Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ich sagte Ihnen bereits, daß es im Laufe der Zeit zu offenen Feindseligkeiten zwischen Blankenhorn und mir kam. Den Anlaß gaben wirtschaftliche Differenzen, aber der Kampf um Dorette stand natürlich dahinter. Blankenhorn muß es unterbewußt gefühlt haben, daß unsre Feindschaft ihn bedrohte, schon zu einer Zeit, als zwischen Dorette und mir noch nicht ein Wort darüber gewechselt war. Vielleicht wußte er selbst nicht, was ihn trieb. Er kam uns damals vor wie eine vergiftete Ratte im Käfig, und wir nannten ihn auch schlechtweg die Ratte. Er begann zu toben und zu rasen.
Ich weiß nicht, wieviel die andern davon bemerkt haben. Die Mahlzeiten vollzogen sich in alter Weise. Es wurde bei Tisch kaum ein Wort gesprochen. Wir sechs Menschen saßen verängstigt und schweigend beisammen. Besuch kam in dieser Zeit fast gar nicht mehr ins Schloß. Wahrscheinlich hat Blankenhorn die gewohnten Gäste durch Rücksichtslosigkeiten vertrieben. Sein Gesicht war bis dahin brutal und roh gewesen, jetzt wurde es geradezu bösartig. Die Ohren legten sich eng an den Kopf an, der Schnurrbart sträubte sich nach vorn. Er sah wirklich wie eine Ratte aus. Ein Bild aus jener Zeit ging an seinem fünfzigsten Geburtstag durch die Fachzeitschriften. Er wurde mit seinem Hengst Hamilkar wegen großer Verdienste um die Warmblutzucht sehr gerühmt. Als ich das Bild sah, erfaßte mich ein Schrecken. Ich mußte mich fragen, ob denn nicht alle Menschen sahen, daß hier eine bösartige Ratte gefeiert wurde.
Manchmal glaube ich selbst, daß Dorette und ich mit den Zornausbrüchen Blankenhorns nichts zu tun hatten. Es konnten andre Gründe dahinterstecken. Oft kam er in dieser Zeit drei Tage lang nicht nach Hause. Ich fand ihn einmal betrunken mit einer ebenso betrunkenen Scharwerksmargell in einer Roggenmiete liegen.«
»Dann hatte seine Frau ja den schönsten Scheidungsgrund.«
»Jawohl, Scheidungsgrund!« lachte Steegen auf. »Wie sollte sie sich scheiden lassen? Aus Blankenhorn wäre kein Geld herauszuziehen gewesen. Dorette hätte verhungern können, ehe sie etwas, auch bei dem günstigsten Urteil, von ihm erhielt. Er wußte das ganz genau und nutzte diese Sachlage mit einer geradezu viehischen Gemeinheit aus, sie zu quälen. Und dann passierte jene furchtbare Szene, um derentwillen allein er hätte sterben müssen.
Es war zwei Tage, nachdem ich ihn mit der betrunkenen Dirne getroffen hatte. Ich wollte ihn wegen einer dienstlichen Angelegenheit sprechen und kam gerade durch den Flur des Schlosses, als er mit blutunterlaufenen Augen die Treppe heruntergestürmt kam, die Reitpeitsche in der Hand. Er sah mich nicht, sondern tobte an mir vorüber in sein Zimmer. Dort klingelte er. Das Mädchen wagte kaum hineinzugehen. Er schlug mit der Peitsche auf den Tisch und brüllte, daß Dorette sofort in sein Zimmer kommen solle.
Ich hatte mich hinter die Haustür zurückgezogen. Eigentlich hätte ich fortgehen müssen, aber ich blieb stehen. Ich mußte sehen, was nun geschah. Dorette kam die Treppe herunter. Es mußte oben eine Auseinandersetzung zwischen den beiden gegeben haben. Ich merkte es ihr sofort an. Trotzdem war sie einigermaßen ruhig. Sie öffnete die Tür zu seinem Zimmer, blieb ein wenig stehen und sah zu dem wütenden Mann hin mit einem Ausdruck, den ich nie vergessen werde. Sie zitterte vor Angst am ganzen Leib, sie duckte sich vor dem Schlag der Gerte, und doch – auf eine geheimnisvolle Weise lächelte sie ihm zu, wie eine Sklavin, die zu allem bereit ist, Schläge oder Liebe zu empfangen.
