhand zu entdecken, oder wenigstens die Eindrücke zu vergleichen, die Frankfurts stolzvornehme Lage am Maine einst auf den Patriziersohn machen mußte, als er den üppigen italienischen Horizont seiner Vaterstadt mit den Höhen und Tälern Thüringens vertauschte und gen Weimar hin Gesichtspunkte bekam, die immer enger und begrenzter wurden, einen so kleinen, beängstigenden Horizont. O wie lange schwimmt über die Umarmung des Rheines mit dem Maine hin die Sonne, ehe sie dem Andächtigen auf der Brücke in Frankfurt untergeht; und wie schnell ist sie in Weimar verschwunden! Sie duckt sich hinter eine Fichte, und ist fort. Und in diesen Schranken war Goethe so wohl. Hier hatte er überall eine kleine Felswand, um seine Phantasmagorien daran zu gaukeln, eine kleine Quelle, die er zum Niagarasturze dichten konnte, überall einen Bach, der ihm das Weltmeer scheinen durfte, Duodeztempel, die er sich auf klassischen Boden träumte, kleine Laibgänge im Belvedere, die ihm Belriguardo dünkten und ein Naturtheater aus gestutzten Baumhecken, aus dem er sich einen dramatischen Dionysostempel Griechenlands entnehmen durfte. Goethe war so an diesen kleinen Horizont mit den Jahren gebannt, daß er eines Tages, im höchsten Unwillen über eine vermeintliche Zurücksetzung des Hofes, ein Glas nach dem andern herunterstürzend, mit seiner Gigantenfaust auf den Tisch schlug, alles darauf zittern und klirren machte und ausrief: Kommt das noch einmal vor, so bin ich des hiesigen Treibens satt, setze mich in meinen Wagen und reise wohin denkt ihr wohl? Nach Rom, Neapel, nach irgend einem Tomi in der Schweiz? Nein, Goethes Riesengeist war so von diesen kleinen Verhältnissen umsponnen, daß er nur sagte: – und reise nach Jena.
Indessen gibt es wohl zur Stunde noch keine Stadt in Deutschland, wo die Literatur so frei und behaglich Atem schöpfen dürfte, als Weimar. Die Luft ist hier mit den klassischen Namen der Nation geschwängert. Die Lohnbedienten und die Gasthöfe leben von dem Tafelabhub, der vom frühern Göttergastmahl der Literatur hier übrig geblieben ist. Könnten wir nur wieder einen berühmten Mann hierherziehen! sagte mein Lohndiener, und ich schlug ihm vor, Subskribenten zu sammeln und etwa Männer wie Raupach oder Rellstab einzuladen. Er schrieb sich die Namen auf und betreibt vielleicht schon im Geheimen meinen guten Rat. Die Literatur ist in der Tat in Weimar etwas, das zum Ganzen, zum Staate, mitgehört. Der Hof selbst ist noch unschlüssig: soll er's machen, wie alle andern Höfe und seine Begriffe in zwei nackte Gegensätze auflösen: Legitimität und Demagogie; oder soll er der Goethe'schen Schule Ehre machen und die Literatur mit ihren kleinen poetischen Blumenkränzen und großen Etikettenverstößen wieder zum Handkuß lassen? Noch ist Goethes Name mit einigen Würdeträgern des Hofes verwandtschaftlich verbunden. Noch lebt Stephan Schütze in Weimar! Noch arbeiten Staatsminister am Taschenbuch der Liebe und Freundschaft mit. Ohne Scherz, die Fürstin ladet alle vierzehn Tage bei sich ein, was sich in Weimar und Jena von Literatur nur auftreiben läßt. Novellen werden vorgelesen und Theorien über das Schöne. Von Weimar kommt die Produktion, von Jena die Kritik und das System. Stoff zu einem geistigen höheren Wirken, das sogar die Freude hätte, sich an Gegebenes lehnen zu dürfen, ist genug in Weimar da; wer ihn nur zu bemeistern wüßte!
Viele Schriftsteller haben eingestanden, daß sie zitterten, als sie Goethe besuchten. Ich gestehe aber, nur Willibald Alexis in dieser Lage begriffen zu haben; denn dieser kehrte bekanntlich auf dem Wege zu Goethe vor Angst wieder um, und sah ihn nicht. Wer aber einmal das schlichte Haus, das Goethe bewohnte, und die auffallend kleinen Dimensionen, in welchen die Treppe und die obere Hausflur gehalten sind, sah; wie kann der nicht Mut gefaßt und sich gestanden haben, daß diese Umgebungen ganz nach der petite ville eingerichtet sind? Beängstigend für Besuchende sind große Treppen, weite Vorsäle, glattes Parkett; aber die Verhältnisse, die sich bei Goethe darboten, sind durchaus klein, die Decke des obern Stockes ist auffallend niedrig, die Zimmer haben eine beschränkte Ausdehnung, der Hof ist dunkel und mit fünf Schritten durchmessen, altes verfallenes Bauwerk lehnt sich daran; wie kann dies alles nicht Mut machen, wenn es denn doch der Geheimerat sein soll, und nicht der große Geist, vor dem man so besorgt ist! Ich wußte zwar, daß Goethe schon tot ist, war aber doch darauf gefaßt, ihn plötzlich aus einem Nebenzimmer treten zu sehen. Recht trotzig war' ich gleich in sein Inneres eingestiegen und hätte ihn da gefaßt, woran auch die Muse sich bei ihm halten mußte. Alles übrige, die Dekoration, Hinter- und Vordergrund, ist kleinlich.
Herr Kreuter zeigt jetzt die Goethe'schen Sammlungen und das Arbeitszimmer. Er war der letzte Sekretär des Seligen gewesen, und hatte am Zelter'schen Briefwechsel tüchtig mitgearbeitet. Er scheint Autodidakt, und erinnert ganz an jene Naturen, die Goethe in seiner Art tüchtige zu nennen pflegte. Zunächst zeigt dieser Mann, was Goethe an Knochen und Schädeln, Ehrengeschenken, Münzen, Gipsabgüssen, Zeichnungen, bunten Porzellanschüsseln, Mineralien und Autographen besaß. Eine Siegel- und Schmetterlingssammlung vermißt' ich. Van Dycks Schädel steht neben dem eines Verbrechers, um den Adel der menschlichen Seele selbst noch in den Knochen nachzuweisen. Der Farnesische Stier ist öfters vorhanden, ein Bild der strotzenden Manneskraft. Ich weiß nicht, dieser prächtige Stier kam mir immer wie der verzauberte Goethe selbst vor. Nun Medaillen aller Art, um die Weltgeschichte darnach zu erklären; Zeichnungen von Goethes Hand, wo es mir auffiel, Dinge wiedergegeben zu finden, die vielen gleichgültig erscheinen werden. Unter andern stellt eine Zeichnung nur ein schlichtes Gartentor vor; und dennoch muß man gestehen, daß gerade nichts heimlicher auf den poetischen Sinn wirkt, als eine solche Einfahrt zu Rätseln und romantischen Abenteuern, die wir nicht lösen können, weil wir den Torschlüssel nicht haben. Eine Zeichnung stellt Schillers Garten in Jena vor, und wenn es wahr ist, was Herr Kreuter behauptet, daß Goethe von einem dazu gehörigen Gartenhause, zu dem Schiller selbst den Riß entworfen, gesagt hätte: Es wäre Schillers bestes Werk; so ist dies eine jener aphoristischen Nüsse, welche die alten klassischen Herren so leicht hinwarfen, um das Publikum sich daran die Zähne zerbeißen zu lassen. Hätten wir, die wir nichts sind, das gesagt, man würde es trivial genannt haben.
