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Entweder ist der Roman in Deutschland mit seinen eigentümlichen Motiven immer zu früh oder immer zu spät gekommen. Am seltensten war er die Initiative, am häufigsten der Absud unsrer Kulturgärungen. In dem ersten Falle sind jene philosophischen Romane, welche aus speziellen Interessen hervorgingen, wo sich zwei Herzen verliebten, um eine Kategorie der Kantischen Philosophie zu beweisen, oder jene humanistischen, eklektischen Romane, wie Hallers Usong oder Meyerns Dya-Na-Sore zu ganz verschiedenen Zeiten, oder endlich eine Gattung, welche tiefer griff, jene Romane Goethes mit ihrer didaktischen Tendenz, ihren bildungsuchenden Kaufmannssöhnen (Wilhelm Meister war ein Frankfurter Weinreisender, der sich kultivieren wollte), mit ihren Tagebuchschriftstellerinnen und einseitiges Kopfweh habenden Ottilien, und um diese Gattung herum die phrygisch-wollüstigen und künstlerisch-raffinierten Romane Heinses und Friedrich Schlegels. Hier ist Tonangabe, primäre Absicht, hier ist der Roman die Blendlaterne des Ideenschmuggels. Die zweite Gattung ist der Roman, welcher die Kulturkeime von fremdher empfängt und sie nun zeitigt ins Ungeheure hinaus, in üppig-wuchernde, das Saatkorn fast verleugnende Erfindungen durch Kalkül und Raffinement; der vorzugsweis epische Roman, der die guten fremden Ideen breitschlägt, aus der Manie eines Genies sogleich Manier macht, der Vermittelungsroman, der in der Leihbibliothek am schnellsten schmutzig wird, der aus Götzen von Berlichingen einen Haspar a Spada für die Masse, aus Werther einen Siegwart für die Nähterin, aus dem Geisterseher einen Hechelkrämer für die Spinnstube machte. Dieser triviale Roman hat in Deutschland immer das meiste Glück gemacht; denn er schuf das Neue ins Bequeme und das Geniale ins Genießbare um. So war es im goldnen Zeitalter, so im silbernen, so im kupfernen und eisernen; wird es auch in unserm so sein, im quecksilbernen Zeitalter?
Wir müssen einige Worte sagen von Hoffmann, Clauren, Vandervelde und Spindler. Hoffmann stand schon auf der Stufe von der Initiative zum Absud. Er vermittelte sich selbst an die Masse. Er übersetzte das selbst in die Sprache der Menschen, was er in der Sprache der Götter gefunden hatte. Hoffmann fing an, sich selbst breit zu treten, als er anfing, sich selbst nachzuahmen. Er nahm keine Kommissionäre an, welche mit seinem Genie einen Detailhandel hätten treiben können, sondern er verkaufte selbst en gros und nach der Elle. Hoffmann hatte deshalb ein großes Publikum; aber er verlor es auch desto früher; denn dem Ungebildeten war einiges an ihm doch zu gebildet, und dem Gebildeten zuletzt doch das meiste zu ungebildet. Clauren war auch eine Initiative; nur war zufällig das, was er erfand, eben der Absud selbst. Clauren war ein Genie der Gemeinheit: man kann sagen, daß er in seiner Sphäre klassisch war. Clauren konnte, was Klopstock von seiner Idee, von der Unsterblichkeit, sprach, ebensogut von der seinigen sagen: »Gemeinheit ist ein großer Gedanke, und des Schweißes der Edlen wert!« Er hatte doch etwas erfunden, er war ganz neu darin, und es ist nur Schicksalsbeschluß gewesen, daß eines und das andre, Ziel und Mittel, das Originelle und das Triviale, das Schöpferische und das Nichtswürdige bei ihm zusammenfiel. Bei Clauren hörte der Roman auf, aus dem Bereiche der Ideen zu schöpfen. Die Spätem sind nur formell, die Hülle ist das Wesentliche, sie vermitteln nichts mehr, als eine Intrige, welche spannend durch drei Bände hindurchzuführen den Künstler verraten soll: wenn sie nur interessant sind! Der historische Roman hat alles erlaubt; denn es kommt nur darauf an, ein Stück harter Geschichte zu zermalmen, und gleichgültig bleibt es, ob dies durch Tränen à la Lafontaine oder durch Scheidewasser aus den Ritterromanen (was ist ein Ritterroman ohne Scheidewasser! und doch wurde dies ätzende Gift erst im vorigen Jahrhundert entdeckt!) oder durch Phantasterei à la Hoffmann oder endlich durch Jean-Paulsche Formlosigkeit geschieht. Es ist in dieser Hinsicht eine höchst vollkommene Unvollkommenheit, ein Eklektizismus eingerissen, der alles erlaubt. Kann man Walter Scott eine geniale Initiative nennen, so haben ihn Vandervelde und Spindler hinreichend verpflanzt, um nicht zu sagen breitgetreten. Spindler ist übrigens nahe daran, schon wieder vergessen zu werden. Er füllt nur eben das Bedürfnis aus. Undankbare Zeit!
Die Aspekte für den deutschen Roman konstellieren sich jetzt anders. Seit einigen Jahren haben sich einige mehr oder minder vorzügliche Romane herausgegeben, welche von den Herren Koenig, Rehfues, Steffens, Tieck, Rellstab und W. Alexis herrühren. Ich weiß, daß mehr oder minder poetische Kraft, innere und äußere Kraft, Kraft im Einzelnen, in diesen Schöpfungen hervorgehoben zu werden verdient; doch kann ich nicht umhin, dies Eigentümliche derselben vorzugsweise in dem Ausdruck: Bildung und Reife zu finden. Himmel, darauf kommt sehr viel an! Wir sehen fertige, vollkommene Menschen, welche ihres Gegenstandes Meister sind, ihn mit plastischer Ruhe beherrschen und so viel Phantasie besitzen, daß sie auf die Wirkung ihrer Arbeiten spekulieren können. Hier ist zwar keine Idee mehr, auch keine Poesie, was man eigentlich Poesie nennt, Poesie mit dem Anlaufe eines Titanen, elastische Poesie; aber Interesse und Unterhaltung und gute Gesellschaft. Die Werke dieser Herren kann die Keuschheit in die Hand nehmen, und der Gelehrte und Gebildete, der Überdruß empfindet an der bisherigen nur auf Kinder und Pöbel berechneten Romanliteratur, läßt sich wieder mit einer Gattung versöhnen, welche die verrufenste in der Literatur war. Dieses hier muß vornehmlich geschätzt werden, und ich werde immer erst den Hut abnehmen, wenn ich jenen Herren in diesen Blättern etwas im Vertrauen zu sagen habe.
Das Echte und Klassische bleibt freilich immer die Idee. Die Idee muß den Roman regieren; aber man frage mich nicht, welche? Nur dies eine Merkmal kann ich angeben, daß sie etwas Ähnlichkeit mit einer Leidenschaft haben muß; auch hab' ich nichts dagegen, wenn man deutlicher sagen will: die Leidenschaft muß den Roman regieren...
Im Vordergrund der neuen Literaturgeschichte steht der Roman. Dieser mußte Epos, Drama und Lyrik in sich vereinigen; etwas wirklich oder doch wahrscheinlich Geschehenes mußte ihm zum Grunde liegen; nicht so viel, daß man das täglich uns Umgebende wieder gesehen hätte, wohl aber, daß man daran erinnert wird und Ähnliches mit Ähnlichem vergleichen kann. Im Roman hauptsächlich sprechen sich alle Anforderungen aus, welche die Menschen heut an die Poesie machen. Es muß sich zunächst um ein Reelles handeln, das keine bloße Luftspiegelung ist oder doch keine sogleich zu sein scheint. Die Liebe muß das lyrische Element bilden, Ehrgeiz, Schicksal oder sonst eine gewaltige Leidenschaft das dramatische. Um das ganze herum sieht man gern die Arabesken einer zeitgemäßen Beziehung hereinranken; man verlangt reflektive Basreliefs, ja wohl eine tendenziöse Idee als Postament des Ganzen. Wie in alten Zeiten das Drama alle Gattungen der Poesie in sich vereinigte, so soll jetzt der Roman von dem Wesen aller derselben einen Anklang geben, so daß die Poesie des Reimes jetzt weit weniger gepflegt und beliebt ist, als die in prosaischer Form auftretende, wo das Dichterische in dem schönen Ineinanderspiel von Kunst und Leben liegen muß. Die meisten poetischen Talente absorbiert der Roman und die allgemein zugestandene Erfahrung, daß zu einem guten Gedichte weit weniger Talent gehört, als zu einem guten Romane, hat auch gemacht, daß man den Letztern mehr als das Erstere für den Prüfstein des Genies hält. Daß ein Romandichter kein gutes lyrisches Gedicht machen kann, wird ihm weit weniger nachgetragen, als wenn ein Lyriker gestände, daß er es nicht verstehe, einen wohlgefugten Roman zu schreiben. Leider ist nur der Roman sehr der Verfälschung ausgesetzt. Wie oft ist seine Erfindung spannend und hält doch nicht die poetische Nagelprobe aus? Und wie mancher durch und durch poetische Roman verfehlt es in der Fabel und den spannenden Situationen!
