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Sie standen vor der Terrasse des Schlosses und warteten auf den Wagen. Hinter dem Rosenrondell ging Ahlmann auf und ab. Die Fassade lag tot. Nicht einmal das Stubenmädchen ließ sich blicken. Ihre Unruhe war so groß, daß sie sich nicht auf der Bank niederließen. Immer ging einer von ihnen einige Schritte auf und ab, ohne daß der andre ihm folgte. Manchmal versuchten sie ein gleichgültiges Gespräch aufzunehmen, aber die Worte waren mit Sprengstoff geladen, der jeden Augenblick explodieren konnte.
So war es damals, nach der Tat, gewesen, als niemand mit dem andern zu sprechen wagte. Er wußte nicht, was in dem jungen Mädchen vorging. Vielleicht war Sabine sich wirklich jetzt endgültig darüber klargeworden, daß er der Mörder ihres Vaters war. »Herr van Holten kann Ihnen auch eine Schilderung geben, wie Sie Frau Abercron kennengelernt haben!« Die Worte lagen noch immer in der Luft. Auf welchem Wege konnte van Holten davon erfahren haben? Niemand hatte bisher etwas davon gewußt. Niemand! Ob er Sabine danach fragte? Aber er brachte die Frage nicht heraus. Konnte sie ihm etwas anderes antworten, als daß er der Mörder war?
Scherschke fuhr vor. Das Erscheinen des Wagens gab Anlaß zu einigen Worten. Sie lösten die Verkrampftheit nur wenig. Schorlemer kam aus dem Inspektorhaus, um sich zu verabschieden und die plötzliche Abreise zu bedauern. Von dem Rosenrondell her kam der Förster und schwang sich auf den Bock wie eine Schildwache. Der Hund sprang mit einem Satz nach. Die Pferde zogen an. Der Wagen ratterte über das Pflaster des Wirtschaftshofes und bog in die Dorfstraße ein. Genau so war der gleiche Wagen »damals« gefahren, an der Kirche vorbei, unter dem zerzausten Blätterdach der Kastanien, die diesmal schon braunrot gefärbt waren. Zwei Jahre, dachte er. Zwei Jahre der Angst und des Wartens, und grade hier an dieser Stelle, vollendete sich jetzt der Ring!
Es gab gequälten Dank und Abschied, als Ahlmann ausstieg. Das weiße Haus mit dem Hirschgeweih über der Tür lag wie ausgestorben. Selbst die Gänse und Enten hatten sich verkrochen. Die beiden Dackel bellten im Innern wie aus einer fernen Gefangenschaft. Die bleiche dunkle Frau war nirgends zu bemerken. Es war, als hielte sie alles Ihrige versteckt, aus Angst vor der Berührung mit der fremden feindlichen Welt. Der Wald lag schweigend. Kein Lüftchen regte sich. Hunderte von Metern weit sah man in die bunten Schächte der Jagen hinein. Die breiten Äste der Tannen hingen wie gespreizte Hände. Das Mühlenwehr rauschte, das Räderwerk klapperte, aber auch hier sahen sie keinen Menschen. Sie wußten, daß es an der Mittagszeit lag, aber es war doch, als ob sich alles vor ihnen verbarg.
Auf dem Bahnhof Abschied von Scherschke. Eine Viertelstunde lang Stehen vor den Gleisen. Der Stationsvorsteher grüßte von weitem. Steegen steckte sich eine Zigarette an und warf sie weg, als der Zug sichtbar wurde. Dann saßen sie wieder in den tiefen Polstern. Nichts Greifbares hatte sich ereignet, und doch hatte sich zwischen ihnen alles verändert.
»Darf ich rauchen?« fragte er.
»Gewiß! Hier ist überhaupt Raucherabteil!«
Sie sahen zum Fenster hinaus. Einmal zwang er sich, ihr eine komische Wahrnehmung mitzuteilen. Es gab einige Worte, und von da ab sprachen sie wieder miteinander, um die Qual dieser Stunde zu übertäuben. In Neustadt stand der Hamburger Schnellzug auf dem Nebengleis und rollte langsam ab. Mit diesem Zug war »damals« Dorette abgefahren. Sie dachten beide daran. Wieder wollte er sie fragen: »Woher wissen Sie, daß ich Dorette vor Swantemühl gekannt habe?« Wieder brachte er es nicht über die Lippen.