Unter allen diesen mineralischen und ästhetischen Schätzen muß man gewesen sein, um das zu verstehen, was Goethe die Welt und ihre Geschichte war. Würdet ihr es nicht möglich finden, daß ein Mann, der anerkannt den ersten und größten Diamanten in der Welt besäße, sich um alles andere nichts kümmerte und seinen Stolz darein setzte, daß man, um etwas vollständig zu haben oder nur zu kennen, und wär's auch nur die Edelsteinkunde, zu ihm kommen müsse? Habt ihr nicht Personen gekannt, deren ganze Wichtigkeit, die sie für andere und sogar für sich selbst hatten, in irgendeiner zufälligen Berührung mit Napoleon, in einer Verwandtschaft mit Werthers Lotte bestand? So gibt es Menschen genug, die ein ganzes Leben hindurch von der Notiz erhellen, daß sie etwa Nachkommen jenes Müllers sind, der Friedrich dem Großen den Effekt seines Sanssouci verdarb, oder daß sie diejenige Person sind, die Schiller unter seiner Laura verstand. So hatte Goethe um sich die kostbarsten Reliquien, Münzen, die bei Eckhel fehlten, Gemmen, die Lippert nicht kannte, Uralsteine, wo Alexander v. Humboldt erklärte, Loder, der sie geschickt, hätte sich damit »die Seele aus dem Leibe« genommen. Konnte da Goethe nicht immer in der Illusion bleiben, daß trotz aller Zurückgezogenheit doch die Welt durch seine Sammlungen ergänzt werden müßte? Was Krieg und Friede, was Napoleon und der Zeitgeist, was Philhellenen und spanische Prätendenten; was selbst Rationalismus und Supernaturalismus – Goethe hatte seine Welt um sich, ein Gewühl von Beziehungen und Auslegungen, ein Chaos von Erinnerungen, Altertum, mittlere, neuere Zeit. Was war ihm Wellington, was der Kreis der berühmtesten Heerführer der neueren Zeit! Er hatte ja von allen die Handschriften. Was Papst Gregor! Er hatte ja eine Münze von ihm. Ja, was war ihm der Regenbogen draußen in der nassen Luft? Er hatte ja in seinem Zimmer einen kleinen künstlichen sich machen gelernt, von Pappe, einer Glaskugel und einigen von seinem Garten hereinfallenden Sonnenstrahlen!
Auch dies Arbeitszimmer hab' ich gesehen. Es ist allgemein bekannt, daß es ausnehmend einfach ist, ohne Sofa, nur mit eichnen unpolierten Stühlen und Tischen besetzt; aber weniger bekannt ist es, daß auch in dieser Einfachheit ein großer Luxus liegt. Wenigstens muß es für einen vornehmen Geist Genuß sein, in einer solchen Umgebung nur sein Innerstes als das Kostbarste aufzustellen. Sind wir in unsern Wohnzimmern abgespannt, der Erregung bedürfend; ja dann mögen die glänzenden Möbel und die Goldleisten an den Wänden für uns geistreich sein. Dann mag die schimmernde Astrallampe das sagen, was uns nicht einfällt, und die seidene Tapete reden, während wir stillschweigen. Wer kann schaffen, wenn man rings mit Schöpfungen umgeben ist! Die geistige Leere und Öde der französischen Schriftstellerwelt hat mir nie etwas so versinnlichen können, als die Eleganz, mit welcher sich diese berühmten Herren umgeben. Vielleicht sind die kostbaren Schilderungen der Umgebung, in welcher die französische Romantik dichtet und lebt, nur Erfindungen der Phantasie, oder um den Gläubigern dieser Dichter zu imponieren. Zu Balzacs Ehre glaub' ich, daß ihm seine Schreibfeder nur deshalb auf einem goldnen Teller präsentiert wird, damit die, welche ihm borgen, wissen, daß es in seiner Wirtschaft noch etwas einzuschmelzen gibt. Nein, der echte Dichter wohnt wie Goethe, und findet es sogar pikant und jedenfalls am anregendsten, in einem Zimmer zu schaffen, wo nichts als nackte Wände, ein eichener Stuhl, ein gleicher Tisch ihm zu Gebote stehen. Das übrige wird schon die Phantasie hinzutun.
Goethe schrieb auch im Stehen, und merkwürdigerweise gegen das Licht. An einem solchen Orte grübelt man über alles, und so führ' ich dies an, weil ja jedem unwillkürlich einfallen wird: In der Tat, der schrieb gegen das Licht. Er ließ sich die Sonne auf den Rücken, nicht aufs Herz scheinen. Sonst ist alles, was man in dem Zimmer anrührt, tot und kalt. Es scheint zu verwesen, seitdem der Herrscher darüber nicht mehr ist. Ich dankte Gott, als ich draußen auf der Straße wieder frische Luft schöpfte. Ich war wieder ein freier und eigner Mann, und hütete mich wohl, ob ich gleich auf heiligem Boden stand, der mir unter den Füßen brannte, mathematisch und wörtlich mit Eckermann und Riemer zu untersuchen, wo wohl noch Spuren von Goethes Fußstapfen auf der Treppe oder an dem Kratzeisen vor dem Hause zu finden wären.
Zu keinem Grabe drängen sich ja mehr Unberufene und mehr Lügner, als an die ernste Stätte, wo Schiller und Goethe ruhen. Unsre Zeit, der Gottes Wort zu einfache Speise ist, sucht in Weimar ihr Jerusalem. Wer wird die Schacher aus dem Tempel jagen, und die Tische der falschen Wechsler umstoßen? – Über diese zwei Namen haben sie Bibliotheken voll geschrieben, haben gestritten, verleumdet, waren ehrlich und gemein; und doch hat, trotz aller Aufregung, die Frage über Würdigung und Bedeutung dieser beiden – kein Resultat errungen. Es ist eine Stille eingetreten, die aber weiter nichts heißen kann, als ein Zugeständnis unsrer Armseligkeit. Eine Versöhnung und Lösung liegt nicht in dieser matten Ruhe. Die Ratlosigkeit scheint mir aus zwei Gründen zu entspringen.
1) Seit der ersten französischen Revolution hat sich nach Deutschland ein Element gedrängt, das wir vergessen zu haben schienen – das Bewußtsein, daß ohne freie Tat kein Denken und kein Dichten wahr sei. Deutschlands Boden war durch Lessing und Merck empfänglich geworden für diesen praktischen Sinn, der keine Poesie mehr schreiben, sondern treiben wollte, und seine Vollendung immer bestimmter und ausgesprochener in harmonischer Einheit des Lebens und Staates suchte. Es wurde dadurch für die aufkeimende Zeit, die bis in unsre Tage reicht, ein ganz neuer Boden gegründet, der erst (wie bei der Jugend natürlich) in der unklaren Schwärmerei des Deutschtums, dann in der undeutschen Frechheit des neuen Liberalismus sich Luft machte. Geleitet vom Gedanken, daß der Grund ihres Strebens Zeitbedürfnis sei, aber nicht so mächtigen Geistes, um den Umfang dieses Gedankens unabweisbar klar zu predigen vor aller Welt, mußten alle diese als Opfer ihrer Bestrebungen fallen. Sie fühlten sich als Märtyrer – darüber aber waren sie nicht klar, daß sie um eigner Schuld willen zugrunde gingen. Sie suchten den Grund nicht in ihrem unberechtigten Vorgreifen, in ihrer Unklarheit und ihrem Irrtum, daß sie als Propheten auftraten ohne Sendung vom Geist der Geister; sie waren sich nicht bewußt, daß die alte Zeit immer noch mächtiger blieb, weil sie vollendet ihrem halb erkannten, unvollendeten Streben entgegentrat. Den Haß, der sie selbst hätte treffen sollen, wendeten sie wider die alte Zeit, für die das Dichten selbst schon Tat gewesen war. Eine Versöhnung dieser schroffen Gegensätze des Alten und des Neuen, der ästhetischen patriarchalisch despotischen Legitimisten, und der nach Individualität ringenden Revolutionäre ist erst dann möglich, wenn sich unsere Zeit durch die ungeheure Tat selbst begriffen, und die geistigen Spitzen geboren hat, die klar aussprechen, was jetzt ist, und was damals war. Bis dahin hat dies keiner gekonnt; selbst der edle, große Börne war nicht groß genug, um die alte Zeit zu besiegen und anzuerkennen. Mir deucht, als müßte zuvor das Schicksal noch manches Opfer fordern, über dessen Leiche der Weg zur Wahrheit geht. Denn es ist eine Zeit der Rache, wenn jeder bedeutende Mensch jeden Abend mit der süßen Hoffnung eines Morgenrotes zu Bette geht, und ihm dann jeden Morgen der alte Tag erscheint. Es ist mir ein grausenhafter Gedanke, wie viele Geister noch im Kerker der Verhältnisse schmachten und vergehen, wenn unsrer Zeit nicht Hilfe von Oben wird ...