Man muß dreierlei Gattungen der gegenwärtigen Romandichtung unterscheiden. Der historische Roman hing innerlichst mit einer Zeit zusammen, wo eben erst ein großes Kriegstheater eingepackt und große historische Katastrophe zur Abrundung reif war. Die Geschichte war das Weltgericht, im Doppelsinne das tägliche Brot, welches auf den Tisch der Literatur kam. Wie es Köche gibt, die alles mit einem Kraute würzen, so mußte auch bei allem, was die Poesie aussetzte, damals Historie zugemischt sein. Die großen Ereignisse mußten mit kleinen Landstraßenvorfällen Hand in Hand gehen. Von den Helden der Jahrhunderte mußten selbst die ihnen zugehörigen Stallknechte auftreten. Die Geschichte wurde bei jedem verliebten Paare zum Zeugen der Hochzeit, bei jeder Kindtaufe zu Gevatter geladen. Frauen, Hexen, Juden und eine Unzahl von Nebenpersonen mußten zwischen Richard Löwenherz und sein Glück treten. Die Schicksale des unbedeutendsten Menschen interessierten uns, wenn er nur Stallmeister beim schwarzen Prinzen oder Falkonier bei Karl dem Kühnen gewesen war. Die Neigung für diese Gattung des Romanes hörte glücklicherweise da auf, als man fürchten mußte, die Romantiker würden nun, da das Mittelalter und die neue Zeit bald erschöpft waren, sich in die Geschichte Babyloniens und Assyriens vertiefen und uns die Geschichte eines Edelfräuleins der Semiramis oder eines Adjutanten in der Armee des Sesostris in mehreren Bänden vor Augen führen. – Die zweite Gattung des Romanes, das Charakterbild, entwickelte sich wohl zunächst nicht aus dem psychologisch-komischen Roman des vorigen Jahrhunderts, sondern war nur eine Ausbildung der plötzlich einreißenden Sucht für das poetische Genrebild. Von dem historischen Roman, der in der Vergangenheit lebte, stürzte man plötzlich auf die nächste Gegenwart und zeichnete nach der Art englischer Ladies alles ab, was man nur im Fluge von der Gegenwart mitnehmen konnte. Die Genremaler zeichneten uns die höhere Gesellschaft und die niedere, die Salons und die Straßen, die Spielhäuser und die Winkelkneipen. Der Fashionable, der Dandy, der Kurzatmige, der Schwerwampige, der Dünne, der Dicke; dies waren die Charaktere oder vielmehr Karikaturen, die mit kurzen Strichen an die Wand gemalt wurden. Kutscher und Bedienten, Straßenkehrer und Savoyarden, Grisetten und Blumenmädchen, Schauspielerinnen und Kritiker, ja die Pariser Hunde wurden von der Genreliteratur der Restaurationsperiode gezeichnet.
Diese Portraitierungen nun untereinander zu verbinden und zu Gruppen zu spinnen, da war leicht der Sprung getan. Das Leben eines Stutzers gab einen Roman. Es kamen Memoiren eines Ennuierten, eines Desennuierten und wie dies Zeug weiter durch auffallende Titel angepriesen wurde. Am glücklichsten war in diesem Fache der schon halb wieder vergessene Bulwer. Ihn haben die Matrosen, die auf Halbsold stehenden Hauptleute, die Pensionäre der ostindischen Kompanie verdrängt. Das schreibt und beutet plötzlich Sonnenschein und Ungewitter aus, Sturm und Regen, Berg und Tal und tritt mit unleugbarem Talente allmählich die höchsten Berge platt. Seitdem die englischen Manufakturen weniger zu tun haben, seitdem wollene und baumwollene Waren sich in den Magazinen aufstapeln, arbeiteten die literarischen Maschinen Englands vom Kohlendampf getrieben, und überschwemmten mit den mittelmäßigen Produkten den Kontinent. Nach Boz, der sich im genrebildartigen Roman zu einer sehr bedeutenden Höhe aufgeschwungen hatte, scheint sich der englische Roman erschöpft zu haben. – Endlich ist hier der spekulative Roman zu nennen. Dieser ist ein Produkt Frankreichs und Deutschlands und faßt in sich alle Radien der Sonne der heutigen Poesie zusammen. Wenn man die unterscheidenden Merkmale der modernen Poesie finden will, so muß man sie hier suchen. Auf diesem Bereich wird nicht nur das Schicksal der modernen Poesie ausgefochten, die Tendenz, wohin sie sich zuletzt neigen wird, sondern auch manche entscheidende Frage des Zeitalters selbst in Anregung gebracht, insofern der Roman ein Hilfsmittel ist, die Ideen an die Masse zu bringen. Gerade dieser letztere Umstand, verbunden mit unleugbaren Übertreibungen in dem neuen spekulativen Romane hat Besorgliche, die es mit der Menschheit aufrichtig meinen, gegen diesen Roman in Harnisch gebracht. Allein, so gefährlich es sein mag, in einem mit blendenden und anlockenden Farben entworfenen Gemälde der Masse jene Anarchie der Begriffe und jene Kühnheit und Skeptizismus, der sich über das Einfachste in der Tradition Rechenschaft geben will, zu offenbaren, so sollte man doch bedenken, daß zugleich in diesem selben Romane ein Mittel enthalten ist, die unleugbar in der Irre gehende gesellschaftliche Religion, wie man wohl die Sphäre bezeichnen möchte, in welcher sich jener Roman in seiner jetzigen Gestaltung so unheimlich fühlt, mit der Zeit zu befestigen und eben so schnell den wieder gewonnenen Glauben zu verkünden, wie bis jetzt noch bloß der Zweifel mit ihm verkündet worden ist. Man bestreitet doch nicht dem Roman das Recht, so ernste Fragen, wie Staat, Religion und Sitte in sein Bereich zu ziehen? Denn allerdings abgesehen davon, daß für den Moment noch in diesem Rechte eine unselige Wirkung liegen könnte, so würde derjenige doch unsere Zeit schlecht verstehen, der glaubte, der Bodensatz jener Gärung wäre nur die Negation und nicht vielmehr die Sehnsucht nach einer Wahrheit, die dem ernstlich Suchenden sich nicht verhüllen wird. Der Schaden, den der spekulative Roman in seiner Gärung anrichtete, wird durch die edelsten Reichtümer ersetzt, wenn sich die Gärung erst beruhigt und den Zweifel überwunden haben wird. Daß ein solches Resultat, wenn auch in ganz anderer Gestalt, als man gegenwärtig ahnen kann, vor den Toren steht, wer möchte es bestreiten und wer möchte dann nicht wünschen, daß derselbe Bote, der früher die Hiobspost einer Verzweiflung an der Theodizee brachte, dann auch wieder die frohe Botschaft, das Evangelium des Friedens und einer versöhnten Hingebung bringe? Also bestreite man die Form nicht!
Wir haben schon öfters von der Inhaltlosigkeit unserer neuen deutschen Literatur gesprochen und damit bezeichnen wollen, daß wir zwar in der Form überall eine fast schon der allgemeinen Bildung angehörenden Gewandtheit in Prosa und im Verse wahrnehmen können, in den Gegenständen aber, die die Dichter behandeln, Armut erblicken. Wir verstehen unter Reichtum hier nicht bloß Erfindung in dem gewöhnlichen Sinne, wie sie bei einem langweiligen Werke vermißt wird, sondern auch in dem höhern Sinne einer idealistischen, weltgehobenen, zeitdurchdrungenen Absicht der Art, wie Lessing, Goethe, Jean Paul, Tieck und andere unserer epochemachenden Geister nach einem großen Plane, den sie für ihr ganzes Leben entworfen zu haben scheinen, produzierten.
Diese Erscheinung kann insofern nicht Wunder nehmen, als die Entwicklung einer starken Subjektivität jetzt an die größten Schwierigkeiten gebunden ist. Der naive Aufblick bescheidener Massen zu einer seltenen und eigentümlichen Individualität hat aufgehört; der Kampf des Einzelnen gegen die Zeit, die Mode, die Überlieferung, gegen Gewaltiges und Mächtiges, das von der bestehenden Ordnung gestützt und gesichert wird, hebt sich nicht mehr mit der Schärfe von einem unbedeutenden Hintergrunde ab, wie in alten Tagen, wo die Kreise der Bildung weniger groß, die Bande des Staats und der Gesellschaft weniger straff angezogen waren. In unserer Zeit mit einem Glauben, mit einer Meinung allein zu stehen, erfordert ungleich mehr Anstrengung als sonst. Ist die Verfolgung nicht da, so ist die Karikatur da. Ein Zeitalter, das wie das unsrige für den Optimismus, d. h. die Auffassung der Dinge wie sie sind als der besten Weise, wie sie sein können, so viel geistreiche Formeln, so viel praktisch-vernünftige Beweggründe aufgefunden, hat das Märtyrertum seiner Glorien entkleidet. Wo noch eine einzelne Willens- oder Denkkraft sich ihre eigenen Wege sucht, verschwindet ihr Heroismus in dem allgemeinen geistigen Leben, dem moralischen Drängen, schöpferischen Ringen eines Jahrhunderts, vor dem als einem förmlichen Begriffe erhabenster Art uns zu beugen wir von früh an in unserer Bildung angeleitet werden. Das 19. Jahrhundert ist die verwöhnteste Schöne, der nur je Schmeicheleien ins Angesicht gesagt wurden.
Je mehr eine Zeit auf Nivellierung der Geister ausgeht, desto mehr wird die Gefahr entstehen, eine Literatur sich in Dilettantismus aufzulösen zu sehen. Es schreiben und dichten dann nicht nur bloß die, die zu schreiben und zu dichten gerade Zeit haben, sondern auch das, was geschrieben und gedichtet wird, kommt so ziemlich einer konventionellen, sich von selbst verstehenden Tagesordnung gleich; man haspelt eben die alten Pensa der Literatur ab, je nach Lust, Laune und Vermögen. Dies Gefühl der Leere haben wir unabweislich beim Anblick von Dramen, Romanen, von lyrischen Gedichten, von epischen, wie sie jetzt der Meßkatalog liefert, der Buchhandel verbreitet, befreundete Kritik oft unglaublich hoch anpreist. Es summiert sich aus einem solchen poetischen Gewerbe mit der Zeit auch manchem eine Stellung in der Literatur und mehr als eine solcher Stellungen könnte man anführen, die sehr achtbar und anerkennswert ist. Etwas Originelles aber, Eigentümliches, Neues tritt uns selten entgegen. Mancher überraschte durch eine einmalige bedeutendere Leistung; er hielt sie nicht fest. Schon seine zweite Schöpfung blieb hinter der ersten zurück.