Die Fabrikvorstädte stiegen mit Gasometern und Röhrengewirr auf. Verrußte Rangiergleise dehnten sich in trostloser Gleichförmigkeit zu den geduckten Schuppen hin. Brückensysteme überschritten den Kanal und die Straßen. Noch fünf Minuten, dann liefen sie in der grauen Bahnhofshalle ein. Endlose Minuten. Sie gingen schweigend den Bahnsteig entlang, die Treppe hinunter. »Wie fahren Sie nach Hause?« fragte er. Es war ihm klar, daß sie verschiedene Wege nehmen würden. Er brachte sie zu der Autotaxe und öffnete den Schlag. Auf einmal stand der Abschied als Riesenaufgabe vor ihnen, die kaum zu bewältigen war. Er lüftete den Hut und machte eine tiefe Verbeugung. Und, merkwürdig, grade in diesem Augenblick mußte er an die Bronzegruppe denken, die zu Hause auf seinem Tisch stand.
»Ach ja!« seufzte sie und sah ihn ernst an. Er wollte die Tür schließen. Aber plötzlich reichte sie ihm die Hand. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen die Hand geben darf«, sagte sie zögernd, »aber ...«
»Aber?« fragte er zurück und erwiderte ihren Blick. Sie ist ein wundervolles Geschöpf, schoß es ihm durch den Kopf.
»Aber ich gebe sie Ihnen!« ergänzte sie und lächelte dazu ein wenig vor Verlegenheit. Sie schlug die Tür zu.
»Ich danke Ihnen dafür!« antwortete er, aber der Wagen rollte bereits davon. Sie konnte seine Worte nicht mehr gehört haben. Er blieb stehen. Wenn er die Augen aufhob, konnte er sie an der Ecke noch einmal in dem Wagenfenster von der Seite sehen. Aber er hielt den Blick gesenkt. Es war einfach so, daß er nicht wagte, ihr nachzublicken. Er fürchtete, daß auch sie sich nochmals umschauen würde und daß ihre Blicke sich kreuzten. Er wollte es nicht, denn Sabine hielt ihn für den Mörder ihres Vaters und – sie liebte ihn!
Sabine liebt mich! wußte er auf einmal voller Traurigkeit. Deshalb hat sie diese Fahrt mit mir gemacht! Und nun hat sie auf dieser Fahrt entdecken müssen, daß ich wirklich der Mörder ihres Vaters bin!
Eine Hupe ertönte dicht an seinem Ohr. Er sprang zurück. Die hastige Bewegung brachte ihn zu sich. Er bestieg den Autobus. Sollte er nach Hause fahren? Was sollte er in dem dunklen Zimmer? Vielleicht trieb man sich in der Nähe des Tiergartens umher, sah es sich einmal von unten an, wie es aussah, wenn die Rudel der Reiter die Sandwege entlanggaloppierten. Niemand würde ihn erkennen. Die Tattersallmenschen kannten ihn nur in der Stallmeistertracht. Jetzt war er ein eleganter Herr. Er sah bitter lächelnd an sich hernieder. Sabine redete von Verkleidung. Er war wirklich verkleidet. Nur daß er die Verkleidung nicht mehr abwerfen konnte. Dazu würde es nun nie mehr kommen. Wenn Sabine zu Holten gesprochen hatte, dann würde er verhaftet werden. Morgen früh oder heute nacht. Sabine war schon auf dem Wege zu Holten, um ihm zu sagen: »Ich weiß jetzt, Steegen ist der Mörder!«
Am Brandenburger Tor stieg er aus und nahm den Weg in den Tiergarten. Das Wetter hielt sich noch immer, obwohl der letzte Tag die Gewalt des Sommers endgültig gebrochen hatte. Die meisten würden heut noch einmal im Freien reiten. Auch Holten! fiel ihm ein. Der Rechtsanwalt erwartete Sabine erst abends zurück. Am Donnerstag ritt er gewöhnlich nachmittags, von sechzehn bis siebzehn, oder die nächste Stunde. Steegen sah nach der Uhr: es war halb siebzehn. Vielleicht traf er ihn bei der Amazone. Dann hatte er noch den ganzen Nachmittag Zeit. Erst wenn Sabine und Holten sich getroffen hatten, konnte es geschehen.
