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5

Um acht Uhr früh stand Abercrons Brauner mit der Blesse im Sattelhof des Tattersalls. Der Reitknecht grinste. Das Pferd wäre leicht zu reiten, nur eben gerade von Damen nicht, die überhaupt nichts könnten.

»Frau Blankenhorn hat den Braunen doch tadellos geritten?«

»Ja, Frau Blankenhorn hat ihn tadellos geritten. Aber Herr Abercron reitet lieber mit der andern Dame. Es soll eine Gräfin sein, aber ich glaube es nicht.«

Arme Dorette! dachte Steegen. Ein Rappe wurde gerade aus dem Stall geführt. »Was ist das für ein Pferd?« fragte er den Bereiter. Das Tier war seit gestern in Pension, es gehörte einem Rechtsanwalt van Holten.

Van Holten? dachte Steegen nach. Wo hatte er den Namen gehört? Irgend jemand hatte gestern zu ihm von dem Rechtsanwalt van Holten gesprochen. Auf einmal fiel es ihm ein: In dem anonymen Brief aus Swantemühl war von diesem Holten die Rede gewesen. Holten war der Berliner Rechtsanwalt, der nach Swantemühl gekommen war »und die Spuren entdeckt« hatte. Ein nicht zu großer und etwas beleibter freundlicher Herr mit dunkler Hornbrille stand im Reitanzug da und unterhielt sich mit dem Bereiter des Verkaufsstalls. Das mußte Holten sein! Steegen stieg schnell auf und ritt davon. Der Braune klebte fast gar nicht am Stall. Ein wenig Schenkeldruck genügte, ihn vorwärts zu bringen. Wenn alle Pferde so leicht zu kriegen wären! dachte Steegen. Hinter sich sah er mit halbem Auge den Rechtsanwalt aufsitzen. In der Hardenbergstraße mußte er warten, um eine Elektrische vorüberzulassen. Dabei holte der Rappe ihn ein. Sie standen dicht nebeneinander und warteten, setzten sich gleichzeitig in Bewegung und gingen nebeneinander her, bis der Braune mit seinem längeren Schritt Terrain gewann. Jenseits der Straße brachte Steegen sein Pferd in Trab. Der Rechtsanwalt konnte das Gefühl bekommen, daß er vor ihm ausriß. Aber Steegen wollte fort. Er ritt den Braunen auf blanker Kandare, ließ ihn im Sprunggarten Kreise und Achten gehen, ehe er ihn über die Hürde zwang. Holten war nach rechts abgeritten. Bleiben wir im Sprunggarten!

Aber es zog ihn wie durch eine magische Fernwirkung in den Tiergarten hinein. Ihm war, als müßte er den Feind ins Auge fassen. Vielleicht holte Holten Polizisten herbei, um ihn zu verhaften. In einer phantastischen Vorstellung sah er den Tiergarten ringsum besetzt. Das machte die Nacht, in der er kaum geschlafen hatte. Die Bilder waren durcheinander gewogt. Das Bankett bei Abercron mit den seltsamen Gestalten, die einem Roman entsprungen schienen. Ob »Blümchen« die Gräfin war, mit der Abercron lieber ausritt als mit Dorette? Die Bar, der merkwürdige Professor Stüwe, Dorettes Zimmer, ihre Gespräche, die neue Gefahr, die sich von Swantemühl heranschlich. Und Dorette selbst! Immer wieder Dorette!

Um eine Wegbiegung verschwand Herr Schwarzer auf einem Fuchs von schnittigem Huntertyp. Er erkannte Dorettes Tischherrn wieder, obwohl er kaum mehr als den Rücken sah. Bei der Amazone traf er auf Holten. Der Rechtsanwalt beachtete ihn nicht, sondern war völlig damit beschäftigt, dem Rappen die Vorderhand zu lösen. Steegen ritt weiter. Das nächste Mal traf er ihn am Wasserturm. Der Rappe war pitschnaß. Dieser Holten ging mächtig ins Zeug. Er verwandte keinen Blick auf den Stallmeister, und doch wurde Steegen die Vorstellung nicht los, daß er ihn langsam umkreiste und zu seiner Zeit stellen würde. Er ritt zum Stall zurück. »Na?« fragte Abercrons Reitknecht. »Ausgezeichnet!« antwortete der Stallmeister, »ich habe nichts von Kleben bemerkt.« Der Mann nickte.