Der Grund dieser Erscheinung liegt in dem Verhältnis der Dichter zu ihren Stoffen. Sie verfahren in der Auswahl zu sehr nach beliebigem Gefallen. Sie vertrauen zu sehr einer leichten, oberflächlichen Ausbildung ihres darstellenden Vermögens und greifen nun, wenn sie eines gewissen, wir möchten es nennen lyrischen Inhalts sich bewußt sind, blindlings hinaus in die Welt und suchen den glücklichen Fund. Dadurch gerät ihre Entwicklung entweder bald in ein Stocken bis zur Unfähigkeit oder sie verflachen sich auf alles und jedes. Woran liegt der Fehler? An der schwachen Entwicklung des innern Menschen, an dem zu großen Vertrauen auf ein zufälliges Formtalent, zuletzt an dem einseitigen Haschen nach »Poesie«, ewig nach »Poesie« und immer nur nach »Poesie«.
Die klassische, antike Zeit ist vorüber; niemand wird sie heraufbeschwören. Die romantische Periode ist verklungen; ihre moderne Nachahmung ist Modesache. Das dritte Stadium der Weltliteratur, das von Rousseau, Sterne, Lessing, Goethe beginnt, ist die moderne, soziale Poesie, deren Gegenstand der Mensch ist: der Mensch des Gemüts, der Sitte, der Geschichte. Es ist die Poesie des Gedankens...
Unsere klassische Literatur hat die vollsten Kränze, die sich noch von Spätlingen erwerben ließen, fast allen Dichtgattungen vorweggenommen. Nur im Roman ließ sie noch mannigfach Gelegenheit zurück, ihr gleichzukommen, wenn nicht sie zu übertreffen. Goethe ist allenfalls der einzige, der im Roman auch für spätere Zeiten in gewissem Betracht mustergültig geblieben ist; doch Schillers »Geisterseher« z. B. steht bekanntlich gegen den Wert seiner übrigen Schöpfungen sehr zurück. Die Romane von Klinger sind kalt, die von Wieland langweilig. Jacobis »Woldemar« ist durch seine Stimmung zwar noch jetzt beachtenswert, im übrigen aber schattenhaft und unreell. Jean Pauls Romane sind Gedichte, die man der Offenbarung eines großen und edeln Genius wegen zu allen Zeiten mit Bewunderung lesen wird, bei denen aber das, was an ihnen romanhaft, begebenheitlich und selbst in den Personen lebenswahr charakteristisch sein soll, schon längst nicht mehr fesselt. Romane geringerer Talente, z. B. Heinses, haben nur noch für den Literaturhistoriker Interesse.
Die spätere »romantische« Schule wußte sehr wohl, daß ihr, um ihr Talent zu bewähren, das ganze Gebiet des Romans offen stand. Sie hat auch die Erfolge, die ihr im Drama und selbst in der Lyrik versagt waren, vorzugsweise durch den Roman errungen. Tieck, Novalis, Brentano, Arnim, Kleist sind vorzugsweise Erzähler; noch dem sogenannten »letzten Romantiker« Eichendorff hat man im Roman eine eigentümliche Darstellungsweise und eine von ihm erschlossene aparte Welt nachgerühmt. Dennoch blieben auch die Romantiker nur noch im Vorhofe des Romans stehen. Sie waren sehr bedeutend in der Stimmung, dieser Probe einer poetischen Erfassung des Romans. Sie wußten den Reiz des Wunderbaren sehr fesselnd anzulegen und steigerten sich darin bis zu den gespenstischen Karikaturen E. T. A. Hoffmanns, aber die große Aufgabe, die gerade dem Roman, als der eigentlichen poetischen Form der Neuzeit, vorbehalten scheint, blieb immer noch ungelöst. Das Leben in seiner Fülle, die Charaktere in ihrer Wahrheit, die Situationen in ihrem fesselnden Reiz blieben noch als neue Stufen fernerer Entwicklung des Romans unbetreten.
Es ist die Aufgabe des Literarhistorikers, nachzuweisen, wie sich die Ausläufe und Fortsetzungen sämtlicher, aus der klassischen und romantischen Zeit angebahnter Dichtformen im Romane mündeten, wie sie eine bunte und das Studium lohnende Fülle von darstellenden Manieren und erzählenden Absichten ins Leben riefen. Da sind Goethianer, Tieckianer, selbst noch Jean-Paulianer aufzuführen. Mögen die von außen her durch Walter Scott, Cooper, Bulwer, George Sand, Balzac, Boz und Eugène Sue gekommenen Einflüsse auf die Entwicklung des neuen deutschen Romans noch so ersichtlich sein, die deutschen Poeten suchten die fremden Vorbilder doch immer nur mit ihrer eigenen Natur, ihrer eigenen Sympathie für diese oder jene hervorragende Erscheinung aus der klassischen oder romantischen Zeit zu verbinden. Erst die neueste Zeit scheint Romantalente von größerer Selbständigkeit hervorgebracht zu haben.
Die gute Gesellschaft, die Gesellschaft der Bildung und des Geschmacks, ließ sich lange Zeit nur von Romanen aus der Goethe-Tieck'schen Schule fesseln. So von den Romanen, die Steffens, Rehfues, Immermann, W. Alexis, Heinrich Koenig schrieben, Namen, denen sich einige jüngere, wie Posgaru, Julius Mosen und mancher andere, auch mancher zu rasch Verschollene, anschloß. Noch in neuester Zeit hat F. von Uechtritz nach dieser Richtung einer stillen Objektivität und möglichst klaren Widerspiegelung seiner erfaßten Welten hin ein umfangreiches Werk: »Albrecht Holm«, ediert.
An diese Richtung schlössen sich vorzugsweise Frauenromane an, diejenigen wenigstens aus dieser immer höher anschwellenden Flut, die nicht auf gewöhnliche Strickstrumpfunterhaltung berechnet sind. Die Schopenhauer, die Huber, die Hanke, die Tarnow variierten mehr oder weniger in jedem ihrer Werke das Thema der Goethe'schen Wahlverwandtschaften, die Liebe, die sich geirrt hat, die Ehe, die etwas anderes besitzt, als was sie besitzen möchte. Das Thema wurde später leidenschaftlicher und hitziger erörtert. Immer stärker erhoben sich die Anklagen gegen die vielen Veranlassungen, welche die moderne Welt darbietet, sich in der Liebe zu irren und vorzugsweise gegen die größte der bekannten Verirranstalten nicht bei dem Rechten oder bei der Rechten angekommen zu sein, gegen die Ehe. Die originellste Erscheinung auf diesem Gebiete blieb wohl die Gräfin Hahn-Hahn. Sie besaß dichterisch-lyrischen Fonds und Kenntnis der Welt genug, um das Thema der verfehlten Wahl nach allen Seiten hin zu variieren, bis sie, da ihr etwa Balzacs Witz und Humor nicht zu Gebote standen, mit dem herbstlichen Welken ihrer Gefühle auch dieser Lebensanschauungen überdrüssig wurde und vor dem Spiegel einer großen Selbstzufriedenheit die bekannte geistliche Toilette machte. Seit die Paalzow mit Innigkeit naive Herzensvorgänge drei Bände lang »aus Nacht zum Licht« zu führen begonnen, seit die Bremer die Kleinwelt der überlieferten Sitten und stabilen Ordnungen der Familie so anmutig detaillieren lehrte, hat sich diese Form des weiblichen Romans, die große, unverstandene Herzenssehnsucht, das verfehlte Geschick und das Suchen des Rechten eigentlich überlebt. Es ist auffallend, wie Fanny Lewald gegen die Gräfin Hahn-Hahn ihre bekannte Satire schreiben und doch mit ihrem eigenen neuen Romane: »Wandlungen«, in die ganze Sphäre der Hahn-Hahn'schen Art zurückfallen konnte.
Die große, sozusagen demokratische Strömung der Geister, die seit J. J. Rousseau durch die Literaturen Europas geht, ist Veranlassung geworden zu einer überraschenden Wendung des Romans, der in seiner Geschichte Epoche gemacht hat. Schon seit der klassischen Zeit geht neben unserer schriftgelehrten Poesie eine volkstümliche, die sich früher nur in Provinzdialekten ankündigte, doch aber auch schon hier und da einen hochdeutschen Ausdruck fand. Die Schweizer sind es vorzugsweise, die sich als Eroberer der Dialekte und der Volksstammarten für die Literatur der höhern Sphäre rühmen dürfen. Pestalozzi ließ seine Landsleute reden wie sie redeten, Ulrich Hegner brachte es aus verschiedenen zusammenströmenden dialektischen Elementen schon zu einer Kunstform. Hebels alemannische Lieder waren die fernere Stufe und hier und da fand sich in unsern schriftdeutschen Poeten oft schon so viel naive Erinnerung ihrer eigenen volkstümlichen Herkunft, ihres Studiums der Sitten und Redeweisen, namentlich vom Lande, daß man in einigen Novellen, z. B. von Clemens Brentano, schon jenes Genre fertig hat, das man später Dorfgeschichte nannte. Wie dann plötzlich Immermann den Mut besaß, sich all seiner, oft stark forcierten poetischen Bestrebungen zu entschlagen und westfälischen Sitten, die er auf dem alten Boden der Feme und der roten Erde als Jurist studiert hatte, Ausdruck in einem kernigen Bauer, dem Hofschulzen und seinem naiven Töchterlein, der blonden Lisbeth, zu geben, war die Knospe zum Zerspringen reif. Sie ging am vollsten in den Erinnerungen auf, die Berthold Auerbach plötzlich aus seinem heimischen Schwarzwalde sich vergegenwärtigte. Auerbach zauberte uns eine lange Reihe von wundernärrischen Alten, kernfesten Burschen, redseligen Frauen, neckisch-lieblichen, oft trotzköpfigen Mädchen, die sich erst als Genrebilder ankündigten, bald sich aber zu Gruppen gestalteten, die Gruppen wurden zu Begebenheiten und die Dorfgeschichte war die Mode des Tages. Jetzt regte sich's von allen Seiten. Das Elsaß, der Böhmerwald, die ungarische Pußta sogar, der Harz, Westfalen, überall her kamen Beiträge zur Erfrischung und Belebung der Herzen, zur Regelung einer blasierten, menschenscheu und europamüde gewordenen poetischen Idealität und zur Vermittlung eines Anteils an der Literatur, wo die gewählte Bildung mit dem einfachen Bürgersmann sich ganz an einer und derselben Quelle erquicken konnte, wie weiland in unsern klassischen Zeiten. Den Preis von allen, die sich dem hochgefeierten »Verfasser des Lorle«, wie man Auerbach in Schwaben nennt, anschlossen, verdient bekanntlich Jeremias Gotthelf.