Das Ende kam! Sollte er sich sträuben? Aber etwas in ihm hatte gewußt, wie alles werden würde. Vielleicht war es gar nicht so sehr Dorette gewesen, worauf er die letzten zwei Jahre gewartet hatte, sondern dieses Ende. Er war in Gedanken bis zum Rosengarten gekommen. Alle Reiter Berlins schienen unterwegs zu sein. Die Hufe klopften lautlos den Sand, man hörte nur das Schnauben der Tiere, das Klirren der Kinnketten, das Knirschen der Sättel und die Stimmen der Reiter. Hinter den Büschen tauchten die wippenden Pferdeköpfe auf und dahinter die weißen Gesichter. Die Stämme der Bäume glänzten naß wie feuchter Basalt. Rote Büsche glühten durch das bunte Laub. Der Spiegel des Teiches war mit gelben Blättern zugedeckt, die langsam dunkel wurden und untersanken.
Durch den Hauptweg sah er drei Reiter traben: Werkenthin auf dem Schwarzschimmel eines Schriftstellers, Dr. Alstrich auf einem Verleihpferd und van Holten auf seinem Rappen, der auffallend mit der Vorderhand herausstach. Holten weiß noch nichts, fiel ihm im Augenblick ein. Die Gedanken gingen weiter. Ich muß ihn sprechen, ehe Sabine ihn aufgesucht hat. Ich werde ihm alles sagen. Ich werde mich ganz in seine Hand geben.
Er schlug den Weg zum Zoo ein und schritt wie ein rüstiger Wanderer aus. Die Herren würden noch um die Amazone und um den Rosengarten galoppieren. Er konnte im Tattersall sein, ehe Holten zurückkam. Draußen wollte er auf ihn warten und ihn ansprechen. Es war soweit!
Er kannte die Fußwege nicht und verlief sich einige Male. Seine Stirn wurde naß von dem ungewohnten Gehen. Er hastete vorwärts. Alles schien ihm davon abzuhängen, daß er Holten erreichte. Er kam an den Bahnhof und atmete auf. Jetzt konnte ihm der Rechtsanwalt nicht mehr entgehen. Eine Kavalkade vom Tattersall des Westens kam vom Wasserturm her angeprescht. Er blieb stehen und sah zu, wie die Reiter in dem Torbogen der Bahn verschwanden. Er wollte weitere gehen, aber plötzlich wurde er von einem merkwürdigen Anblick angezogen. Hinten im Sprunggarten hatte er die weißen Hinterfüße von Abercrons Braunem entdeckt. An dem eigenartigen Schwung der Bewegung erkannte er das Pferd, obwohl er nur die beiden weißen Fesseln sehen konnte. Er trat einige Schritte vor. Herr Schwarzer saß darauf. Seine langen Beine hielten den Braunen umklammert, und das Kreuz schien sich auf dem Rücken festzusaugen. Noch nie war es Steegen so aufgefallen, mit welcher Vollendung dieser Mann ritt.
Aber das allein war es nicht, was ihn fesselte, sondern das seltsame Tun des Reiters. Herr Schwarzer ritt gegen die große Hürde an. Mit großen Sätzen schnellte sich das Tier vorwärts. Aber jetzt, dicht vor der Hürde, blieb es mit plötzlichem Ruck stehen. Die Vorderbeine stemmten sich ein, der Hals bog sich zur Erde, der Rücken krümmte sich. Herr Schwarzer suchte sich durch engen Knieschluß im Sattel zu halten, aber die Wucht des plötzlichen Halts war so groß, daß er dem Tier fast auf den Hals fiel.
Noch einmal und dann noch einmal wiederholte sich das gleiche Schauspiel. In fliegender Karriere ging es bis zu der Hürde, und dann kam dieses plötzliche Bocken des Tieres, das den Reiter jedesmal nach vorn riß. Und erst beim viertenmal flog der Braune im eleganten Schwung hinüber. Es sah aus, als ob der Reiter ihn endlich bezwungen hätte.
Steegen trat zurück und zwang sich, mit schnellen Schritten der Hardenbergstraße zuzugehen. Herr Schwarzer durfte ihn nicht sehen. Herr Schwarzer! Es war die Vorbereitung zu einem Mord, was er soeben gesehen hatte. Oder konnte er sich getäuscht haben? Nein, er hatte sich nicht getäuscht! Er hatte das ungewöhnliche Zurücknehmen der Schenkel bemerkt, als der Braune endlich über die Hürde setzte. Wenn ein weniger guter Reiter, und unvorbereitet dazu, mit diesem Pferd sprang, dann mußte er über den Hals geschleudert werden!