In diesem Augenblick ritt der Rechtsanwalt ein und gab sein Pferd ab. Es war neun Uhr. Steegen hatte einem Privatgelehrten Stunde zu geben. Auf einmal sah er Dr. Alstrich mit dem Rechtsanwalt beisammenstehen. Sein Schüler winkte ihm, er mußte herantreten, wurde vorgestellt. »Wie gefällt Ihnen mein Rappe?« fragte van Holten. Steegen wußte, daß er jetzt gestellt war. Dieser Holten würde nun nicht mehr von seinen Fersen weichen.

»Kommen Sie, Steegen. Wir wollen noch einen Mokka trinken!« forderte Alstrich ihn auf. Sie gingen zu dritt in das Restaurant.

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich von Zeit zu Zeit etwas beraten würden. Der Rappe setzt mir noch nicht genug unter«, fing der Rechtsanwalt an.

»Hinten geht es schon«, sagte Steegen, »aber vorne kommt er noch nicht heraus.« Sie saßen an dem kleinen Tisch zu dreien. Es war nichts Besonderes an dieser Situation. Es kam oft vor, daß fremde Herren Steegens Rat in ihren Pferdeangelegenheiten suchten. Vielleicht wollte Dr. Alstrich ihm nur einen neuen Kunden zuführen, der sich durch den Stallmeister von Zeit zu Zeit sein Pferd zurechtreiten ließ. Nichts in Holtens Mienen verriet, daß er an Steegen ein persönliches Interesse nahm. Aber Steegen fühlte, daß der plötzliche Überfall unmittelbar bevorstand. Bis dahin galt es, gleichgültig zu tun. Er sprach von der Hüfte, die bei dem Rechtsanwalt noch mehr herausmüßte, von dem vorderen Aufrichten des Pferdes mit der Trense und dem Vorwärtsdrücken mit dem Schenkel. Redensarten, die die Herren hören wollten.

»Ja«, sagte Holten, »Sie haben vollkommen recht. Wissen Sie übrigens, daß ich Ihren Namen neulich in einem interessierten Zusammenhang hörte?«

Da war es! Auf diesen Augenblick hatte Steegen gewartet. Sollte er überrascht tun? Er hielt es für besser, seine Kenntnis zuzugeben. »Sie führen einen Prozeß für die Familie Blankenhorn, nicht wahr? Ich hörte davon.«

»Ich war vor einiger Zeit sogar in Swantemühl.« Das war mehr zu Dr. Alstrich gesagt. »Sicher haben Sie von jenem bisher unaufgeklärten Mord an dem Schloßbesitzer und Majoratsherrn Blankenhorn auf Swantemühl gehört. Besinnen Sie sich darauf? Es ging durch alle Zeitungen. Dieser Herr Blankenhorn wurde eines Abends erschossen in seinem Arbeitszimmer aufgefunden. Er saß in einem Sessel und las ein Buch. Die Fenster waren geschlossen, die Läden heruntergelassen. Der Schuß mußte aus nächster Nähe abgefeuert sein, also aus dem Zimmer selbst. Die Mordwaffe, ein Jagdgewehr, das für gewöhnlich in dem Waffenschrank des Arbeitszimmers zu stehen pflegte, lag mitten im Zimmer am Boden. Irgendwelche Fingerabdrücke waren nicht festzustellen. Von den Bewohnern war nachweislich niemand in dem Zimmer gewesen. – Ich glaube, auch Sie, Herr Steegen, wurden eingehend nach Ihrem Aufenthalt in der fraglichen Viertelstunde vernommen, nicht wahr?«

»Sehr eingehend!« antwortete Steegen. »Ich lag in meinem Zimmer auf dem Bett und döste, als der Schuß mich weckte. Dann sprang ich auf und rannte nach dem Schloß, kam aber durch die verschlossene Tür nicht hinein. Die Damen schrien aus ihren Zimmern. Es war sehr aufregend.«

»Ja, Ihr Alibi konnten Sie ja durchaus einwandfrei beweisen. Das konnten, wie gesagt, alle Personen, die zu dem Haushalt gehörten. Es war einfach ein Rätsel, wie der Mord zustande gekommen war. Stellen Sie sich vor«, das war wiederum zu Dr. Alstrich gesagt, »daß der Schuß aus dem Zimmer selbst abgefeuert sein mußte, daß es aber völlig unmöglich war, daß sich jemand außer dem Ermordeten in diesem Zimmer befunden hatte. Die Haustür war verschlossen, die Fensterläden von innen verriegelt. Das ganze Schloß wurde unmittelbar nach der Tat eingehend durchsucht. Der Polizeihund, der eine knappe halbe Stunde nach der Tat eintraf, nahm keine Spur auf.«