Wir würden uns Einseitigkeit zuschulden kommen lassen, wenn wir die Dorfgeschichte als solche für etwas Ausschließliches nehmen wollten. Was richtig an der Dorfgeschichte ist, ist nur das, was auch Stadt-, Gesellschaft-, ja sogenannten Salongeschichten gleichen Wert geben könnte, nämlich Wahrheit, Treue, Glaubhaftigkeit. Nachbeterei und Parteimacherei pflegt in Deutschland sogleich das Kind mit dem Bade zu verschütten. Kaum ist irgendeine Neuerung bei uns aufgekommen, so finden sich immer Ertrages, die neben dieser Neuerung nichts anderes mehr dulden wollen. So trieb man fast zehn Jahre lang ein Splitterrichten mit den Worten: naturwüchsig, ursprünglich, unmittelbar u.s.w. Was sich nicht dorfgeschichtlich ankündigte, was nicht auf den Volksliederton gesetzt war, galt für gemacht oder wie die Kategorien derjenigen heißen mögen, die eben nichts machen können. Schrieb einer eine Novelle mit einer Gräfin als Heldin, so gehörte sie zur Salonpoesie. Hatte sie einen Herzenskonflikt zum Gegenstand, so hieß sie jungdeutsch. Indessen, ob die Tenne eines Dorfes, ob das Parkett der Gesellschaft, der Boden ist der Poesie ganz gleich, es kommt nur darauf an, ob die Dinge, die man auf ihm sich entwickeln, die Personen, die man auf ihm sich ergehen läßt, den Reiz der Neuheit und Wahrheit für sich haben...
Bei aller gereiftern Formvollendung, die man unserer neuern deutschen Poesie auf manchen Gebieten einräumen darf, hat man ihr doch den entschiedenen Vorwurf einer auffallenden Inhaltlosigkeit zu machen.
Ein Rückblick auf die vergangenen Zeiten beweist, was wir meinen. In der klassischen Periode sowohl wie in der romantischen war die schöne Literatur die Vermittlung eines für die Nation im großen und ganzen wichtigen Inhalts. Es wurden durch die großen Talente nicht nur neue Formen der Darstellung gewonnen, sondern auch Tatsachen zum lebendigsten Ausdruck gebracht; Tatsachen, die mit dem öffentlichen Geiste; seinem Gären, Entwickeln, Kämpfen und Sichbewähren im innigsten Zusammenhange standen. Man kann Namen wie Klopstock, Lessing, Herder, Goethe und Schiller nicht nennen, ohne nicht damit auch zugleich Kapitel der Kulturgeschichte zu bezeichnen. Noch die romantische Periode drückte in ihren Romanen, Dramen, lyrischen und epischen Gedichten einen innigen Zusammenhang mit dem allgemeinen Geiste der Zeit aus. Man wandte sich damals von französischem und antikem Geschmack zu einem germanisch-mittelalterlichen, man wandte sich vom deistischen Glauben zur Philosophie, ja zum Christentum selbst zurück; man huldigte auch in der Literatur der Geschichte und den Erinnerungen unseres Volks, die nach Bau-, Bild- und Schriftwerken gesammelt wurden. Mit dem Sturze der Fremdherrschaft begann aber schon 1815 jene Inhaltlosigkeit einer sich gleichsam nur selbst befruchtenden Literatur. Der starke, volle Ausdruck einer ringenden Gedankenwelt hörte auf dem reinpoetischen Gebiete auf. Die Talente wurden immer schwächer und ihre Leistungen für die Nation im großen und ganzen bedeutungsloser. Man nennt jene Leute einer auslaufenden größeren Periode und eines keineswegs neu wieder nachwachsenden Ersatzes die Restaurationsliteratur. Sie wurde von der Bewegungsliteratur, die in mannigfachen Erscheinungen mit dem Jahre 1830 anbrach, in ihrer innern und äußern Haltlosigkeit mit allen Waffen der Kritik und des Spottes bekämpft; ja man versuchte auch schon wieder, die Poesie zum Ausdruck der allgemein die Zeit bewegenden Ideen zu machen (Tendenzpoesie); indessen teils die mangelnde Unterstützung durch große Talente, teils die Kraft noch vorhandener älterer Literaturreste, teils die Verfolgung der Regierungen und die immer schwieriger sich gestaltende Lage des gedruckten Buchstabens, den öffentlichen Tatsachen gegenüber, hinderte, daß die Poesie wieder in jener alten Kraft und Stärke sich offenbarte, die sie einst zu einem notwendigen und nicht zu umgehenden Dolmetscher des allgemein Bindenden in der Zeit und der Bildung gemacht hatte. Die Folge dieser immer mehr zunehmenden, von kritischen, abgünstigen Organen noch geförderten Isolierung und Vereinzelung der neuen Literatur ist nun die, daß wir nachgerade zwar in formeller Hinsicht sehr viel Schönes auf allen Gebieten der poetischen Darstellung geleistet sehen, aber im ganzen genommen eine bis zur Armut gehende Inhaltlosigkeit unserer neuesten Poesie nicht verschweigen können.
Sehen wir uns nur um und fragen wir in allen Gebieten der Dichtkunst nach dem sozusagen auf ihnen verarbeiteten Stoffe. Es ist der willkürlichste und zufälligste. Was ist die Richtung unserer Zeit im Drama? Man würde in Verlegenheit kommen, wenn man für alle die hier und da auftauchenden Talente, die für die Bühne dichten, ein charakteristisches Merkmal angeben wollte. Im allgemeinen kann man sagen, die meisten dieser Poeten wollen eben nur Poeten sein. Das ist die Stereotype des Tages geworden. Ein ursprünglicher, naturwüchsiger Dichter, eine hohe Begabung, eine Urkraft u.s.w., das sind die Kennzeichen, die man in den Zeitungsberichten und Feuilletons zu verbrauchen pflegt, wenn es sich darum handelt, Werke von einer gewissen Bedeutsamkeit der Absicht, einer gewissen Frische und Wärme der Ausführung anzukündigen und im übrigen hinzufügen zu müssen, das Gegebene wäre eben doch nur der Anfang eines noch Kommenden, der Vorschmack eines noch zu Erwartenden. Im Roman erleben wir die erquickende, reizende Erscheinung der »Dorfgeschichte«. Man erwartete einen Umschwung der Literatur von ihr und es ist nur ein Genre zurückgeblieben; ja, es ist noch weniger zurückgeblieben, nur eine Mode, die nur noch bei den Meistern und ersten Tonangebern dieser Darstellungsweise und auch bei diesen nur bei wirklichem Verdienst der Erfindung gefällt, bei Nachahmern aber nicht mehr zu genießen ist. In unserer Lyrik hat jede nähere Bestimmung des Inhalts aufgehört, wenn man nicht den forcierten Ruf einiger Reimereien im Geschmack des »Westöstlichen Divan« für den Anklang eines neugefundenen reellen Inhalts nehmen will. Kurz, wir würden in Verlegenheit geraten, wenn wir von dem, was unsere gegenwärtige schöne Literatur in Deutschland ausdrücken will, bestimmte Kennzeichen angeben sollten.
Man kann die Schuld dieser, mit dem allgemeinen hochpoetischen Gebaren in so auffallendem Widerspruch stehenden Gedankenleere nicht auf das Publikum allein werfen, so sehr dies auch an ihr mit beteiligt ist. Die Furcht vor dem Gedanken ist nur Parteisache und zwar immer nur Sache der entgegengesetzten Partei; wo der rechte Gedanke der Partei getroffen wird, entzieht sie sich der Anerkennung keineswegs. Die konservative Partei hat sich mit großer Begeisterung auf alles geworfen, was der Inhalt ihrer eigenen Strebungen auch innerhalb der Poesie geworden ist. Da gibt es Soldatenlieder von Zedlitz, Schlachtenbilder von Scherenberg, absolut reaktionäre Harmlosigkeiten wie die Gedichte von Geibel, die Märchen von Putlitz; da gibt es ein gefeiertes und fast zum Ausdruck unserer ganzen weichlichen Epoche gewordenes Werk: »Amaranth.« Wie sieht es aber schon mit den Gegensätzen dieser Parteien aus? Rudolf Gottschall und Karl Beck haben leider ihre eigene Partei ästhetisch nicht so befriedigen können, um sie mit dem vollen, ganzen Mandate einer poetischen Anwaltschaft huldigend betrauen zu dürfen.