Ich sehe in meinem vorigen Brief ein »Erstens«, ohne ein Zweites angegeben zu haben. Der zweite Grund, warum die Frage über beide große Männer keine Lösung erhält, liegt darin, daß man die Lehre vom Schönen aus allgemeinen abstrakten Sätzen begreifen will, nicht aus der psychologischen Würdigung des einzelnen Geistes, der das Kunstwerk geboren hat. Wir leben in einer Zeit, wo jede konkrete Anschauung verallgemeinert wird, weil sie sich vor dem Gedanken fürchten, daß keiner seiner Seele eine Elle zusetzen kann, und jeder wie ein Stern am Himmel in vorgezeichneter Bahn wandeln muß, um die Harmonie zu bilden.
Während sich die Armen über das hohle Wort von Freiheit und Notwendigkeit, Fatalismus usw. die Köpfe zerbrechen, während sie nichts davon wissen wollen, daß die höchste Freiheit die Notwendigkeit in Gott ist, sondern ihr Hochmut sich gern irgendwo außerhalb der Harmonie (Notwendigkeit) Gottes ein kleines Freiheitchen herausfinden möchte; während alledem haben sie an ihrer Wahrheit und daran zweifeln gelernt, daß sich ewig wahre psychologische Gesetze werden finden lassen; daß daraus allein der Geschichte – der vergangenen wie zukünftigen – Heil erwachsen könne. Aber davon – es sind ja Träume – wollen die philosophierenden Träumer nichts wissen. Statt Schiller und Goethe aus deren individueller Natur zu begreifen, und darnach ihren Platz in der Welt und Geschichte zu bestimmen, scheint es ihnen viel besser, kurzweg Schiller und Goethe für die höchsten Spitzen des deutschen Geistes zu erklären, oder auf der andern Seite aus dem Leben dieser beiden diese oder jene Licht- und Schattenseite herauszureißen, und, unbekümmert um den Organismus, daraus einen Engel oder Teufel an die Wand zu malen. Das Ärgernis, welches die letztern geben, verrauscht, weil es zu nichtig ist; mehr Schaden haben die Genie-Anbeter angerichtet. Der eine Satz – Goethe und Schiller seien die höchste Spitze deutschen Geistes, also Maßstab für alles, was war, ist, und sein wird; dieser eine Satz macht, daß wir keine Literaturgeschichte, keinen frischen originellen Geist, und so viele prätentiöse Dichterlinge und charakterlose, tatlose Armseligkeiten in Deutschland beherbergen.
Keine Literaturgeschichte haben wir, sage ich; und zwar deshalb, weil in unseren Tagen keiner schreiben soll aus freier, der eigenen Seele entquillender Anschauung; da muß alles in Schillerscher oder Goethischer Art, mit sentimentalen Erinnerungen und olympischer Ruhe betrachtet werden. Pfui, mir ekelt. Unsere deutsche Poesie selbst – nicht nur unsre Kritik – wurde durch dieses hohle Wort zum Pegasus im Joche. Heute soll sich keiner selbsttätig entwickeln; – wenn er das Bild eigener Kraft und Freiheit nicht aus seiner Seele bannt, wenn er nicht in jeden Winkel seines Herzens eine Bildsäule von Schiller und Goethe stellen will, so hat er zum Lohn – den Tod; zum Trost, daß er nicht anerkannt wird, daß er weg soll von dieser Welt, dunkel und spurlos wie Raimund. Tadle mich nicht um diesen Gedanken; er nagt zu oft an meiner Seele; wenn es wahr wäre, daß der deutsche Geist nichts höheres zeugte, als diese Poesie – ich würde vergehen. Soll die Saat der Reformation, das Denken, sich nimmer vollenden; soll es keinen Staat geben, der das vollbrachte Denken ist, kein Leben, das gesund nach ewigem Gesetze keimt und groß wird? Soll uns kein Sänger erscheinen, der gleich Homer, dem greisen Kinde, als kindlich reiner Greis ins Leben schaut, und die Lösung der Zwiespalte gibt, der uns Gottes Wege offenbart, mit der wahren Ruhe, die erst den Kampf durchgerungen hat? Sollen wir uns tatenlos hinschleppen zwischen den löschpapiernen Abdrücken von Schiller und Goethe? Kann uns zweimal abgegossener Tee, eine Karikatur Mignons oder Werthers erquicken? Sollen jene gebildeten Talentseelen, die über der Bildung ihr bißchen Frische verloren haben, unsre Freunde sein, und uns wispernd in die Ohren singen – ein leidig Lied, pfui, ein politisch Lied!
Dahin kann es, darf es nicht kommen. Ich sehe oft in eine helle himmlischklare Zukunft; dann komm' ich mir vor wie ein Sterbender, dessen Seele schon die Herrlichkeit Gottes anschaut, während sie noch mit leichten Fasern an den Körper gefesselt ist.
Ich möchte oft die Hände in den Schoß legen, und mich an die Landstraße setzen, ob nicht ein Messias vorüberginge, der da spräche: komm und folge mir ... Goethe war geistig viel bedeutender als Schiller; das leugne, wer Faust und Wallenstein gelesen; er war mehr als Dichter konstruiert. Deshalb wurde ihm auch mehr als Schiller zum Bedürfnis, die eigenen Leiden und Freuden poetisch zu erfassen, und sich so von ihnen loszuringen, wie dies ein Labsal und Trost des Dichters ist. Zugleich besaß er alle seinem Geiste entsprechenden Organe des Talents. Er zeigt unsrem Bücke alles klar, hell, ohne daß ein Zweifel ist über das, was er will.
Nach dieser Gewalt hätte er groß werden können, wie kaum einer; aber ihm fehlte die Reinheit; er war ohne Reaktion, weder gegen das Gute noch gegen das Böse; heute war er gut, morgen schlecht. Das Wort mag fürchterlich klingen! – dieser Gegensatz allein leitet uns durch das Labyrinth des gewaltigen Geistes.
Schillers Geist hielt eine silberne Schale dem Ewigen hin, der sie mit süßem Labsal füllte, um der Tugend seines Gemütes willen. Goethe hätte Nektar trinken können aus goldener; sie ward ihm oft mit Wermut gefüllt, um seiner Sünde willen. Er hätte fliegen können als Adler; aber der Drang nach unten fesselte den kaum Entflohenen wieder und wieder an die unsaubre Erde. Der Egoismus, das Schlechte in ihm war nicht bloß sündliche Neigung des Fleisches, wie in jedem Menschen, es hatte seinen Geist selber infiziert.
Auf dieser gähnenden nie zu überbrückenden Kluft beruht sein Glück und Unglück, seine Verehrung, sein Tadel; der gewaltige Flug seines Geistes, der uns mit sich reißt durch alle Schönheit der Erde, aber an öder Gegend stehen läßt; der uns an eine Wüste führt, in die er sich selber jammernd stürzt.
Seines Lebens Glück war das Glück des großen Geistes, der über klare Wasser segelt, und an all den wundersamen Gebilden der Menschheit vorüberzieht, die durch die Tiefe quellen. In ganzer Fülle reicht dies das Schicksal nur dem Guten. Goethe vermochte niemals rein zu genießen, weil stets von Zeit zu Zeit der Böse Oberhand in seiner Seele gewann, und die trüben Stürme der Tiefe aufrüttelte, daß sein Wollen irr wurde. Aus diesem Dunkel konnte er die Wahrheit nur durch die höchste Äußerung seiner Titanenkraft loswinden. Diese Augenblicke des Kampfes sind ein großes erschütterndes Drama, und haben das herrlichste geboren, was uns nur erquicken kann: Faust, Götz, die kleinen Lieder etc. Da er aber alt wurde, und die Kraft seiner Seele abgenützt durch das ewige Erheben und Fallen, – konnte er des Bösen nicht weiter Herr werden, und half sich dadurch, daß er die Gegensätze nicht mehr zu überwinden suchte, sondern daß er sie von sich wies, sich einen Olymp baute, wie es gemütsmäßig die Schlechten unter den Pietisten tun. Hätte Goethe das stolze Bewußtsein des freien Geistes und Verstandes nicht gehabt, er wäre selbst ein solcher Pietist geworden. So aber wurde er in religiösen Dingen halb indolent, halb frivol. Er läßt das Christentum schon gelten für die Schwachen; er – der Olympiker – braucht es nicht ...