Ich stand erstarrt. Auf einmal wußte ich, mit welchen Mitteln allein sie sich seiner hatte erwehren können. Er zog sie in das Zimmer hinein, und dort nahm er sie.«
Steegen hielt einen Augenblick inne. Die Erinnerung war zu stark.
Nach einer Weile fuhr er fort: »Ich überlegte mir natürlich, ob ich nicht hervorstürzen und ihr helfen sollte. Ich weiß noch heute nicht, weshalb ich es nicht getan habe. Vielleicht war auch in ihrem Benehmen etwas, was mich stutzig machte. Einen Augenblick ging es mir sogar durch den Sinn, daß seine Art vielleicht die einzig richtige war, um sie zu zähmen. Ich gestehe es mit Scham, daß mir das sekundenlang durch das Gehirn blitzte. Aber das war natürlich Unsinn. Dorette litt Unmenschliches. Ich aber hätte ihr nicht helfen können. Blankenhorn verfügte über ungewöhnliche Kräfte. Er hätte mich kurzerhand erledigt und Dorettes Erniedrigung um ein Vielfaches gesteigert. Aber damals schwur ich mir, daß er sterben sollte, und in demselben Zimmer, in dem er sich an ihr vergangen hatte. Und damals blitzte es mir zum erstenmal auf, wie das geschehen konnte. Sie wissen: aus dem vermauerten Winkel heraus durch die Wand.«
»Ah!« machte van Holten unwillkürlich.
»Ja, damals begann es. Zufällig hatte ich diesen Winkel entdeckt und bemerkt, daß die Mauersteine sich leicht aus der Wand lösen ließen. Ich begann, die Wand von innen her zu studieren und auszumessen. Die Tapete hinter dem Bücherregal war durchlöchert. Die Fetzen konnten herabgerissen werden. Ich schlich mich in das Zimmer, sobald ich Blankenhorn fort wußte. Es wurde mir klar, daß das Loch genau in der Höhe von Varnhagens Erinnerungen durchgestoßen werden mußte. Ich bearbeitete die Mauer von außen. Dazu wählte ich vorzüglich die Mittagsstunden, denn ich wußte, wie die Nacht die Geräusche verstärkt. Am Mittag aber war man hinter den Büschen völlig ungestört.
Vielleicht wäre ich in meinem Bemühen dennoch eingeschlafen, wenn nicht auch ich noch einen Zusammenstoß mit Blankenhorn gehabt hätte. Bei einer Unterredung bedrohte er mich mit der Reitpeitsche. Ich konnte mich nicht wehren, denn er hätte mich einfach niedergeschlagen. Damals hatte ich zum erstenmal das Gefühl, daß er um meine Vergangenheit und meinen adligen Namen wußte. Ich merkte ihm die Freude an, mich zu demütigen. Durch diesen Auftritt hatte er zum zweitenmal sein Leben verwirkt.
Er muß etwas davon geahnt haben, denn seit dieser Zeit war er höllisch vorsichtig mir gegenüber. Nach wie vor gingen wir zusammen auf die Jagd. Es wäre vielleicht das Einfachste gewesen, ihn bei diesen Jagdgängen zu erschießen und einen Unglücksfall vorzutäuschen. Es wäre sogar glaubhaft gewesen, daß er sich bei seiner bedrängten wirtschaftlichen Lage selbst erschossen hätte. Aber ich merkte genau, wie er sich vorsah. Stets mußte uns der Förster begleiten, und er verstand es bei den Gängen so einzurichten, daß entweder ich oder er in der Nähe des Försters war. Auf diesen Förster – er hieß Ahlmann – hielt er große Stücke. Er wußte, daß dieser Mann ihm blind ergeben war. Ahlmann hing auch an ihm. Blankenhorn war ein vorzüglicher Jäger. Eine ganz große Autorität auf diesem Gebiet. Das imponierte dem Förster natürlich. Wie mir ja auch die Pferdekenntnisse Blankenhorns imponierten.«
»So hatte er wirklich Verdienste auf dem Gebiet der Warmblutzucht?« fragte van Holten lächelnd.