Spekulation, originelle Erfindung, mutiges Behaupten und Verkünden einer eigenen Welt- und Lebensanschauung ist in unserer Poesie jetzt sehr wenig vorhanden. Ein leider, wie wir hören, nicht befriedigend ausgefallenes Gedicht »Demiurgos« von W. Jordan steht ziemlich allein. Das Wählen dramatischer Stoffe z. B. ist nicht im mindesten neu und überraschend. Man greift nach einer Episode aus der Bibel, nach einer Mythe des Altertums, nach einer alten Sage, wie Agnes Bernauer u. dergl., stutzt diese Aufgaben mit an sich achtbarem Talent auf, ohne daß darum auch nur die leiseste Strömung der Zeit bedingt wird. Von eigener Erfindung ist auf diesem Gebiete selten noch die Rede. Man ahmt Shakespeare in der Aufstellung irgend einiger ungeheuerlicher Charaktere nach und sucht von seinem ursprünglichen, meist lyrischen Dichtergemüt in die Reproduktion der überlieferten und adoptierten Stoffe so viel Reiz und Haltung wie möglich zu bringen. Reicht aber das alles, so Achtbares dabei jeweilig zu Stande kommt, aus? Kann noch so viel vereinzelte Sinnigkeit mancher Idee und hier und da der Ausführung jene gewaltige Wirkung der Individualität ersetzen, die z. B. bei Schiller und Goethe uns immer erst die Dichterkraft selbst vergegenwärtigt und dann fast an zweiter Stelle erst das Thema, das sie gerade gewählt hatten? Wer als objektiver Dichter wirken will, muß erst eine Periode der starken Subjektivität gehabt haben, und einer jedenfalls bedeutendem Subjektivität, als die sich im lyrischen Gedichte allein zu erkennen geben kann.
Dem zur Dorfgeschichte verklärten Genrebild verdanken wir eine große Umwälzung unserer zu abstrakt gewordenen Poesie. Aber das fortwährende Anlehnen an das Gegebene, das im Gefolge der Dorfgeschichte eintreten mußte, kann die Gefahr bringen, die Poesie auch an das Gegebene so zu binden, daß ihr die Idealität verlorengeht und sie statt Erfindung nur noch Verknüpfung bringt.
Eine Literatur bekommt nur erst dann Inhalt, wenn die Dichter die Werke, die sie liefern, als notwendige Fortsetzung ihrer Entwicklung geben und wenn sie die Stoffe nicht aufzugreifen scheinen, um an ihrer Wirkung eben nur ihr Talent zu zeigen, sondern um mit ihnen etwas zu beweisen, was ganz außerhalb des gewählten Stoffs an sich eine Notwendigkeit entweder für die Welt oder wenigstens für sie und ihre eigene Individualität ist. Solcher Autoren, mit denen, wenn sie heute stürben, der ganzen Nation, wenn auch nur auf einen Augenblick, eine Ader ihres eigenen Lebens zu stocken scheinen würde, haben wir sehr wenige.
Es ist keine angenehme Pflicht, selbst Schriftsteller sein und über die Leistungen anderer Schriftsteller öffentlich seine Abneigung auszusprechen.
Gern entziehen wir uns dieser Notwendigkeit, wo sich eine Schrift umgehen läßt oder wo vorauszusehen ist, daß der zur Steuer der Wahrheit notwendige Tadel von anderer Seite wird ausgesprochen werden.
Ist aber eine Schrift von Interesse, wird sie mit Beflissenheit empfohlen, bringt sie irgendein Prinzip in Gefahr, für dessen Wahrung es bei unserer kritischen Zerfahrenheit an den entsprechenden Organen fehlt, so ist es Pflicht, seine Zaghaftigkeit zu überwinden und, immerhin des Balkens im eigenen Auge nicht achtend, getrost die Splitter zu richten im Auge des andern.
Einen, offen gestanden, wahrhaft betrübenden Eindruck machten uns »Thüringer Naturen. Charakter- und Sittenbilder in Erzählungen von Otto Ludwig« (erster Band, Frankfurt am Main, Meidinger Sohn & Comp., 1857).
Wie ist es möglich, daß ein Schriftsteller von Geist und Darstellungstalent sich so verirren kann wie in diesem Buche! Fehlt es dem Verfasser an Geschmack oder an bescheidener Selbstprüfung? Dürfen ihn die Auszeichnungen, die ihm für sein Talent in reichem Maße geworden sind, ermuntern zu solcher Vernachlässigung oder zu einem so grundirrtümlichen Sichgehenlassen innerhalb einer Sphäre, die nachgerade dem gesunden Menschenverstände viel zumutet, der Dorfgeschichte?
Auf einem Raume von 400 Seiten erzählt uns der Verfasser folgenden Vorgang:
Ein thüringisches Mädchen, das abwechselnd im Felde arbeitet oder mit dem Schiebkarren sein Brot verdient und seiner unverwüstlichen Heiterkeit wegen Heiterethei genannt wird, ist der Gegenstand einer besondern Neigung des Büttnermeisters Fritz Holder. Beide ziehen sich an, beide stoßen sich aber auch wieder ab. Durch alter Gevatterinnen Gerede glaubt »die Heiterethei«, der Fritz laure ihr, weil sie sich ihm ablehnend erweist, mit dem Beile auf. Sie rennt ihn eines Abends in einen Mühlbach und glaubt ihn ertrunken. Fritzens Beil hatte aber nur die friedlichste Absicht gehabt, Weidenruten zu hauen. Fritz rettet sich, erfährt das Mißverständnis, vergibt der Heiterethei und nach langem Suchen und Finden heiraten sie sich.
Daß man aus einem Vorfall dieser Art eine kleine Familienkalendergeschichte machen kann, die auf einigen Bogen der Lesewelt unterhält, mag keinem Zweifel unterliegen. Ja, bei tieferm Einbilde und gerechtem Eingehen auf die Ideengänge des Verfassers selbst wird sich nicht leugnen lassen, daß in dem Mißverständnis der Liebenden und der voreiligen Tat eines Mädchens einer jener poetischen Momente gegeben ist, aus welchem sich ein ahnungsvolles und das menschliche Gemüt erschütterndes Nachtbild hätte entwerfen lassen. Clemens Brentano würde das mit allerlei Zauber verstanden haben. Er würde mit drei bis vier Szenen uns den dämonischen Konflikt wie mit Kohlenrunen kurz und bündig an die Wand gemalt haben. Denn eben das Schöne am Schauerlich-Poetischen ist die geweckte Ahnung. Wer dichtete sich nicht zu Brentanos »Schönem Annerl« noch eine weite, weite Welt der Schmerzen und die Ahnung alles Erdenwehs tief ergriffen mit hinzu?
Wie anders aber machen es unsere gegenwärtigen Volkston-Erzähler!
Sie nehmen Vorgänge dieser Art mit einer Breite, mit einem Behagen an tausend Äußerlichkeiten, mit einer Umständlichkeit, die den gesunden und natürlich empfindenden Leser zur Verzweiflung bringen kann. Eine solche Redseligkeit, eine solche Reproduktion der Fliege an der Wand ist noch nie in unserer Literatur dagewesen, und sollen wir aufrichtig sein, so ist sie kein Beweis des Reichtums, sondern ein Beweis der Armut.
Dreißig Seiten verwendet der Verfasser darauf, zu schildern, wie man den Schubkarren seiner Heldin bei einem schlechten Wetter aus dem Kot bringt! Zehn Seiten dienen zur Ausmalung des Moments, daß der Holders-Fritz mit dem Fuß sich gegen den Karren stemmt und von Heiterethei dafür mit einer langen Rede angelassen wird! Auf fernern zwanzig Seiten wird erörtert, ob einer den Holders-Fritz da oder dort gesehen hätte! Einem vor den reichern Dorffrauen zu machenden Knix der Heiterethei werden mehrere Seiten gewidmet, ebenso viel einer Erörterung über das Kaffeesieden. Endlos ist die Schilderung des Entschlusses beim Holder-Fritz, ob er sein bisheriges wüstes Leben nicht einstellen solle. Wir können die Breite aller einzelnen Momente, die dem obigen Stoffe »abgewonnen« sind, nicht ausführlicher angeben, ohne in Gefahr zu kommen, mit der Schilderung derselben selbst zu langweilen.
Weit entfernt sind wir, zu verkennen, daß in dem Gemüt des Erzählers alle diese Vorgänge mit Wärme empfunden sind. Das Mißverständnis ist nur dies, daß er für sein eigenes Behagen auch ein Behagen im Leser voraussetzt. Wenn diese Reproduktion seiner Jugendanschauungen dem Autor gestattet ist, so wird jeder ein Autor, der – gerade Zeit dazu hat. Diese Erinnerungen wiederholen sich bei jeder nur einigermaßen gebildeten organisierten Natur. Von Kunst, Komposition, Unterscheidung des Notwendigen vom Zufälligen ist hier nicht mehr die Rede. Die Erinnerung kriecht langsam über das Gegebene hinweg und grast es ab Halm für Halm, Fäserchen für Fäserchen. Daß dabei ein einzelner Moment auftaucht, der uns besonders anspricht, daß wir lächeln, wenn etwas getroffen ist, was auch wir aus eigener Anschauung sehr wohl noch von einer Tatsächlichkeit der Sitte oder der Redeweise im Volke her behalten haben, kann nicht im mindesten den Ausschlag geben, die ganze Art zu entschuldigen. Sie ist dürftig. Sie gibt bei allem Anschein der Fülle den Eindruck des Mangels, bei allem Anschein der Vertiefung den Eindruck des Flachen.
Woher kommen uns diese Wunderlichkeiten?
Von einer falschen Theorie, die durch einige sehr fragliche praktische Beispiele unterstützt wird.
Man hat die Abstraktionen, die sich kurz fassende Welt der Bildung als Gegenstände der Poesie verfemt. Man hat die Lebensbezüge der Intelligenz als die Welt des »Salons« in Verruf gebracht. Man hat von den frischen, kristallreinen, allein poetisch seinsollenden Quellen des Volkslebens gesprochen.