Er ist geworden, was er irgend werden konnte. – Aber die Schuld! – Ich will nur ein Beispiel anführen, wie sie sich an ihm rächte, und als Nemesis ihn zu Grabe begleitete. Ich meine sein Verhältnis mit Frideriken. Vergeblich suchte er den Schmerz von sich loszuringen, indem er seine Treulosigkeit in Clavigo und Weißlingen treu objektivierte. Das Schicksal hat ihm doch nie das Glück reiner Liebe und keuscher Ehe geschenkt, daß er es täglich schmerzlich empfinden sollte. Ich erinnere hier nur an den Briefwechsel mit Schiller. In jedem Briefe fragte er nach Schillers häuslichem Glück; von dem seinigen kann er nie sprechen, und ruft einmal schmerzvoll aus: »So lebt denn fort dieß Leben der Liebe und Treue; alles andre ist trauriges Wesen.« (Ich muß Dir hier aus dem Gedächtniß zitieren.)
Doch stehet mir nicht zu, das Sündenregister eines großen Mannes einzeln aufzuzählen; ich überlasse das denen, die gemein genug sind, an solchen Dingen Freude zu haben. – Ich freue mich, daß dieser Abschnitt zu Ende ist. Ich habe nun von der Verehrung und dem Tadel, – der Goethe geworden, zu sprechen. Dabei ist vor allem ein Punkt scharf in die Augen zu fassen, die Frage: Auf wen kann Goethe wirken?
Beim Volke, das sich von Schiller erheben und begeistern läßt, wird Goethe nie volksmäßig wirken. Es ist nur Phrase, wenn man von einem Eindringen Goethischen Geistes in die Volksbildung spricht. Das gemeine Volk wird seinen Geist und seine Wahrheit nicht fassen, und nur seine Unreinheit und Gottlosigkeit ahnen. Die Aristokratie Goethes, sein gerechter Stolz, seine fremdartige undeutsche Bildung sind ein undurchdringlicher Panzer für jeden Ungebildeten; und er hat sich Mühe gegeben, durch Hochmut und Eitelkeit den Panzer zu festigen. Wenn deshalb das Volk ein Urteil fällt, wird es immer Goethe »als unsittlich« verdammen. Fragt man aber nach den Gründen – ein Beweis fürs Eindringen!? –, so kommt albernes Zeug zu Tage. Der arme Dichter wird »schlecht« geheißen, weil hin und wieder eine Unziemlichkeit mit unterläuft! Goethe ist nur der Mann der geistigeren und gebildeten Menschen; diese werden ihn stets anerkennen – wenn vielleicht in kommenden Jahrhunderten, Jahren, auch weniger, sobald die Persönlichkeit Goethes sich verwischt und nur das Erbe seiner Schriften bleibt – wenn alle unwahre und absichtliche Begeisterung und aller Götzendienst aufhört. Doch ist auch unter diesen Verehrern ein Unterschied zu machen. Sind sie schlecht, so beten sie Goethe an, als ersten Lügenvater; sie holen Trost bei ihm, wenn sie das eigne Gewissen peinigt, und nennen die Sünde Goethes – »ein liebenswürdige Charakterschwäche«, die man gern auf die leichte Achsel nimmt, wenn der Mann nur geistreich ist. Diese fürchten sich am meisten vor einer Enttäuschung über Goethe. Sie ist ja zugleich ihr eigen Gericht. Ist aber einer nicht gewohnt, scharf zu denken, – und das sind die Zweiten –, oder hat er nicht Macht, den wundersam gefalteten Mantel der Goethischen Bildung zu lüften, und das Bild selbst zu schauen; – so hält er die Klarheit für Wahrheit; was unrein ist für verzeihliche Konsequenz, für eine kleine Sünde, aber große Liebenswürdigkeit; er spricht von Weichheit des dichterischen Gemütes, das sich nicht in das Drängen des Lebens wagen kann, weil es zu oft verletzt würde. Ach Gott, verletzt!? zu was hat Euch Armen Gott mitten in dies Drängen gesetzt? Auf solche Leute wirkt Goethe als Verderber. Jeder Mensch hat eine Periode der Sentimentalität und ästhetischer Weichlichkeit durchzumachen; in dieser Zeit aber weiß er keinen Unterschied zu finden zwischen vorübergehender und zwischen schlechter Sentimentalität und ist geneigt, zierliches Denken für wahres Denken zu halten.
Endlich sind wohl einige aufgetreten, die Goethe anzuerkennen behaupteten, aber sich berufen glaubten, ihm seine Sünden und Fehler nachweisen, und namentlich allenthalben von seiner Unsittlichkeit schreien zu müssen. Sie haben der Welt groß Ärgernis gegeben, weil sie – Börne ausgenommen, sonst fast alle es sehr leicht genommen haben, Goethe zu verdammen. Mögen sie im Grunde das Wahre geahnt haben; berechtigt und würdig waren sie nicht. Denn leider befähigt Liberalismus und deutscher Knotenstock so wenig zu einer Kritik von Goethes Bildung, als die 3 Grundsätze der Burschenschaft und das Evangelium des jungen Deutschlands zu einer Beurteilung seines Charakters. Man hat vieles hören müssen, was man gern nicht gehört hätte; gemeines und possierliches. Besonders traurig ist es, wenn man hören muß, wie diese Menschen eigentlich gar nicht wissen, was unsittlich ist. Sie verdammen Goethe, z. B. weil er in den Wahlverwandtschaften das heilige Band der Ehe löse, ja höhne. – Hohn ist keiner da; wie sollte aber Goethe einen Vernünftigen für das Verbrechen Eduards Rechenschaft schuldig sein, da ja das Ende des Romans die furchtbare Rache der Schuld los läßt. Wir würden mit Gott und Goethe versöhnt sein, hätte der Dichter das Herz, die ganze volle Rache sich vollenden zu lassen. Nur darum ist der Roman unsittlich, weil Ottilie zur Heiligen gemacht wird, und Eduard, der liebenswürdige geistreiche Eduard – kein Mann ist, sondern eine Memme. O ihr keuschen Herzen, euch ist Wilhelm Meister nicht deshalb verderblich, weil Philine die amüsanteste Hure ist, sondern deshalb, weil Wilhelm den Kampf seiner Jugend, seine entwicklungsmäßige Schlechtigkeit nicht am Ende überwindet, weil er bei seinem Eintritt ins Leben, da er handeln sollte, ein markloser Tropf ist. Seine Sünden würden wir verzeihen, weil jeder Mensch in solchen Perioden mehr oder weniger schlecht ist; aber nur dann verzeihen wir, wenn einer als Mann aus dem wüsten Dunkel der Tatlosigkeit hervortritt. Diesen Triumph des Guten können wir lange vergebens in den Goethischen Schriften suchen. Darum werden ihn auch die kommenden Zeiten nicht verehren, so sehr sie an der Fülle des lebendigen Geistes sich erquicken. Denn fast aus jedem bedeutsamen Menschen in allen Schriften tritt uns der Zwiespalt der eigenen Seele Goethes entgegen. Dies ist etwas einzelner nachzuweisen. Zuvor aber muß ich ein paar hohle Phrasen über Goethes Wesen bei ihrem rechten Namen nennen. Das erste, worauf die, welche also sprechen, sich vieles einbilden, ist das gewöhnliche Wort: daß Goethe objektiv sei. Dies deucht mir ein gewaltiger Irrtum; mir erscheint Goethe – und seine geistige Natur, wie die Richtung der Zeit machten ihn dazu – als ein ganz subjektiver Ausdruck, sobald er über den Kreis des deutschen Familienlebens hinaustritt, und im vollen Leben des Staates und der Geschichte sich bewegen soll ...
Auch fühle ich mich nicht berufen, von der Herrlichkeit Goethes zu sprechen. Er herrscht über die Geister. Was läßt sich weiteres sagen? Ist dies nicht genug? Aber er soll nicht herrschen mit mehr Gewalt als ihm gebührt. Die Menschen sollen seine Flecken sehen.