»Konnte der Majoratsherr sich nicht selbst erschossen haben?«

»Auch diese Hypothese wurde sofort aufgestellt, aber sie hielt nicht stand. Auch wenn man schon annehmen will, daß Herr Blankenhorn mit Schikanen arbeitete, schloß sich die Annahme eines Selbstmordes durch den Tatbestand aus. Er war zwar aus einer ganz geringen Entfernung erschossen worden, die aber doch hinwiederum nicht so gering war, daß die Annahme eines Selbstmordes in Betracht kommen konnte. Der Mörder mußte in einer Ecke des ziemlich großen Zimmers gestanden haben. Wenn er aber dort gestanden hatte, war es unmöglich, daß er entwischte. Er hätte auf dem Korridor von den Töchtern gesehen werden müssen, die auf den Schuß und den Todesschrei des Ermordeten sofort aufs Treppenhaus eilten und es beleuchteten. Zum Fenster konnte der mysteriöse Täter hinwiederum auch nicht hinausgesprungen sein, weil die Fensterläden ja, wie gesagt, von innen geschlossen waren. – Diesen Tatbefund fand ich also vor, als ich mit einem Berliner Kriminalisten nach Swantemühl kam, um den Fall nochmals nachzuprüfen. Was glauben Sie, Herr Steegen: Habe ich etwas herausbekommen?«

Das kleine Restaurant war ziemlich dunkel. In der Bahn hinter den Scheiben ritt Herr Steensbeck seinen Rappen, daß der Sand gegen das Fenster spritzte. Von draußen drangen die Rufe des Stallburschen herein. Der Rechtsanwalt sah Rolf Steegen voller Spannung an.

»Ich bin neugierig!« sagte der.

»Nun und?« unterstrich Dr. Alstrich die Spannung.

»Ja, wir haben etwas herausbekommen«, fuhr van Holten mit ruhiger Stimme fort. »Können Sie sich denken, Herr Steegen, wie die Sache zusammenhing?«

»Haben Sie den Täter?« fragte Steegen.

»Den Täter haben wir noch nicht, aber ich glaube, daß wir ihn bald haben werden. Jedenfalls haben wir wichtige Spuren entdeckt. Im Prinzip dürfte das Rätsel gelöst sein.«

Steegen wußte nicht, ob er rot wurde. Merkwürdigerweise brauchte er sich nicht einmal besonders zusammenzunehmen, um ruhig zu bleiben. In diesem Augenblick war ihm, als ob das Rätsel von Swantemühl ihn nicht mehr sonderlich anging. Dieser Rechtsanwalt würde den Täter herausbekommen! Nun gut!

»Berühre ich schmerzliche Saiten in Ihnen, Steegen?« fragte van Holten.

»Die Sache liegt lange zurück«, antwortete Steegen. »Ich habe mit den Menschen von damals kaum noch Fühlung.«

»Interessiert es Sie nicht, auf welche Weise der Mord zustande gekommen ist?«

»Natürlich interessiert es mich, aber fast nicht mehr als bei jeder andern rätselhaften Mordgeschichte. Die Umstände waren sehr merkwürdig.«

»Man wird Sie vielleicht auch noch einmal vernehmen müssen, Herr Steegen!«

»Dann werde ich noch einmal meine Aussage wiederholen, Herr Rechtsanwalt.« Auch das kam wundervoll ruhig heraus. Oder war diese Ruhe unnatürlich? Mußte sie ihn belasten? Vielleicht wäre es natürlicher gewesen, wenn er erregt gefragt hätte.

»Sie sind sehr blaß, Herr Steegen«, stellte van Holten mit unveränderter Stimme fest. »Die Sache regt Sie natürlich doch noch auf. Aber ich muß jetzt gehen. Auf Wiedersehen! Und Sie geben mir von Zeit zu Zeit Ratschläge.«

»Sie sind wirklich blaß geworden«, sagte Dr. Alstrich, als sie allein saßen. »Es war geradezu auffallend. Holten und ich warfen uns einen Blick zu. Sie wissen es vielleicht gar nicht.«

»Ich habe heute nacht wenig geschlafen«, lachte Steegen. »Um vier Uhr nach Hause gekommen, um sechs aufgestanden. Viel Alkohol dazwischen. Kennen Sie das: Sekt mit hellem Bier? Schmeckt ausgezeichnet.«

»Hören Sie«, sagte Dr. Alstrich ernst, »es gibt da eine Fassung dieser Swantemühler Geschichte, daß Sie mit der Schloßfrau ein wenig liiert waren und große Ritte mit ihr machten. Stimmt das?«