Dieser Ruhm ist an sich wohlverdient. Aber die Ausdehnung, die man ihm in neuerer Zeit gegeben, kann keine Kunstkritik mehr gelten lassen. Wo ist gesagt, daß man so unser Volk und die tiefverzweigte Trivialität der Alltäglichkeit mit poetischen Flittern umgeben soll, um dichterischer Wirkungen gewiß zu sein? Nannte Goethe schon die Muse Uhlands um einer gewissen konventionellen Beschränktheit willen einen »sittlich-ästhetischen Bettlermantel«, welche Lumpen und Lappen würden ihm erst diese Dorfgeschichten erscheinen, die die besten und schönsten Farben, die nur auf der Palette deutscher Dichter strahlen können, an diese barfüßigen Gänsemägde, schubkarrenschiebenden Botenfrauen, »Spanisch-Bittern« (S. 270) trinkenden Handwerker, sich prügelnden »Holders-Fritzen« und dergleichen Persönlichkeiten verschwenden!
Die trefflichen schweizerischen Darstellungen des Jeremias Gottheit hatten jedesmal einen bestimmten polemischen oder komischen Zweck. Alles, was sie uns vors Auge führten, gehörte gerade zum Beweise entweder irgendeiner von dem Autor bekämpften Mode oder Richtung oder Verirrung, oder zur Darstellung des eben in seiner Unzulänglichkeit und Abgeschmacktheit porträtähnlich von ihm aufgefaßten Volks, das er absichtlich so schildern wollte, wie es schlimmer- oder komischerweise so wäre. Ganz anders die deutsche Dorfgeschichte. Sie hat keinen polemischen, selten einen komischen Zweck. Sie gibt sich die Miene der absoluten, sich selbst gewidmeten Realität und will aus dem Urgründe des Volkslebens die geheimsten Tatsachen des Gemüts darlegen. Daß letzteres zuweilen an sich möglich ist, zeigt uns jeder Blick auf die Zeitung, wo täglich unter der Rubrik »Vermischtes« Totschläge, Diebstähle, Auswanderungsprojekte, seltsame Heiraten, Gerichtsverhandlungen genug erzählt werden. Wer würde an sich nicht einräumen, daß jenem Morde, dieser Brandstiftung irgendeine psychologische Tatsache bedeutsamerer und den Dichter herausfordernder Art zugrunde läge! Aber wo liegt die Berechtigung, hier in allem und jedem Vertiefungen und Ergründungen zu geben, die, endlos ausgesponnen, den ganzen Apparat dichterischer Anschauungen in Bewegung bringen! Wenn da ein Wilddieb im Grase liegt und sich das Bein gebrochen hat, so läßt der Erzähler das ganze Universum an ihm vorüberziehen, predigt und exponiert Staaten- und Naturgeschichte bis in Rousseaus »Contrât social« und Decandolles Lehre von den Krypto- und Phanerogamen hinein. Wenn der Holders-Fritz sich den Trunk und das Raufen abgewöhnen will, so sind Himmel und Erde dabei beteiligt. »Seit er im Jüngling steckengeblieben und Geschlecht um Geschlecht an ihm vorüber in die Reihen der Männer gerückt, hatte es an Selbstvorwürfen und innern Mahnungen nicht gefehlt. Sie waren immer häufiger und dringender geworden; auf der andern Seite hatte er aber auch die Gewohnheit das alte Gleis immer mehr ausgetieft. Je nötiger es erschien, aus diesem herauszukommen, um so schwerer erschien es auch... Er sagte sich: ›Ich hab' anders wollen werden und wär's geworden, aber weil die Heiterethei denken müßt', ich tu's, weil sie's hat gewollt, nun geht's nicht!‹ Das will er sich aufreden, eben weil er fühlt, daß die äußere Anregung durch sie notwendig war, daß diese erst seinen Stolz gegen seine Kameraden aufrufen müssen, um ihn loszulösen aus den festhaltenden Armen der Gewohnheit« u.s.w. u.s.w.
Wir müßten drei Viertel der ganzen Erzählung abschreiben, um Beweise zu geben von diesem pathetischen, feierlichen, für die Natur des Stoffs komisch unnatürlichen Tone. Wer verkennt hier das Vorbild Auerbachs, der nach seinen ersten vortrefflichen Genrebildern und Skizzen später diesen Reichtum in der Armut, diese Überschwänglichkeit im Nichts aufgebracht hat! Wie bei ihm, so hier ein so unendlich wichtiges Vertiefen und Vergrübeln in dem, was seiner Natur nach so harmlos ist und auf der Oberfläche liegt. Wie bei ihm, so hier diese Umständlichkeit der Erörterung über die einfachsten Regungen des Willens und der Leidenschaft. Wie bei ihm, so hier der wunderlichste Pedantismus, der, statt das Gegebene einfach wiederzusagen, kein Ende finden kann mit Beantwortung des Wie? Warum? Wozu? des Ob und des Aber. Wollt ihr mit diesen Empfindungssubtilitäten den Graswuchs belauschen, so legt euer Ohr doch nicht in die Nähe von Schenken, wo dieselben Menschen, die uns so tiefpoetisch interessieren sollen, sich prügeln und nach einem »Spanisch-Bittern« verlangen, wenn ihr's auch aus Rücksicht auf die elegante Lesewelt sonst verschweigt! Zahlt mit Goldkörnern, wenn euer Vermögen Gold ist und ihr's doch nicht gerade in Barren ausgeben könnt, aber macht aus einem Goldkorn nicht Schaum, der eine ganze, uns wohlbekannte Mist-, Käse-, Milch- und Wirtshauswelt so unendlich zauberhaft vergoldet, als wenn diese Menschen melken gehen und Kartoffeln setzen oder Heu machen, immer im Bunde mit dem Johanniswürmchen, dem Maßliebchen und dem blitzenden Tautropfen! Summt denn und geigt die Natur oder die göttliche Providenz ihre schönsten Symphonien zu dem albernen und trivialen Leben von Menschen, die beim gemachten Scheine der Wirklichkeit über und über in Unwahrheit getaucht sind? Darf jedesmal, wenn die arme Erfindung abschnurrt, der Darsteller hier hervortreten und von der wunderbar dämonischen Tiefe in der Menschenbrust oder ein Kapitel vom Hüpfen der Bachstelze und dem Schlag des Finken anfangen? »Und nun war nichts mehr zu vernehmen als das Rütteln des Holunderbaums am Häuschen und das Sausen der Weiden im Winde.« Oder: »Ein leises Lüftchen strich nur mit den äußersten Flügelspitzen an den Erlen hin. Drüben, wo die Wiese sumpfig ist, läuteten Unken. Und wie das Rauschen des nahen Wehrs, das sie übertönen und verbergen sollte, bald leiser, bald lauter erklingend, hielten die gedämpften Schläge der Haue der Heiterethei die Nacht hindurch den Takt zu der heimlichen Musik des Tals.« Diese Schläge der Haue bei der heimlichen Musik des Tals gelten den Kartoffeln des Holder-Fritz! In der Tat, das heißt Beethoven zur Schenkenmusik bei Kirchweih machen.
Wir wollen uns nicht aufhalten bei dem dialektischen Rotwelsch, das diese Leute sprechen, nicht bei der unendlichen Breite der Reden, bei Selbstgesprächen, wie sich der Holders-Fritz »selbst bei dem Rockkragen faßt, sich schüttelt« und sich wie Timon von Athen moralische Lehren und Verwarnungen gibt, nicht bei dem Zutodehetzen eines guten Einfalls (die Frau Weberin spricht z. B. nie, sondern so oft sie auftritt, wird ihr Sprechen Spinnen genannt); nur die Wunderlichkeit des Charakters der Heldin wollen wir noch erwähnen, weil diese »Grillen«, die eine Liebeserklärung mit den Worten anfangen: »Du dummer Junge!« nachgerade Mode werden. Auch Heiterethei ist eine solche »aparte« Natur, die in störrischer Selbstbeschaulichkeit Handlungen und Worte vorbringt, die bedeutsam und effekterregend sein sollen und nur von einer unausstehlichen Prätention und Ungezogenheit zeugen. Frau Birch-Pfeiffer hat für diese »aparten Naturen« den Bühnenausdruck gefunden und Barfüßele sowohl wie Heiterethei kommen ihr auf halbem Wege entgegen. Beide sind im Grunde von einer Koketterie, die ganz so an der Schürze zu zupfen und die geflochtenen Zöpfe zu werfen versteht, als wären sie mit unsern neuen Gurli-Spielerinnen zur Welt gekommen, nur daß Barfüßele wie Heiterethei nebenbei einen wunderlich moralisierenden, hochpedantischen Tick haben und für eine vierzigjährige Gouvernante in einer weiblichen Erziehungsanstalt nichts zu wünschen übriglassen würden. Beide sprechen wie ein Buch, jene, obgleich sie die Gänse hütet, diese, obgleich sie die Karre schiebt.
Mögen uns die betreffenden Autoren diese Rüge nicht übeldeuten! Sähen sie das Erstaunen, mit welchem der gebildete Geschmack sich abwendet, wenn Barfüßele zu ihrem Verlobten sagt: »Und weißt, wir wollen dem Rößle einen Namen geben, Silbertrab!« oder wenn der Heiterethei bei all ihrem kleinen Lebenskram ewig der Mond und der Holunderbusch sekundieren und der Holders-Fritz wie ein Dialektiker in langen Erörterungen und Monologen »sich schämt, daß er sich schämt«, sie würden die Aufrichtigkeit ehren, die zwei bedeutende Geister auffordert, auf diesem Wege nicht länger fortzuwandeln.
Es ist eine seltsame Erscheinung, daß die neuere deutsche Literatur vorzugsweise einen Überhang zur Erzählung erhalten hat.