»Die hatte er in der Tat. Durch Kreuzung des kleinen ostpreußischen Pferdes mit dem größeren Hannoveraner schuf er einen neuen, geradezu unvergleichlichen Typ. Seine Pferdekenntnis war schon nicht mehr die des Kenners, sondern des großen Spitzbuben. Er selbst fuhr und ritt übrigens mäßig, aber stets traf er mit seinen Anordnungen den Nagel auf den Kopf. Nur durch die Art des Anspannens brachte er widerspenstige Tiere zur Räson. Wild und Pferden gegenüber zeigte er ein Tast- und Zartgefühl, das ihm Menschen gegenüber leider völlig fehlte. Doch wir schweifen ab.
Erst nach den geschilderten Auftritten äußerte ich zum erstenmal zu Dorette, daß ich Blankenhorn erschießen würde, und hielt sie von jetzt ab über meine Vorbereitungen auf dem laufenden. Ich wollte Blankenhorn mit seinem eigenen Drilling erschießen. Er pflegte mir dieses Gewehr zum Putzen anzuvertrauen. Es befand sich also oft tagelang in meinem Inspektorzimmer. Wenn ich es geputzt und geölt hatte, stellte ich es wieder in den Gewehrschrank, der sich in seinem Zimmer befand. Es fiel also nicht weiter auf, ob das Gewehr dort stand oder fehlte. Trotzdem gab nachher bei den Vernehmungen Karla ganz richtig an, daß es am letzten Abend nicht in dem Gewehrschrank gestanden hätte.
Ich war mit meinen Vorbereitungen so ziemlich fertig. Die Ziegel waren leicht aus der Wand herauszunehmen. In der Rückseite des Bücherregals hatte ich ein Brett genügend gelöst, so daß es fast ohne Geräusch zu entfernen war. Als Zeit hatte ich die Stunde festgesetzt, in der Blankenhorn sich allein in seinem Zimmer aufhielt, nachdem die andern Familienmitglieder sich zur Ruhe begeben hatten. Nach dem Abendessen saß die Familie gewöhnlich noch eine Stunde in dem Arbeitszimmer beisammen. An dieser Form hielt man fest, auch als Blankenhorns Verhalten schon zur Katastrophe drängte. Ich weiß nicht, wie er sich damals seiner Mutter und seinen Töchtern gegenüber gegeben hat. Es ist durchaus möglich, daß sie von den furchtbaren Auftritten zwischen ihm und Dorette keine Ahnung hatten. Vielleicht hat er sich vor ihnen geschämt. Möglicherweise aber hat er sie nicht besser behandelt als uns. Manchmal wurde auch ich aufgefordert, noch ein wenig dort zu bleiben. Ich bekam dann eine Zigarre und saß still auf meinem Stuhl, bis mir mein Inspektortaktgefühl sagte, daß ich mich zu entfernen hatte. Um einundzwanzig ging die Familie schlafen oder wenigstens auf ihre Zimmer. Bis Punkt zweiundzwanzig saß Blankenhorn noch an seinem Schreibtisch und arbeitete oder las in einem Sessel einen Roman. In dieser Stunde sollte er erschossen werden!
Eigentlich hätte ich es schon seit einigen Tagen tun können. Ich weiß nicht, weshalb ich es immer noch hinauszögerte. Aber es ist eine eigne Sache, einen Menschen zu erschießen, auch wenn er sein Leben verwirkt hat. Ich glaube, daß eine ganze Menge Morde nicht zur Ausführung kommen, obwohl sie vollkommen vorbereitet sind, weil nachher ein letzter Anstoß fehlt. In unserm Fall kam dieser Anstoß.