Was war das? Sollte dieser Herr ihn im Auftrag des Rechtsanwalts aushorchen? Würde er dieser Tage verhaftet werden? Registrierte man schon seine Äußerungen und sein Erbleichen? Auf einmal spürte er, daß er kämpfen mußte. Etwas Unbestimmtes kam aus der Vergangenheit angekrochen. Eine Bedrohung, eine Gefahr. Seit er Karla getroffen hatte, war sie näher gekommen. Mit jedem Augenblick des gestrigen Abends war sie näher gekommen. Er trug Dorettes Hausschlüssel in der Tasche. Wenn dieser van Holten das gewußt hätte! Gesetzt, man verhaftete ihn und fand Dorettes Hausschlüssel bei ihm! Er merkte, daß er Angst hatte. Manchmal kam jetzt diese Angst über ihn. Sie ging in großen Wellenzügen über ihn hin.

»Große Ritte«, hörte er sich mit ruhiger Stimme antworten, »das stimmt. Aber sonst? Du mein lieber Gott, haben Sie Frau Blankenhorn einmal gesehen? Was ist denn an dieser Frau? Ich verstand Blankenhorn nicht, daß er sie geheiratet hatte. Man pustet sie auf der bloßen Hand hinweg.« Er suchte nach gehässigen Bemerkungen über Dorette. Alle die kleinen Dinge, nach denen seine Sehnsucht schrie, konnten ins Gegenteil verkehrt und verunglimpft werden. Ihre großen Augen, die kleine aufgewippte Nase, der knabenhafte Körper. Er sah alles zum Greifen deutlich vor sich, sog den leisen Geruch ihres Leibes ein, hielt die kleinen Mädchenfüße in seiner Hand, wie er sie hundertmal gehalten hatte, wenn er ihr in den Sattel half. Das alles nahm er im einzelnen vor und gab ihm hämische Bezeichnungen. Weshalb sollte er nicht den gewöhnlichen Stallmeister spielen, der eine Frau, wie Leute dieses Schlages, gewissermaßen nach ihrem Schlachtgewicht beurteilt?

»Frau Blankenhorn? Nein! Sie befahl mich zum Reiten, und ich ritt mit ihr. Da waren die beiden Töchter ganz andre Erscheinungen. Karla und Sabine! Forsche Mädels! Natürlich und mit Farben im Gesicht. Überhaupt Sabine!« Es war ihm unerfindlich, weshalb er in diesem Zusammenhang in ein Loblied Sabines ausbrach. Vielleicht bewirkte es die kleine Bronze, die sie von ihm gemacht hatte. Aus einer unbestimmten Dämmerung schien ihr Gesicht mit den klugen grauen Augen hervorzutreten. Weshalb hatte sie ihn dargestellt, wie er am Abend neben seinem Pferd zu stehen pflegte? Er hatte nicht einmal gewußt, daß er in dieser Haltung auf dem Hügel hinter der großen Scheune stand. Erst das kleine Bild hob es ihm ins Bewußtsein. »Wenn mich schon eine von den Damen interessiert hätte, dann wäre es Sabine gewesen!« hörte er sich sagen. Natürlich war es eine Dummheit, daß er so daherredete. Aber es konnte nichts schaden, wenn man gewissermaßen Spuren hinter sich verwischte. Vielleicht warf es künstlich aufgebaute Hypothesen dieses Rechtsanwalts um.

»Ich habe nicht den Vorzug, die beiden jungen Damen zu kennen«, sagte Dr. Alstrich, »aber Frau Blankenhorn kenne ich und muß Ihnen widersprechen. Diese Frau hat etwas Faszinierendes. Ich habe sie auf Gesellschaften gesehen. Sie ist ein elfisches Wesen von einer zauberhaften Zerbrechlichkeit. Das Leben hat ihr übel mitgespielt. Aber vielleicht wird noch wieder alles gut mit ihr. – Kommen Sie! Wir wollen jetzt reiten. Es ist schon spät.«

Als sie am Rosengarten entlang galoppierten, fing Dr. Alstrich noch einmal von Dorette an: »Hat diese Frau an der Seite Blankenhorns nicht ein Martyrium erlebt?«

»Blankenhorn war nicht so schlecht, wie alle dachten«, antwortete Steegen. »Er hatte seine guten Seiten, zum Beispiel hat er viel für die Warmblutzucht getan.«

Weshalb sagte er das alles? Er trieb Verrat. Dorette saß in ihren ärmlichen Zimmern, und er verriet sie. Dorette kämpfte um ein neues Leben, und er redete schlecht über sie. Es war eine seltsame Wollust, in ihrem Leben und Wesen herumzuwühlen. Und die Angst stand dahinter. Holten hatte Spuren entdeckt. Wenn er nur wüßte, was das für Spuren waren!


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