Der erste Vorwurf, der größte der ihn trifft, ist: daß er fast immer nur Trümmer gibt, und gerade in seinen bedeutendsten Werken, in denen er sein eigenes Leben objektivierte. Diese Trümmer lassen nur ahnen, was sein Geist war; sie machten die Seele traurig, weil dieser Geist nie zur sittlichen Vollendung und Tat kam.
Dies fällt gleich bei Werther in die Augen. Schon dieser Erstling gibt einen tiefen Blick in Goethes Seele. Werther stirbt, weil er sich fürchtet, als Mann zu handeln.
In Wilhelm Meister breitet sich der Kampf eines bedeutenden Jünglings aus mit aller Pracht und Herrlichkeit. Wie aber der Jünger ein Meister werden soll über das Leben, wie er uns durch die Tat mit seiner Jugend versöhnen soll; da zerrinnt der helle Strom, der sich aus frischen Quellen nährte, in eine sandige Wüste, wo den Wandrer ängstliches Bangen faßt, und ihm nur selten eine Oase Ruhe gibt, um ihn mit Früchten einer jüngeren, schöneren Zeit zu erquicken. Wie matt sind nicht alle Versuche, die Wirklichkeit zu bezwingen, und die ichsüchtig erworbenen Schätze den Menschen zum Segen wieder zu verschwenden. Wie armselig die Versuche der Tat, z. B. das Erziehungsinstitut?!
Die Wahlverwandtschaften, so künstlich vollendet sie scheinen, schließen sich nicht sittlich ab, weil die Personen nicht Kraft haben ein selbstbeschwornes Schicksal zu ertragen, und durch unerbittlichen Tod, oder neues Leben der Tat zu versöhnen..
Endlich tritt in Faust der geistige und sittliche Kampf eines genialen Menschen vor unser Auge. Er ist mit der größten Fülle der Sprache und Phantasie durchgeführt. Aber Fausts Untergang kann uns zwar mit der Gottheit versöhnen; denn diese verlangt ihn als Sühne für die Schuld. Faust selbst aber und sein Original – Goethe – konnten nur durch einen zweiten Teil gerechtfertigt werden, in welchem Faust handelt wie ein Mann; denn wahrlich, sein Untergang ist nicht der eines Mannes. Was gibt aber Goethe im zweiten Teil? Er selbst fühlt, daß nur die Tat versöhnen kann. Darum läßt er Faust für die Welt sorgen, und ihre realen Verhältnisse ordnen. Wie armselig geschieht dies aber, wie leblos löst sich der lebendig geschlungene Knoten! Es ist hier der Ort nicht, weiter von Faust zu sprechen, welcher das einzige Genie ist, das Goethe zeichnet. Denn der Weimarsche Hofseufzer Tasso, und der wohlhabende Egmont sind doch wahrlich keine Genies. Nur einen Punkt möchte ich noch berühren, der sich leicht hier anknüpft; denn gerade wegen Faust heißen gewisse Leute Goethe einen philosophierenden Dichter. Auch wieder eine kleine Phrase. Sie wundern sich sehr, daß Goethe schon längst ausgesprochen habe, was nachher ihre eigene weise Spekulation fand. Deshalb ist also Goethe philosophierend? Diesen Leuten ist zu raten, sich erst das Verhältnis von vorstellungsmäßigem und spekulativem Denken klar zu machen. Dann werden sie sehen, daß nirgend im Faust philosophiert ist. Ein Mensch, der scharf denkt, und tief denkt, ist noch lange kein spekulativer Philosoph. Vielleicht sehen sie dann am Ende auch, wie es lächerlich ist, daß sie in den Versen in der Hexenküche spekulative Weisheit finden. Ach über die weisen Herren, die nicht sehen, daß hier Goethes Phantasie eine unsinnige sein will, und sein muß.
Doch wenden wir uns weg von dieser Betrachtung, welche das Herz nicht erfreuen kann. Denn noch einmal, und am härtesten tritt uns ja die Zerrissenheit und der sittliche Zwiespalt Goethes an der Enthüllung seines eigenen Lebens hervor, das er zum Teil in Wahrheit und Dichtung gibt. Wie herrlich hat es begonnen, sich ausgebreitet, und wie hat es geschlossen! Was ist der Titane, da er den Götz schrieb – und was der Herr Geheimbde Rat mit dem Stern?
Die Franzosen wollen an den Deutschen nur das anerkennen, was sie selber nicht besitzen. Die deutsche Literatur muß ihnen eine gespenstische Ruine im Mondschein mit Geisterspuk und Elfengeflüster sein. Sie, die Voltarie, Rousseau, Racine haben, die Dichter des Herzens und der gesunden Vernunft, werden alles zurückweisen, was sich jenseits des Rheines als Roman, Drama, als sozialer Gedanke auch herzlich und vernünftig ankündigt. Von den Deutschen wollen sie nur Gespenster, nur Hexen, nur Burgruinen, nur Ritterlegenden und blaue Teufelsmärchen. Alles übrige erscheint ihnen an den Deutschen höchst überflüssig oder nur als französische Nachahmung.
Haben wir doch auch in Deutschland genug, die nur das für poetisch erklären, was romantisch ist, d. h. unwahr, unbestimmt und flimmernd. Glücklicherweise aber hat ein Goethe gelebt und drückt unbestrittenermaßen die ganze majestätische Fülle des den Deutschen möglichen Dichtens und Denkens aus. Wer in Frankreich eine tiefere und gerechtere Analyse der deutschen Literatur vertreten wollte, müßte zunächst an Goethe anknüpfen und aus dieses, auch in Frankreich bewunderten Heros' Wirken und Schaffen heraus die verschiedenen Geistströmungen und Lichtstrahlungen angeben, nach welchen hin die deutsche Literatur sich entwickelt hat. Denn in Goethe zeigte sich nichts nach einseitiger Abschlüssigkeit. Er war Phantast, wo der Nebel hingehörte und war vernünftiger Denker bei allem Dichten, wo er sich in seiner vollsten Wesenheit zeigte. Er ist in der Hexenküche des Faust nicht stehengeblieben, wie sich die Franzosen einbilden, die unter einem deutschen Dichter nur einen halben Visionär verstehen und nicht begreifen, wie Callot-Hoffmann so schnell bei uns vergessen werden konnte. Durch Goethe müßten sie das Grundschema, den ursprünglichen Grenzbezirk kennenlernen, innerhalb dessen bei uns die schaffenden Geister sich entwickeln. Nach der Seite des Liedes hin, nach der Seite des Romans, des Dramas, der Kunstkritik und der Weltbetrachtung bezeichnet Goethe so ziemlich vollständig die Bedingungen des deutschen Schriftentums. Der Franzose hat seit Voltaire und Rousseau nur dichterische Spezialitäten gehabt, d. h. Dichter, die nur in einer Form z. B. als Dramatiker oder Odensänger sich auszeichneten. Es fehlt dem Franzosen der Sinn für umfassende dichterische Individualität, die sich nach allen Richtungen hin aus ihrer Schale lösen, wie Goethe und Schiller taten und wie wir in jüngsten Tagen nur Immermann, Platen, Heine und sonst nicht viele hatten. Der Geist eines vorzugsweise in einer abgezogenen Welt lebenden Volkes ist eben universell und das sollte den Franzosen gesagt werden.
Man sollte die Franzosen belehren, daß es in Deutschland auch eine Sonne gibt und nicht immer der Mond scheint. Man sollte ihnen einige Legionen unsrer Dorfteufel und Grubengeister gebunden ausliefern und ihnen klarmachen, daß der Schwarzwald, diese mystische forêt noire, die sie sich ganz voll mittelalterlicher Teufelstraditionen denken, mit nichts Teufelsmäßigerem anfängt, als den Spieltischen des Pariser Croupiers Benazet in Baden-Baden. Aber es ist ein Unglück mit uns – jetzt reist ein Herr Martin und will auch über Deutschland wieder neues bringen, ich wette, auch Herr Martin sieht nur Hexen und Teufel und läßt die gesunde Vernunft, weil man die in Frankreich viel gesünder hätte, am Wege liegen.