Was ist jetzt die Erzählung? Ist sie noch der glorreiche, bunte, abenteuervolle Roman wie »Tristan und Isolde«? Setzt dieser noch immer seinen Hauptwert in Schilderungen der Leidenschaften, in Kämpfe der Tugend wie Clarisse Harlowe und Werther? Schwelgt er noch in Abendröten und Mondscheindämmerungen, in unsagbaren Gefühlen, wie Titan und Hesperus?
Er ist mehr – er ist weniger.
Mehr; denn fast ist er das alleinige, breite Schlachtfeld geworden, wo alle Gedanken und Anschauungen der Zeit zusammenstoßen, bekämpft, ausgetauscht werden; in seinen Gestalten drängen sich ganze Generationen, ganze Volksklassen und zugleich Geschmacksrichtungen zusammen. Weniger; denn er hat damit seine Geschlossenheit verloren, er ist »schlußlos« geworden. Über sein Ende hinaus reichen die Fäden, die er gesponnen, weit hinaus in die Zukunft der Zeiten; die Fragen, die er angeregt, bleiben, wie das Rätsel der Sphinx, ungelöst im Geiste des Lesers, weil sie selbst im Gedicht nur eine scheinbare Lösung fanden.
Man hat daher gesagt: Lassen wir die Ideale, die großen Bestrebungen der Zeit, retten wir uns in die Wirklichkeit, die sich mit unsern leiblichen Augen sehen, mit unsern Händen greifen läßt! Setzen wir den ätherischen Gestalten der Teeromantik unsere Bauernmädchen, den träumerischen Handwerkern der George Sand unsere Kommis entgegen! Es waren, weil allmählich sich heranbildend, keine ursprünglichen Poeten, die so dachten, aber sie besaßen ein scharfes Auge für diese Realität und flüchteten sich in ihre kleinsten Kreise, weil sie dieselben am leichtesten übersehen und in eine gewisse malerische Perspektive setzen konnten. Sie gefielen sich in der Schilderung der Alltäglichkeit. Die kritischen Verteidiger dieser Richtung leugnen die Notwendigkeit einer phantastischen Welt für ein wahres, kunstgemäßes Gedicht; nur »bei seiner Arbeit« soll der Roman das Volk aufsuchen, nicht bei seinen Ahnungen, Wünschen, Gefühlen. Als ob nicht gerade in dieser Innerlichkeit der beste, arbeitende Teil seines Wesens läge, als ob sie, in seine Tagen hineingearbeitet, nicht diesen erst Wert und Geltung verliehe!
Die Doktrin allein hätte freilich diesen Umschwung nicht hervorgerufen und die Welt von Goethe, Byron, George Sand unter die Räder ihres Wagens geworfen, wenn ihr nicht die Mode und die Gesellschaft selbst zu Hilfe gekommen wären. Die haben zuerst aus angeborener Lust nach Neuem, aus Blasiertheit, um ihren abgestumpften Nerven einmal stärkere Gerüche als die von Veilchen und Rosen zu bieten, das Genre der Dorfgeschichten, die englischen Novellen von Boz und seiner Nachahmer als die einzige, noch übrige Zuflucht der Poesie gerühmt und aus den Papieren des Pickwick-Clubs einen neuen Musenberg gebildet. Jedem seine Ehre! Diese Darstellungen des Lebens sind oft feine, zierliche holländische Schildereien, mit getreuem, oft seelenvollem Blick der Wirklichkeit abgelauscht – aber sie haben auch nur diese Spiegelbildswahrheit und die Schönheit der genrebildlichen Ausführung für sich; – Kunst im höhern Sinne des Worts, wie sie sich in der Erfassung und poetischen Begeisterung eines umfassenden Plans offenbart, innerliche Verklärung ihrer Gestalten und ein kühnes Formen und Bilden mit des Dichters in »schönem Wahnsinn rollendem Auge« ist wenig in ihnen.
Der bedeutendste Roman dieser Richtung, den uns das vergangene Jahr brachte, war: ????»Zwischen Himmel und Erde. Von Otto Ludwig« (Frankfurt am Main, Meidinger Sohn & Comp, 1856).
Was schwankte hier nicht »zwischen Himmel und Erde«? Nicht bloß das einsame Schiff des Schieferdeckers um den St. Georgenkirchturm, sondern jedes darin geschilderte Leben. In diesem gesuchten Titel schon lebt die Metaphysik, die uns auf jeder Seite begegnet und durch spitzfindige, zweiten tiefe Dialektik uns über die Kleinheit der Handlung und die Armut der schaffenden Phantasie zu täuschen sucht. So frisch und wahr auch die Nebenumstände, das Haus und die Kirche, worin die Geschichte spielt, die Arbeit des Schieferdeckers daguerreotypiert erscheinen, so sehr die eigentliche Muse dieser ganzen Richtung, die Erinnerung, ihr günstig war, die Erfindung selbst krankt an Unmöglichkeiten. Der alte Nettenmair möchte sich nicht schlecht in spanischer Alcaldentracht mit dem Stab des Richters von Zalamea in Calderons Schauspiel ausnehmen oder in der Welt des Don Gutierre als Arzt seiner Ehre; aber in seinem blauen Rock auf dem Kirchturme ist er eine chinesische Pagode. Hier zeigt es sich, zu welchen Dissonanzen das Übertragen rein idealer Konflikte der Ehre und der Liebe in Lebensverhältnisse führt, in denen sie wohl vorübergehend empfunden, aber schon durch die Not und die Pflichten jedes Tags verdrängt und betäubt werden. An Lelia sollen wir nicht glauben, wie können wir an Apollonius glauben?
Wie in seinen Dramen, ist Otto Ludwig auch in seinen Erzählungen ein geschickter Anatom der Seele; das ist sein Ruhm, aber auch seine Grenze. Sein symmetrischer Bau macht keinen harmonischen Eindruck. Er arbeitet mühevoll, gebunden an die realistische Theorie, eingefangen und begrenzt von dem Boden der Wirklichkeit, immer suchend und tastend, ob das da so geschehen ist oder so geschehen sein könnte. Seine »Makkabäer« sind infolge solcher Ängstlichkeit fast durchgängig gleichsam in ein- und zweisilbigen Worten geschrieben; das ist nicht der Strom, in dem man einen so bedeutsamen Geist zu sehen wünschen muß.
Frischer, nicht von beständiger Seelenmalerei angekränkelt und reicher an tatsächlichem Inhalt sind die »Dorfgeschichten aus dem Ries. Von Melchior Meyr« (Berlin, Springer, 1856). Dem Dichter sind Land und Leute wie keinem bekannt, denn lange hat auch er in diesem Gau, der zwischen Bayern und Württemberg liegt, gelebt. Seine drei Novellen zeichnen sich durch die Klarheit ihrer Darstellung, durch die scharfe Charakterisierung ihrer Gestalten aus. Wahrhaft Schöpferisches und nach irgendeiner Seite hin Originales bringen und geben sie allerdings nicht. Solange wir uns nicht in der Theorie von dem Realismus befreit haben, wird alles, was in dieser Richtung geschaffen wird, nach kurzem fesselnden Reiz zu bald verklingen.
Mit geringerer künstlerischer Absicht daguerreotypiert Eduard Ziehen Land und Leute der Niederelbe. »Norddeutsches Leben« (zwei Bände; Frankfurt am Main, Literarische Anstalt, 1856) gibt kleine Geschichten, die der Natur abgelauscht und nachgezeichnet sind und dabei unter dem Einflusse des Gemüts stehen. Das Leben der in der norddeutschen Existenz vielfach vertretenen Pfarrer und Förster ist hier mit jenen verschönernden Farben gemalt, die das Ferne, nach langer Trennung Unerreichte von selbst annimmt. Der Verfasser hat vielleicht manches von seiner Knabenzeit vergessen und dann in das eigene Herz gegriffen, als er die Stoffe und Farben für seine Bilder wählte. Da mußte er denn wohl mancher Situation Gewalt antun, die sich nicht fügen wollte, mußte Charaktere mitten durchbrechen, die einem befriedigenden Ausgange widerstrebten. Ein Pfarrer jedoch, der am »Stillen Freitag« Kosaken zur Einquartierung bekommt, ans Klavier genötigt und endlich im Vierhändigspielen vom Kosakenoffizier unterstützt wird, der von den Noten soviel versteht wie präsumtiv der Pfarrer von Kriegstaktik – ist eine kleine Skizze mit liebenswürdiger Laune gezeichnet und von Wirkung auf die Lachlust.
Gleich im Stoff, nur bedeutsamer in der Ausführung ist Edmund Höfer, der in seiner neuesten Sammlung: »Bewegtes Leben« (Stuttgart, Krabbe, 1856), wieder die vielen kleinen Geschichten vermehrt hat, die wir schon von ihm besitzen. Ihm ist Pommerland zugefallen bei der großen Teilung unserer Literatur in allerlei Provinzialismen. Land- und Strandleben weiß er in lebhafter Art wiederzugeben, meist mit einem gewissen Ausklang, der etwas Poetisches hat. Nur geht in neuerer Zeit, scheint es, sein Flachs etwas zu Ende. Daher eine gewisse Übertreibung im Vortrag, ein allzu starker Drucker in manchen Ein- und Durchführungen: »Nun aber jetzt! Jetzt einmal heran! Habt ihr das nicht gehört, habt ihr gar nichts gehört!« u. s. w. Eine Zeitlang gilt dergleichen als frisch, gesund, naturwüchsig, ursprünglich, bald aber ist es Manier und sieht sich an wie Schattenspiel an der Wand.