Schwarzer oder ich! dachte er. Und Dorette? Wußte Dorette schon? Das stampfte mit Riesenschritten vorwärts. Soeben war alles noch fern gewesen. Lange Entwicklungen sollten sich noch dazwischenschieben. Noch einmal monatelanges Ringen wie damals in Swantemühl. Stundenlange Ritte mit Dorette, ein Anziehen und Abstoßen, langsames Steigen der Spannung, bis die taumelnde Begierde zum Wahnsinn fortriß. Noch einmal das alles! So hatte er sich das vorgestellt! Ja, er hatte es sich wirklich vorgestellt. Aber es wäre ja keine Zeit mehr dazu gewesen! Er war umstellt und vielleicht schon überführt. Holten wußte, daß er Dorette vor Swantemühl gekannt hatte. Damit war alles entschieden! Weshalb ging das diesmal so rasch? Es hatte kaum angefangen. Vor kaum drei Wochen hatte er Dorette wiedergesehen. Ja, genau vor drei Wochen war es gewesen, daß er zu Abercron hinging. An einem Donnerstag wie heut. Jeden Donnerstag fanden Abercrons merkwürdige Gesellschaften statt. Wie würde es heut damit stehen? Hatte der Kampf zwischen ihm und Dorette schon begonnen?
Eine wahnsinnige Lust packte ihn, in die Hildebrandtsche Privatstraße zu gehen und sich bei dem Industriellen melden zu lassen. Unter irgendeinem Vorwand! Er konnte ihm sagen: »Man wird versuchen, Sie mit dem Braunen zum Springen zu überreden. Springen Sie das Pferd nicht, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist!« Abercron würde ihn erstaunt ansehen. Ob er ihm morgen das Kunststück mit dem Pferd vormachte? Aber Dorette! Wo war Dorette? Oder vielleicht sagte man zu Abercron nichts davon. Man konnte nicht wissen. Vielleicht brauchte man den Trick noch einmal selbst. Das zog sich schon wieder zu einem unzerreißbaren Netz zusammen, aus dem man nicht mehr herausfand.
Er war in die Kantstraße eingebogen und stand an dem Hinterausgang des Tattersalls. Er sah nach der Uhr. Jeden Augenblick konnte Holten hier heraustreten. Der Rechtsanwalt würde ihn nicht einmal erkennen oder doch erst, wenn er dicht vor ihm stand. Einige Male mußte Steegen zurücke treten, um nicht mit Bekannten zusammenzustoßen, die aus dem Sattelhof herauskamen. Wahrscheinlich stand Holten jetzt grade unter der Dusche. Wenn er noch in dem Restaurant einen Mokka trank, dauerte es eine halbe Stunde, bis er kam.
Die Straßenlaternen flammten auf und verdüsterten den Himmel. So war es gestern gewesen, als Sabine ihn aufsuchte. Wie eine Ewigkeit lag das zurück. Diese Fahrt nach Swantemühl hatte die Entwicklung vorwärtsgetrieben. Oder Dorettes Hochzeit hatte sie vorwärtsgetrieben. Oder vielleicht war es Holten, der treibend dahinterstand. Es war noch gar nicht so lange her, daß er Holten kannte. Aber das hatte schon in dem Plan dieses Menschen gelegen, plötzlich aufzutauchen und dann jeden Tag dazusein. Das war schon wie ein Schlußstrich gewesen, den ein Feind unter der Rechnung gezogen hatte. Warten Sie, hatte der Rechtsanwalt zu Sabine gesagt, jetzt kaufe ich mir ein Pferd und werde diesen Stallmeister beobachten und erschrecken. Und wenn es soweit ist, greife ich zu! Und Sie selber sollen mit ihm nach Swantemühl fahren und mir dann sagen, was Sie von ihm denken. Nun, ist er der Mörder? Und heute abend würde Sabine nicken und gestehen: Ja, er ist es! Heute abend, an diesem selben Abend, der gerade jetzt mit den aufflammenden Laternen begann.
Er sah Holten mit Dr. Alstrich über den Hof kommen und klemmte sich gegen die Mauer. Die beiden Herren gingen langsam der Joachimstaler Straße zu. Sie standen eine Weile und unterhielten sich. Alstrich stieg in eine Elektrische, Holten hob die Hand, um ein Auto heranzuwinken. In diesem Augenblick ging Steegen auf ihn zu und lüftete den Hut. Der Rechtsanwalt drehte sich hastig herum. Seine Augen funkelten vor Freundlichkeit.
»Ah, Herr Steegen, und heute einmal in Zivil! Es steht Ihnen besser als die Stallmeisterkleidung.«
»Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen, Herr Doktor!«
»Ich weiß, ich weiß. Eigentlich warte ich seit einigen Tagen darauf. Kommen Sie bitte mit in mein Büro!« Er ließ ihn höflich voran.