Bei jenen vorjährigen Festmahlen zu Ehren Schillers, wo die Toaste auf das Ideal mit dem Realismus der Rindsfilets, der Gesang des Liedes an der Freude »schönen Götterfunken« mit den inzwischen kalt gewordenen Puddings abwechselte, konnte man unter den Reihen der Gäste manchen beobachten, der es zwar am Bescheidtun mit seinem Glase nicht fehlen ließ, jedoch nach jeder Rede, der ein schmetternder Tusch gefolgt war, sich zu seinem Nachbar wandte und allerlei kleine Verschwörungsgedanken zu brüten schien.
Jedenfalls war es eine der bedeutsameren Physiognomien.
Entweder ein Gelehrter mit einem feinen und geistreichen Lächeln, hinter dem sich allerlei kritische Bedenken zu verstecken schienen, oder ein Beamter mit einem Ordensbande, der mit gelassener Miene hinnahm, was sich heute alles von gefährlichen demagogischen Anschauungen unter dem Deckmantel – der Literaturgeschichte einschmuggelte, oder einer jener höchst verehrungswürdigen Handelsherren, die, unbeschadet ihres Kommerzienrattitels, für höhere Interessen als die der Crédit mobiliers nicht unempfänglich geblieben sind und z. B beim Kunstverein die maßgebende Stimme haben.
Alle diese Flüsternden und eigentlich etwas ironisch in den Jubel Dreinschauenden hatten offenbar einen geheimen Privatkultus. Auf die rauschendsten Toaste brachten sie kleine Was-wir-lieben-Gesundheiten aus, nickten sich mit pfiffigen Mienen, blinzelten mit klugbedeutsamen Äuglein.
»Nicht wahr«, lispelte der Geheime Oberregierungsrat seinem Nachbar, dem Gymnasialdirektor, »Ihr Herz gehört denn doch wesentlich nur Goethen an?«
Der Gymnasialdirektor sieht schmunzelnd auf seinen eben gewechselten Teller und spricht: »Man macht das nun in diesen Tagen eben so mit! ...«
Ja der Mann erhebt sich sogar nach einigen Minuten und bringt einen Toast aus auf Schiller als den Sänger der Frauen, einen offiziellen, auf dem Programm vorgezeichneten, der mit »Ehret die Frauen, sie flechten und weben –« beginnt. Er erntet ein stürmisches Bravo; jeder Ehemann nickt schwärmerisch seiner Ehehälfte; die Damen in der Nähe der Festredner beeilen sich, mit dem Direktor, einem alten Junggesellen, ermunternd anzustoßen. Zehn Sekunden darauf sagt der Justizrat ihm zur linken: »Wie fein Sie aber andeuteten, daß im Grunde doch Goethe die Frauen viel besser verstanden hat und – Schiller sie eigentlich alle nach einer einzigen Schablone zeichnete!«
»St! St! Vorsicht!« heißt es beim Direktor und ringsum; denn schon hat sich die Zahl der stillen Goethe-Separatisten vermehrt und wieder hält ein anderer einen Vortrag über – Schillers enges Verhältnis – sogar zur Religion und zum Christentum! –
Gewiß eine merkwürdige Erscheinung, daß eine Nation zwei Dichter hat, die so ganz entgegengesetzten Naturen, der beschaulichen sowohl wie der tatkräftigen, als voller Ausdruck ihres Seins und Empfindens dienen können.
Wenn man in Weimar das Doppelstandbild sieht, das Rietschels Kunst geschaffen, glaubt man anfangs an eine organische Einheit beider Gegensätze. Das (beiläufig: unruhige, weder Schiller noch Goethe ganz zu dem ihnen gerade auf weimarischem Boden gebührenden Recht der eigenen und getrennten Individualität kommenlassende Bildwerk) will gleichsam sagen: Hier ist Anfang und Ende der deutschen Literatur! Hier ist ein Ganzes, bestehend aus zwei gleichen, ebenbürtigen Teilen! Hier ist eine in sich abgeschlossene große und einheitliche Epoche!
Wie nahe sich Goethe und Schiller berührten, wie sie in den Zeiten ihrer Reife sogar ihr Schaffen zum Gegenstand einer gemeinschaftlichen Beratung machten, sie sind an sich in ihrem Wesen doch mehr getrennt, als man einzuräumen pflegt. Aus dem kleinsten Gedicht Goethes oder Schillers weht ein verschiedener Geist. Man kann sie nicht in demselben Tonfall lesen, man kann sie nicht mit derselben Wirkung für das Ohr hören. Selbst die ruhige Betrachtung, wo sie in Schiller überwiegt, hat eine Wirkung auf das sanguinisch-melancholische Temperament, während die ruhige Betrachtung Goethes, obgleich sie lebensvoller scheint, obgleich sie sich von der wirklichen Erscheinung der Dinge nicht in bloßes Denken und Beobachten nach allgemeinen Begriffsmerkmalen zurückzieht, beruhigend wirkt und das cholerisch-phlegmatische Temperament ergreift. Der Moment der Tat, die sittliche Wirkung fehlt keinem, aber bei Schiller geht die Wirkung mehr nach außen und reißt den Menschen zum Anschluß an das Schöne und Gute hin, das ihm in allgemeinen Idealgestalten vorschwebt (daher ein bei seinen Schöpfungen durchgehendes Preisen der Freundschaft und Verbrüderung); bei Goethe geht der sittliche Entschluß mehr innenwärts und festigt die Widerstandskraft im Menschen bei den Stürmen des Geschicks und vorzugsweise durch Isolierung. Bei Schiller suchen sich die Wipfel der Bäume zu berührten, bei Goethe die Wurzeln. Man kann nicht sagen, was besser. Die angeborene Natur entscheidet, jene Mischungen des Bluts, die das Temperament und die Empfänglichkeit bilden. Und nach dieser Voraussetzung sagen in dem Denkmal Goethe und Schiller gleichsam: Mann und Weib bilden den Menschen, Tag und Nacht die Zeit – auch wir sind in dieser Art eine Einheit.
Es liegt hierin viel Wahres und doch kann man in solchen Parallelen zu weit gehen. Wenn man z. B. nur allein sagen wollte, Goethe wäre der Dichter der männlichen Kraft und Weisheit, Schiller der Dichter der strahlenden Jugend, so irrt man sich. Goethe zeigt wohl einen frühen Abschluß des ersten Lenzstrebens, er macht den Eindruck, daß die erste Frühlingsluft des Daseins bald in ihm verwehte und alles in und an ihm dem schönen Herbst und kräftigenden Winter zueilte; andern dagegen, denen seine Weise wegen ihrer gleichgearteten Natur entspricht, wirkt sie gerade unausgesetzt lenzhaft, immer jugendlich und neubelebend, immer zu frischem Beginnen anspornend. Unser Leben ist eben kein Leben der ständigen Tat. Was wir tun, verrechnet die große Staatsbuchhalterei des 19. Jahrhunderts zu den allgemeinen Tatsachen des Friedens und der Ordnung. Wir würden erschrecken über einen jugendlichen Sinn, der gleich in der ersten Bewährung seiner Kraft nach Goethes Lebensregeln handeln wollte – der Pedant, der künftige engherzige Aristokrat würde uns fertig erscheinen –, um aber ausharren zu können auf dem Posten, den unsere schwache Kraft in Zeiten wie die unsrigen erreichen kann, um sich eine stets lebendige Empfänglichkeit und einen freudigen Sinn der Anteilnahme an allem, was die Zeit und das Leben bietet, sichern zu können, erhält die Bildung mehr Ermunterung durch Goethe als durch Schiller. Wen erhebt das Gefühl, sich sagen zu müssen: Du bist im Alter der entschwundenen »Ideale«! Wen erhebt es, anfangs die Welt und das Leben nach Schillers Auffassungen zu ergreifen und dann doch aus Schillers eigenen Epigrammen und Xenien hören zu müssen, daß es eigentlich »so nicht gemeint gewesen«!
Scheine es aber darum nicht etwa, als ob wir allzu lebhaft jenen stillen Separatisten das Wort redeten, die unter den grünen Kränzen und Fahnen zu Ehren Schillers für Goethe tagten. Wir wollen das Gleichgewicht herstellen und nur bestreiten, daß Schiller und Goethe ein Ganzes ausdrücken.