Eines Tages waren wir wie immer ausgeritten. Wir galoppierten bis zum Wald. Das war der erste Linksgalopp. Dann ritten wir im Schritt durch einen Jagen. Hierbei stellte sie wie gewöhnlich ihren Fuß in meinen Bügel, und wir küßten uns auch, indem wir ganz nahe an die Bäume heranritten, so daß man uns von weitem nicht beobachten konnte. Dann kam der Zehnminutentrab auf einem Feldweg und wieder eine Viertelstunde Trab durch den Wald bis zu dem Ahornbaum, wo wir abstiegen. Zum Wald hinaus und die Straße bis zum Dorf sollte der übliche Rechtsgalopp kommen. Obwohl wir uns an diesem Tag vollkommen sicher fühlten, vermieden wir es doch, unter den Zweigen des Ahornbaumes uns zu küssen oder etwas Wichtiges zu besprechen. Wir mochten wohl das unbestimmte Gefühl haben, beobachtet zu werden. Und die nahe Katastrophe lastete mit Unheimlichkeit auf uns. Rascher als gewöhnlich brachen wir von unserm Baum auf. Als wir das freie Feld erreichten, sahen wir in einiger Entfernung Blankenhorn aus dem Wald kommen und quer über die Wiesen gehen. Es bestand um so mehr die Möglichkeit, daß er uns nachspüren wollte, als er mir gesagt hatte, daß er zu den Schnittern am andern Ende des Gutsbezirks gehen würde. Erst jetzt fiel mir das ein. Er mußte plötzlich kehrtgemacht haben und uns gefolgt sein. Da ging er also, kaum zweihundert Meter neben uns, über die Wiesen. Hatte er uns beobachtet oder war er nur auf einem gewöhnlichen Spaziergang? Wir taten, als ob wir ihn nicht bemerkten, verabredeten uns aber, ihm auf eine eventuelle Frage zu antworten, daß wir eine Weile bei dem Ahornbaum gesessen hätten.
Ich selbst hatte eigentlich keinen Zweifel, daß er uns nachgespürt hatte. Ich war auch fest überzeugt davon, daß er uns von diesem Nachmittag an nach dem Leben trachtete. An diesem Abend mußte es geschehen, denn wer weiß, ob wir die Nacht noch überlebten. Wir ritten den Weg im Galopp, um ihm vorauszukommen. Ich hätte für mein Leben gern einen Blick nach rückwärts geworfen, um sein Gesicht zu sehen. Im Hof gaben wir die Pferde ab. Ich holte mir den Drilling aus seinem Zimmer, schon aus dem Grunde, weil es mir gefährlich schien, diese Waffe in seiner Nähe zu lassen. Da kein Mensch zu sehen war, brachte ich das Gewehr sofort in mein Versteck und lehnte es dort gegen die Wand. Am Abend hatte ich es dann gleich zur Stelle.
Das Abendessen kam. Es verlief wie gewöhnlich. Nach Tisch ging man in das Herrenzimmer. Auch ich wurde aufgefordert mitzukommen. Blankenhorn hatte einen besonders freundlichen Ton angeschlagen, der mich stutzig machte. Als ich durch die Tür eintrat, sah ich sofort, daß die Reitpeitsche quer über dem Schreibtisch lag. Mein erster Gedanke war, daß er mir jetzt in Gegenwart der andern ins Gesicht schlagen würde. Vielleicht spielte er auch mit diesem Gedanken. Ich möchte es für mein Leben gern wissen, ob es so war. Es kann sein, daß ihn nur der Gedanke an meine wirtschaftliche Tüchtigkeit zurückgehalten hat. Er mußte fürchten, mich zu verlieren, weil ich immer noch aus dem verlodderten Gut Geld herauszuholen verstand. Vielleicht hat er auch nur den rechten Übergang zu einer solchen Szene nicht gefunden.
Ich glaubte zu bemerken, daß die Reitpeitsche alle Anwesenden ein wenig erschreckte. Aber die übliche halbe Stunde ging ohne Katastrophe vorüber. Mir war im übrigen alles gleichgültig geworden. Mochte Blankenhorn mich schlagen! Draußen an der Mauer lehnte schon das geladene Gewehr, das mich eine Stunde später rächen würde. Ich hätte mich nicht zur Wehr gesetzt. Ohne Laut hätte ich die Streiche empfangen und hätte mich mit langsamen Schritten aus dem Zimmer entfernt.