Wenn der Zwiespalt, der diesen realistisch-dorfgeschichtlichen Darstellungen eigen ist, sich bei Otto Ludwig am schlagendsten in der Erfindung der Konflikte offenbarte, in die er seine Helden verwickelt, ruht er in den Romanen und Novellen Josef Ranks in dem Mißverhältnis zwischen Darstellung und Inhalt. Rank ist ein fleißiger Schriftsteller; im vergangenen Jahre erschien von ihm »Sein Ideal«, »Von Haus zu Haus, kleine Dorfgeschichten« (Leipzig, Voigt & Günther, 1856) und »Achtspännig« (Volksroman, Leipzig, Mendelssohn, 1857), in zwei Bänden.
Viel Material, aber wenig Eigentümliches, wenn man die Manier nicht so nennen will. Die Manier ist hier, das Kleinste und Alltäglichste zu idealen Höhen hinaufzuschrauben und die vorübergehenden Verhältnisse des Lebens mit dem Auge zu betrachten, wie wenn Scipio Karthago verbrennt oder Julia den toten Romeo an ihrem Sarge sieht. Freilich empfindet der Fuhrmann im Kittel Schmerz und Freude so gut wie Hamlet oder Desdemona, aber es ist nicht wahr, daß er sie so äußert wie jene. Die Liebe eines Bauernmädchens mag reiner, mag natürlicher sein als die Leidenschaft, die in den Versen der Sappho und in den Briefen von Julie Lespinasse lodert, aber warum ist sie schöner? Am wenigsten ist sie es, wenn sie sich mit solchen Blumen schmücken will, wie Julie ihre Liebe zu Romeo schmückt!
»Achtspännig« ist die Bekehrungsgeschichte – eines Frachtfuhrmanns, der aus einem Todfeind der Eisenbahnen zu ihrem Freunde und Anhänger wird! Es ist eine Allegorie von den Ruinen der Schlösser, aus denen die Bauern der Nachbarschaft Steine zum Bau ihrer neuen Häuser brechen. Die Konflikte, die bei Melchior Meyr Herzensirrungen, Kämpfe zwischen Söhnen und Vätern, in Otto Ludwigs Novelle einschneidende, allgemeinmenschliche und tragische sind, haben hier einen sozialen Hintergrund gewonnen und die Färbung von Prinzipienstreiten angenommen; darum ist ihre Lösung eine zweifelhafte, nur für diesen einen Fuhrmann Weringer eine gültige und bruchlose. Denn nicht jedes »Alte« geht segenwünschend dem »Neuen« in ihm unter und auf, nicht jedem löst sich der Kampf seines Lebens so rein und leicht. Poesie, wie wir sie verstehen, Durchdringung und Durcharbeitung des Gegebenen zur Idealität, findet sich in diesem Roman wenig, wohl aber Abkonterfeiung des Dorfs, seiner Spiele und Feste, seiner Leiden und Stürme, ja sogar seiner Pferdekrankheiten. Es ist wie in der alten Dresdener Galerie, wo 50 Bilder Wouwermans nebeneinanderhingen. Und dennoch, welche Abwechslungen, welch überraschender Farbenwechsel bei alledem bei diesem Maler! Wie weiß er seine Themata – Reiterschlachten oder Ausritte zur Jagd – beständig durch einzelne kleine Züge neu und frisch zu gestalten! Wie grau, wie eintönig aber und ewig einerlei ist alles in euern Dorfnovellen!
Am anziehendsten sind die kleinen Bilder, die Josef Rank in seinem »Von Haus zu Haus« entwirft; hier hat ihm in der Landschaftsmalerei Stifter zum Vorbild gedient. Schade, daß dem buntfarbigen Schmetterling dabei sein bester Schmelz von den Flügeln gewischt worden ist! Die Erwartung wird in diesem Buche nicht getäuscht; man findet, was man gehofft: Genrebilder. Die letzte Erzählung: »Klärchen«, leidet mit dem plötzlichen Hineinspielen einer sentimenalen Romantik an dem Zwiespalt, von dem wir oben sprachen. Die Ostades sollten sich keine Raffaele dünken; eine Bemerkung, die indessen nicht dem bescheidenen und immer anspruchslosen Wirken und Dichten Josef Ranks gelten soll.
Nach Jeremias Gotthelfs Tode bleibt nächst Rank der Sinnigste und Bedeutsamste auf diesem Gebiete immer Berthold Auerbach. Nach Versuchen, in diese oder jene Sphäre, die eine größere Gestaltungskraft und selbsterfindende Phantasie erfordert, abzuschweifen, kehrt er am glücklichsten immer wieder auf das Gebiet zurück, wo er auf festen, heimatlichen Boden tritt und ihm Wirkungen von seltenem Reiz gelingen.
Indessen hat uns »Barfüßele« (Stuttgart, Cotta, 1856) nur in seinem letzten Drittel befriedigt. Sogar gefahrvoll erscheint uns die Weise zu sein, der sich der Dichter in dieser Erzählung bis Seite 166 ergeben hat. Es ist der idealisierte Realismus, der, wenn er sich bei seinen Verschönerungen und Vertiefungen die Miene gibt, doch nur die Natur und nichts als die Natur zu wollen, der verwerflichste von allen ist. Ein Mädchen, das auf dem Dorfe nur barfuß geht und die Gänse hütet, wird immerhin verständiger sein können, als ihre platte, gewöhnliche, ja schmutzige Situation zunächst mit sich bringt; aber so hoch hinaus potenziert, wie es hier geschehen ist, wird die Erscheinung unwahr und theatralisch. In einer unendlichen Monotonie ziehen sich geradlinig fort von diesem Mädchen Charakterzüge, die fast sämtlich den Stempel der Abstraktion tragen. Statt daß wir von ihren nächsten Sorgen, z. B. um die Gänse, unterrichtet würden, entwickelt sie an ihrem Leben eine Reihe von zufälligen Aperçus, die nicht auf ihrem eigenen Anger erblüht sein konnten, sondern nur den Beobachtungen aus dem Leben der Bildung entnommen sind. Ihre Urteile über Orden, ihr Geldwegwerfen, ihre Betrachtungen über den Wind, ihre Rätsel, ihre Lieder sind künstlich auf sie übertragene Kollektaneen des Dichters, der mit seinem eigenen Selbst aus dieser Theaterfigur überall herausschaut.
Die Wirkung ist verfehlt aus einem doppelten Grunde. Einmal ist diese überreife, sich vordrängende Apartheit und dreinredende Besserweisheit der Gänsehirtin unerquicklich an sich und läßt uns kein weises, nur naseweises Mädchen kennenlernen. Dann aber auch befindet sich der Dichter in dem Grade in Bewußtheit über diese Persönlichkeit, daß er sie bis zum Schöntuenden ausmalt. Nie ist der Autor so weit über die Grenze der Anmut bis zum Lovely oder dem Albumstil hinausgegangen wie in diesem bunten Aufputz einer Unmöglichkeit. Er legt seiner Heldin Stimmungen, Traumzustände, Naturschauer unter, die nur dem süßlichsten, alles Inhaltlose liebenden Geschmack der Zeit an dieser Stelle glaubhaft sein können. Schon die Titelüberschriften seiner Kapitel: »Es klopft an«, »Er ist gekommen«, »Tu' dich auf!« »Die ferne Seele« u.s.w., beweisen des Autors Absichtlichkeit, ein objektives Bewußtsein über den preziösen Zweck und die zu seiner Erreichung gebrauchten Mittel.
Von Seite 166 jedoch an kehrt dem Dichter sein besserer Genius zurück. Nehmen wir die preziöse »Silbertrab«-Episode, ohnehin Nachahmung einer Gottfried Keller'schen Situation, aus, so wächst von da ab seine alte Kraft und reißt uns, da es zugleich zu Lust und Freude geht, in mächtiger und gesunder Umarmung fort. Worin liegt hier plötzlich der unwiderstehliche Zauber? Darin, daß die Situation wirklich ein untergeordnetes Magdtum seiner Heldin notwendig mitsichbringt. Stört auch da und dort wieder jenes altkluge und vorwitzige »Hör' du, das mußt du nicht tun!« u. s. w. – so verschwinden diese gesuchten Bewußtheiten doch gegen die nun sich notwendig ergebende Wahrheit der anderweitigen Umstände und trefflich gezeichneten Personen.
Als wir jedoch die Erzählung zu Ende hatten, war es uns bei alledem, wie wir bei dieser ganzen Literatur des Realismus immer empfinden. Die Drehorgel schweigt und die Figuren, die durch den innern Mechanismus des Kastens oben auf seinem Deckel tanzen, stehen plötzlich in schreckhafter Wirklichkeit mit derselben lachenden Miene, dem aufgehobenen Beine, eben ansetzend zum Tanz, eben den Mund öffnend zum Sprechen, stumm und starr vor uns. Es ist uns nur etwas vorgespielt und vorgejodelt worden. Es fehlt der Nachklang der Wahrheit! Die angeregte Phantasie ist übersättigt; sie kann, da sie zu viel, zu Objektives, zu daguerreotypisch Aufgenommenes empfing, nichts weiter ausspinnen und ins Endlose hinaus sich das Leben und künftige Sein dieser Gestalten mit wahrhaftem Glauben selbst ausmalen. Die tiefe Unwahrheit dieser Literatur, die mit diesem unleugbaren Kennzeichen doch gerade wieder eine so lebhafte Provokation an das Geglaubtwerden verbindet, macht sie eben deshalb auch zu einer Förderung der Reaktion. Nur zum Gedankenlosen kann es führen, wenn man die Roheit, die Unbildung, die religiöse Verdumpfung, die Sittenlosigkeit der Bauernwelt nicht mit derselben energischen Hand anfaßt, die ihr doch habt, wenn ihr – auf andern Gebieten aufräumt! Diese Betrachtung auf Malerei, auf Musik, auf Plastik auszudehnen (wo der Realismus es auch noch dahin bringen wird, daß wir uns seine Schöpfungen eher in Dragee als in Marmor ausgeführt denken müssen), liegt nahe. Doch brechen wir sie für heute ab, um sie gelegentlich wieder aufzunehmen.