Aus Tausenden von Abbildungen sind dem, der in Weimar nicht die Rietschelsche Schöpfung selbst sah, die beiden hehren Gestalten bekannt. Beide halten einen Lorbeerkranz. In Goethes Hand ruht er schon länger, schon sicherer. Schiller berührt ihn halb, halb erst faßt er danach. Goethes linker Arm ruht auf Schillers rechter Schulter. Goethe steht fest, Schiller scheint im Vorschreiten begriffen. Im ganzen genommen macht die Gruppe den Eindruck, als führte Goethe dem deutschen Volk eine Erscheinung vor, die die Zeit gewagt hat, neben ihn zu stellen und die er als ihm ebenbürtig anerkennt. Diese Auffassung entspricht dem Gesamtbilde, das wir von dem Doppelwert und der Doppelbedeutung beider großen Namen haben dürfen. Richtiger historisch müßte allerdings das handelnde Spiel der Gruppe umgekehrt sein. Schiller müßte Goethe vorführen. Schiller müßte gerade dem zagenden, der Dichtkunst abgewandten, ja in tiefe Verstimmung und Lebensverdüsterung gefallenen Goethe die Kränze zeigen, die ihm immer noch in der Ferne winkten, während seine bisherigen alten zu des reifern Mannes Füßen von ihm zu unbeachtet und verstreut liegen. Doch wollen wir von der Gruppe nicht alle unsere Bedenken wiederholen. Sie ist unruhiger, als sie sein sollte; sie macht den Eindruck eines Aktes, der der monumentalen Würde widerspricht; sie hebt eben durch den Akt die irdische Zutat zum Ideellen, z. B. die Bekleidung, zu sehr hervor und beschäftigt durch die Gegensätze, z. B. dieser Tracht, das Auge bis zum Eindruck des Genrebildes. Auf alle Fälle lieber wäre uns, Weimar hätte ein Standbild, das Goethe allein, und ein anderes, das Schiller allein feiert, oder beide stünden zusammen – dann freilich als ideale Allegorie, als Gedanke in antikem Gewande. Zusammen also standen sie im Leben allerdings – Als der lebensvolle, ruhmgefeierte Dichter des »Werther«, »Götz«, »Clavigo« mit seinem fürstlichen Protektor und Jüngern Freunde eine gemeinschaftliche Reise nach der Schweiz machte, kehrten sie auf der Rückfahrt in Stuttgart ein und wohnten einem jener Akte der herzoglich württembergischen »Karlsschule« bei, die wir in neuerer Zeit auf der Bühne und durch bildliche Darstellung uns so gegenwärtig veranschaulicht gesehen haben. Schiller, gerade 20 Jahre alt (1779), erhielt drei Preise – nicht für deutsche Sprache und Philosophie – für Arbeiten in der Medizin. Wie befriedigt, zukunftssicher und stolz mag der junge Rat des Herzogs von Weimar auf den schüchternen Eleven geblickt haben, der mit den andern jungen Akademikern in seiner hellblauen Uniform, mit Zopf und in Gamaschen, vor den hohen Herrschaften seine Belobigungen erhielt! Und diesem Bilde bedeutungsvoll analog sehen wir zehn Jahre später in engster Verknüpfung mit Schiller den aus Italien heimkehrenden Goethe, von dessen wiedergewonnener Kraft und Sammlung man Großes erwartet hatte, der unter den Anschauungen der alten klassischen Trümmerwelt nach aller Hoffnung die erhabensten Befruchtungen der Phantasie mitbringen sollte und von alledem nichts wahr machte; selbst »Iphigenie« und »Tasso« hatte er aus Deutschland bereits mitgenommen und brachte sie nur umgeschmolzen in Verse zurück, ebenso wie die Überbearbeitung von »Egmont«. Ein tiefer Verdruß nagte an Goethes Leben; die lange Einsamkeit der Reise hatte ihn auch für Weimar zum Einsiedler gemacht; neues Leben, neue Bewegung rauschte um ihn her; er begann eins und das andere und ließ es liegen, nahe daran, seine dichterischen Stimmungen bereits für abgeschlossen zu erklären. Eingebungen einer ihn immer mehr beschleichenden Philosophie der Abstreifung aller Blütenhoffnungen vom Leben, eines fast gewaltsamen Verharrenwollens im kleinen und unbedeutenden, im kleinsten Teile, der jedem das Ganze erscheinen dürfe, griffen immer mehr in ihm Platz. Wohl mag die immer ernster werdende Zeit diesen Druck auf Goethes Innere unterstützt haben. Seine Natur wurde die, sich in dem Maße, als der Mensch in das Allgemeine herausgefordert wird, in das Allerbesonderste zurückzuziehen. Gegen die Zumutungen des immer lebendiger, in Deutschland namentlich von der Philosophie mächtig bewegten Jahrhunderts war Goethe imstande, sich mit mathematischem Planzeichnen und Anlegung von Herbarien zu verwahren. In diesen Stimmungen näherte sich ihm Schiller. Schiller war inzwischen durch die »Räuber«, »Fiesco«, »Kabale und Liebe«, »Don Carlos«, seinen »Abfall der Niederlande«, seine schwungvollen philosophischen größern Gedichte ein Liebling des Tags geworden, ein schon gefeierter Schriftsteller, ein Mittelpunkt, um den sich begeisterte Freunde scharten, ein Mittelpunkt der tonangebenden Produktion, der er in einem neu von ihm begründeten Journal einen Sammelplatz eröffnete. Goethes Lesen dieser Aufforderung zur Mitarbeiterschaft an einer Zeitschrift, die der emporgekommene Karlsschüler herausgab, ist der Anfang der Vereinigung. Goethe antwortet, sagt zu, erbietet sich zu jeder Beihilfe, selbst zu Lückenbüßern, selbst zur Füllung leeren Raums. Wie ein Neuling, wie ein Anfänger feiert der in Mißmut und Vertrocknung Geratene eine Wiedergeburt und einen neuen Ansatz zum Leben durch Schiller.
Alles das ist unleugbar. Und doch sind Goethe und Schiller zu sehr zwei Begriffe geworden, die sich gegenseitig ergänzen und die volle, von allen Seiten mögliche Betrachtung der Literatur ausdrücken sollen. Diese Allheit bestreiten wir. »Schiller und Goethe« drücken nicht das ganze Gebiet des dichterischen Schaffens aus, bezeichnen nicht die Bahnen, in denen allein die deutsche Literatur zu wandeln hat. Es gibt Notwendigkeiten im geschichtlichen Gang unserer Literatur, für welche sich weder bei Schiller noch bei Goethe der entsprechende Ausdruck findet.
Darüber in einem zweiten Artikel –
Zwei Richtungen werden in der deutschen Literatur immer gleichzeitig nebeneinander gehen: die ideale und die reale.
Bei andern Nationen ist dies nicht der Fall.
Bei uns bekämpfen sie sich – oft mit dem bittersten Haß. Man kann nicht liebloser urteilen, als die Romantiker über Schiller urteilten. Ebenso ist von der in Schiller lebenden Kritik Goethe verketzert worden. Der Gegensatz dauert bis auf den heutigen Tag und richtet Verwirrung und Entmutigung genug an.
Andere Literaturen sind zur Vermeidung solchen Streites besser dran. Ihre Sprache hat größere Armut, aber festere Grundsätze. Gerade der Reichtum der deutschen Sprache läßt bei uns so vieles zu, was der Franzose sogleich ausschließt. Der Franzose hat eine einzige bestimmte poetische Sprechweise, die auf jedem Gebiet der Poesie gleich ist, während sogar der Deutsche nicht einmal die Sprache der Bilder und des pathetischen Glanzes vorzugsweise für alle Gebiete der Poesie fordert und in der Tat im Erhabenen noch naiv sein kann. Die Franzosen haben bis zur Stunde nicht gewagt, die Tragödien Shakespeares auf ihre Bühne zu verpflanzen. Das schallende Gelächter, das sich erhob, als man »Othello« in Ducis Übersetzung gab und der Mohr seine auf den höchsten Ernst berechnete Leidenschaft an ein Schnupftuch anknüpfte, hat jeden Versuch, es in Paris mit Macbeths, Lears, Richards III. Natürlichkeiten zu wagen, abgeschreckt. Der Franzose steht ganz auf dem Standpunkte Schillers und kann von Goethes Art nur die eine Hälfte begreifen. Schiller und Goethe passen allerdings im wesentlichen für ein vollständiges Decken der Begriffe Ideal und Real, aber dennoch muß man das Zuspitzen und Aufgipfeln unserer ganzen Literatur in die Pyramide »Schiller und Goethe« nicht nur eine Ungerechtigkeit gegen so viel anderweitig Würdiges und Bedeutendes, sondern auch ein gefahrvolles Prinzip für die Beurteilung der Gegenwart nennen.