Aber ich erhielt eine Zigarre und mußte Platz nehmen. Blankenhorns Mutter nahm wie immer eine Strickarbeit vor. Dorette legte eine Patience. Nie gingen Patiencen bei ihr auf. Die Mädels saßen im Hintergrund auf der Couch und blätterten in einem illustrierten Buch. Es war wie immer. Ich rauchte meine Zigarre möglichst schnell zu Ende. Dann hatte ich zu fragen, ob Herr Blankenhorn noch Befehle hätte. Jedesmal fragte er, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen: ›Wollen Sie schon gehen?‹ Jedesmal murmelte ich etwas von frühem Aufstehen und verabschiedete mich mit einer allgemeinen Verbeugung, die kaum beachtet wurde.
Ich war draußen. Ich wußte, daß die andern in einer halben Stunde schlafen gingen. Dann schloß Blankenhorn die Haustür von innen ab. Er tat das immer selbst. Dann würde er sich an den Schreibtisch oder in einen Sessel setzen. Die Schwierigkeit lag darin, daß ich nicht genau wußte, welche Stellung er in dem Augenblick einnahm, da ich das Gewehr durch die Luke steckte. Ich hatte nur einen kurzen Augenblick zum Zielen. Wenn ich vorbeischoß, war ich verloren. In diesen einen Augenblick, da ich von dem Regal das Brett abhob und das Gewehr hob, drängte sich alles zusammen. Ganz ohne Geräusch konnte es nicht abgehen. Er würde den Kopf heben und hinhorchen. Ich hatte mir alles tausendmal überlegt. Ich wußte, daß diese Sekunden eine Kaltblütigkeit sondergleichen von mir forderten. Wenn er den Kopf hob, mußte ich schießen. Nicht früher, da durch die unerwartete schnelle Bewegung die Kugel vorbeigehen konnte. Dann wollte ich die Waffe geschickt in das Zimmer hineinwerfen, um die Möglichkeit eines Selbstmordes offen zu lassen. Dabei mußte ich mich hüten, eines der Bücher zu berühren, um meine Spur nicht zu verraten. Dann war das Brett wieder sorgfältig einzufügen. Nach Möglichkeit mußten auch die Ziegel in das Mauerloch getan werden. Dann stürzte ich am besten gleich auf die Haustür zu und schlug Lärm. Es mußte aussehen, als ob ich auf das Geräusch des Schusses aus meinem Inspektorzimmer herbeigeeilt käme, um zu helfen. Ich wollte läuten und mit den Fäusten gegen die Tür trommeln.
Natürlich war auch sonst noch manches zu bedenken. Ich mußte Handschuhe anziehen, damit man an dem Gewehr nicht frische Daumenabdrücke von mir entdeckte. Ich mußte in meinem Zimmer das Fenster offenstehen lassen, damit es glaubhaft war, daß ich den Schuß gehört hatte. Ich mußte auch die Lampe brennen lassen und ein Buch auf den Tisch legen. Ich überlegte mir auch lange, ob ich etwa später gesehen haben sollte, wie eine dunkle Gestalt gerade im Innern des Parks verschwand. Aber das konnte gefährlich werden. Ich beschloß, nichts bemerkt zu haben. Ich hielt es immerhin für wahrscheinlich, daß man nach dem Befund ohne weiteres einen Selbstmord annehmen würde. Nur das eine hatte ich mir nicht überlegt, daß im Falle eines Selbstmords die Lebensversicherung für Dorette nicht in Kraft trat.
Als ich in meinem Zimmer saß, war ich furchtbar ruhig. Ich legte die Uhr vor mich hin auf den Tisch. Wenn in Dorettes Schlafzimmer das Licht anging, war das das Zeichen, daß die Damen ihre oberen Zimmer aufgesucht hatten. Dann wollte ich noch zehn Minuten warten. Ich zwang mich wirklich, in dem Buch einige Seiten zu lesen. Dazu machte ich bestimmte Atemübungen, um meine Ruhe zu bewahren. Ich war wirklich ganz ruhig. Übrigens hatte ich ein gewisses Mißtrauen gegen diese Ruhe. Es war, als ob mir jemand ständig zurief, daß es nicht geschehen würde. Ich glaubte einfach nicht daran, daß ich gleich, nach einer Viertelstunde etwa, mich hinausschleichen würde, um Blankenhorn zu erschießen. Ich hatte mich im Verdacht, daß ich einfach sitzen bleiben und das Buch auslesen würde. Ich mußte mich zwingen, an die Reitpeitsche auf dem Schreibtisch und an die furchtbaren Szenen der letzten Tage zu denken. Ich mußte mich zu der Überzeugung zwingen, daß Blankenhorn mich in der allernächsten Zeit wie einen Hund über den Haufen schießen würde. Es half nichts. Obwohl ich fest entschlossen war, genau nach der Uhr aufzubrechen, glaubte ich einfach nicht daran, daß es geschehen würde.
Ich sah das Licht in Dorettes Zimmer. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Noch zehn Minuten! Ich zog den Vorhang vor, damit man mich nicht von draußen beobachten konnte, aber das Fenster selbst ließ ich, meinem Programm folgend, offen. Ganz langsam zog ich mir meine wildledernen Reithandschuhe an. Auch das hatte ich mir genau überlegt. Sie hinterließen keine Spuren auf der Waffe und waren mir bequem und weich genug. Dann legte ich den Stuhl um. Es sollte so aussehen, als ob ich ihn in der Aufregung umgestoßen hätte. Die Tür hingegen wollte ich hinter mir schließen, damit nicht etwa ein Vorübergehender das leere Zimmer bemerkte.
Es waren noch zwei Minuten Zeit. Dennoch brach ich schon jetzt auf. Ich wußte nicht, ob ich meinen Entschluß in den zwei Minuten nicht ändern würde. Es war alles fertig. Der Stuhl lag auf der Erde. Ich hatte noch einen letzten Knopf an meinen Handschuhen zu schließen. Ich legte die Hand auf den Türdrücker. Ich gab einen leichten Druck. Die Tür ging auf.
In diesem Augenblick hörte ich von draußen den Schuß. Unmittelbar darauf das Poltern des in das Herrenzimmer geworfenen Gewehrs. Eine Totenstille von grundloser Ewigkeit folgte. Ich war so verwirrt, daß ich einige Sekunden lang nicht wußte, ob ich nicht wirklich selbst in dumpfer Bewußtlosigkeit alles ausgeführt hatte. Ich suchte mich krampfhaft auf mein Programm zu besinnen. Was hatte ich jetzt zu tun? Gegen die Haustür des Schlosses zu laufen und mit den Fäusten dagegen zu trommeln! Ich stürzte hinaus. Ich sah in den Schlafzimmern, im Treppenhaus Licht aufflammen. Ich hörte Schreie. An der Tür merkte ich, daß ich noch meine Handschuhe anhatte. Das konnte mich verraten. Ich riß sie ab und steckte sie ein. Dann schlug ich gegen die Tür und läutete Sturm. Karla machte mir auf. Was ist? Was ist? schrie ich.
›Vater hat sich erschossen!‹
Ich ging in das Zimmer, in dem sich die andern bereits befanden, außer Dorette, die erst in diesem Augenblick herein, gestürzt kam. Ich sah Blankenhorn auf dem Sessel in seinem Blut liegen, mitten durch die Stirn getroffen, genau, wie ich es mir vorgenommen hatte. Das Gewehr lag vor dem Bücherregal. Die Bücherreihen waren in Ordnung. Hinter ihnen glänzte im Schein der Lampe das dunkelgebeizte Holz der Rückwand. Wieder war ich mir durch Sekunden hindurch nicht klar darüber, ob ich es nicht doch gewesen war. Ich empfand mich förmlich draußen an der Wand lehnen und den Atem anhalten.
Dorettes Stimme knallte mir ins Ohr: ›Es darf nichts verändert werden, bis die Polizei dagewesen ist!‹ Mehr weiß ich eigentlich nicht, was in dieser Stunde geschah, bis die Polizei eintraf und nichts fand.«