Man hat in diesen beiden Heroen alles finden wollen; man hat schon angefangen, Lessing, Herder, Wieland ihnen nur in der Art beizuordnen, daß sie allenfalls in ihrem Schatten Platz haben. Die Erläuterungen über Schiller und Goethe nehmen kein Ende. Vom Standpunkt des wirklich Geleisteten mag diese Huldigung begründet sein; bedenklich wird sie für das lebenschaffende, befruchtende, fortzeugende Prinzip der Literatur.
Um aus dem Bann des Begriffs »Schiller und Goethe« herauszukommen, hat man angefangen, andere Namen höher zu heben, als sie bisher standen, z. B. Heinrich von Kleist; eine Neuerung jedoch, die wir bei aller Achtung vor diesem Dichter nicht unterschreiben können.
Glücklicher war es, als man (vorzugsweise nach Gottschalls Literaturgeschichte) mit gleicher Berechtigung des tonangebenden Wertes neben Schiller und Goethe Jean Paul stellte.
Dieser Ausweg läßt sich nicht rechtfertigen durch die Leistungen Jean Pauls, denn sie sind vergessen bis auf einige Bruchstücke, die in den »Mustersammlungen« mitgeteilt werden; aber in Jean Pauls dichterischem Wesen liegt etwas, das sich als vollkommen gleichberechtigt neben Goethe und Schiller stellen darf. Es ist dies eine Eigentümlichkeit, die sogar nachhaltiger und bedeutsamer wirkend geworden ist als die Nachzeugung des Goethe-Schillerschen Geistes. Wir meinen damit nicht allein den Humor an sich, sondern die ganze freie Subjektivität, das dichterische Ich, im Gegensatz zur Gebundenheit dieses Ichs durch die Dichtgattungen...
Jean Paul ist nun aber in der Tat in gewissem Sinne mehr als Schiller und Goethe der Vater der ganzen neuern Literatur von Bedeutung geworden. Er ist es nicht deshalb, weil sein Humor sofort ansteckte und eine neue Form der Dichtweise aufbrachte, die im wesentlichen die Romantiker angenommen haben, sie nur von ihrer Überladung befreiend, sie sozusagen goethisierend; noch weniger durch seine gestaltungslosen Romane – er ist es geworden z. B. durch seinen durchgängigen Gebrauch der Prosa, einer Dichtform, deren unwiderleglich dennoch poetische Wirkung die Notwendigkeit des Verses für den Begriff des Dichters bei uns ein für allemal ausgeschlossen hat; er ist es geworden durch das in seinem Dichten und Schaffen festgehaltene, nicht in die überlieferten Dichtungsformen untergetauchte, nicht von ihnen absolut verbrauchte Ich. Nenne man dies Jean Paul'sche Prinzip Humor oder Ironie, nenne man es Geist oder Esprit, nenne man es Witz oder Phantasie – Goethe und Schiller stehen vereinsamt, wenn man sich vergegenwärtigt, was um sie her sich seit ihrer Blütezeit in Deutschland an Schönheit und Eigentümlichkeit entwickelte. Tieck ist z. B. der geläuterte und geschmackvoller wiedergegebene Jean Paul, sowohl der Jean Paul der Erfindung wie der Jean Paul der Selbstironie und der Ansicht des bürgerlichen Lebens. Bei E. T. A. Hoffmann kann man sich nicht lange aufhalten wollen; aber die ganze Periode unserer spätem Lyrik, von Platen an bis Lenau, ist das subjektive, träumerische, gestaltungslose Ich und mit Schiller gar nicht, mit Goethe nur im »Faust« und im Liede verwandt. Immermann ist der potenzierte und kräftigere Tieck. Heine und Börne bekennen sich ausdrücklich zu Jean Paul. Und der Reiz dieser Individualitätspoesie entfaltete sich immer mehr; er wurde zur Poesie der Arabeske, des Beiwerks, jener sinnigen Beobachtung, die dem träumerischen, die Dinge am Sonnenstrahl widerglänzenlassenden Ich entspricht; er wurde so zur Poesie des Details, des notwendigen Details, und führte zum Idyll. Unsere Dorfgeschichten, einige unserer neuern Theaterstücke sind Eingebungen jenes sich im Detail vertiefenden All-Blicks, der am einzelnen verweilt und im subjektiven Behagen die schöpferische Kraft mit ihrem Stoffe heiter und frei spielen läßt. Diese Macht des Ich kann sich in der Behandlung ihrer Stoffe zum abgeschlossenen Kunstwerk erheben. Der richtige Weg, die Literatur der Deutschen fortzuführen, bleibt es gewiß. Alle unsere neuern Arbeiten von Bedeutung auf dem Gebiet der Novelle und des Dramas haben mit »Schiller und Goethe« wenig gemein.
Als Goethe und Schiller zu schaffen anfingen, gab es einen Begriff, den man wohl hier und da als das Kennzeichen des Nichtpoeten hinstellt und der doch damals, als »Fiesco« und »Clavigo« geschaffen wurden, mit dem dichterischen Genie völlig gleichbedeutend war, den »witzigen Kopf«. Das sind die Dichter noch bei Gottsched, Geliert, Bodmer, Haller, Lessing. »Originalgenies«, »ingeniöse Köpfe« kamen nach ihnen auf und erst später kamen mit den Romantikern die »Titanen«, die »Propheten«, die »träumerischen Menschenkinder«, die »Offenbarungen Gottes« usw. Wir möchten wohl, daß die Dichter wieder »witzige Köpfe« »ingeniöse Köpfe« und »Originalgenies« würden. Diese Bezeichnung schließt die Möglichkeit, ein Dichterleben später im großen und ganzen wieder einen »Tempel« und dergl. zu nennen, wie bei den rhetorischen Dekorationen des Schillerfestes geschehen, gar nicht aus – Schillers »Geisterseher« könnte sich mit seinem vexierend spielenden Inhalt aus Voltaires und Diderots Schule alle Tage in einem französischen Feuilleton sehen lassen.
Doch nicht bloß das freie Ich und der »ingeniöse«, »witzige Kopf« möge der Literaturgeschichte erhalten bleiben als Drittes neben der »klassischen Harmonie« Schillers und Goethes, sondern die resolute Freiheit des Dichtens, Denkens und Empfindens überhaupt in ihrem ganzen Umfange. Es hat gewiß sein Herrliches, wenn man das Doppelstandbild in Weimar von allen Seiten betrachtet und andachtsvoll von diesen beiden großen Genien, von ihren Wirkungen und von der Welt spricht, die sie in sich bargen, und von ihrer weihevollen Weise, diese Welt zu beherrschen und zu verkündigen; heilige Worte sind: Adel der Anschauungen, sittliche Vertiefung, Kultus des Schönen, klassische Vollendung. Wollte man aber sofort jeden jetzt noch Schaffenden nach diesen Maßstäben beurteilen, wollten wir seinem ersten Worte, das uns von der Leier entgegenrauscht, gleich aufhorchen und dann erwarten, daß sofort auch bei ihm und über ihn diese majestätischen Tubaklänge ertönen, so würde sich die Literatur bald in Sonntagsnachmittagsgottesdienst verwandeln; selbst die stolzeste, auf den Schiller- und Goethe-Kultus gegründete Akademie mit dem glänzendsten Marmorgetäfel der »Formen« würde etwas ödes, Kaltes und Langweiliges haben.
Eine kritisch-pragmatische deutsche Literaturgeschichte mit scharfer Hervorhebung Leipzigs, Berlins, Hamburgs, Braunschweigs, Frankfurts am Main, Straßburgs, Zürichs, Pempelforts, Münchens, Jenas und – mit bedeutender Einschränkung – Weimars wäre eine Arbeit von großem Verdienst.