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Am nächsten Morgen war der Himmel bezogen. Mit den blauen Sommertagen, die sich weit in den Herbst hineingezogen hatten, schien es plötzlich zu Ende. Als Steegen zum Tattersall ging, trieb aus den ineinandergeschobenen Wolkenbänken die nasse Bö eines kleinen Regenschauers von eisiger Kälte herab. In einigen Tagen würde man nur noch bahnreiten, stellte er fest. Im Tiergarten rüttelte der Wind an den alten Bäumen, daß die Blätter niederwirbelten.
»Sie reiten den Braunen heute zum letztenmal!« sagte der Stallbursche, der Abercrons Pferd brachte. »Herr Schwarzer wird ihn von nun an selber reiten.« Steegen probierte nochmals alle Gänge durch, sprang über die Hürde und den Graben.
Das Tier war fertig. Jeder konnte es reiten. Er klopfte ihm zum Abschied Hals und Schnauze. Weshalb wurde ihm dieses Pferd gerade jetzt fortgenommen? Sollte mit Dorettes Hochzeit alles zwischen ihnen zu Ende sein.
Er hatte noch Zeit, sich umzuziehen und zum Standesamt zu fahren. Sie saßen in dem Vorraum und warteten: Abercron in dem Herbstulster, aus dem das wulstige Genick herauswuchs. Dorette, deren kleiner Schirm gelangweilt mit den Stiefelspitzen spielte. Schwerknochig und hager Herr Schwarzer. Er wollte die Herren nach dem Braunen fragen, unterließ es aber. Vielleicht hatten sie und Dorette beschlossen, daß er die Zeremonie dieser Hochzeit noch mitmachen und dann verschwinden sollte. Dorette brauchte ihn nicht mehr. Sie hatte sich von seiner Ungefährlichkeit überzeugt.
Steegen sah scheu in die Gesichter der andern. Sie saßen ruhig da und schauten still vor sich hin. War Herr Schwarzer der Mann, von dem Dorette noch gestern nacht versucht hatte, zehntausend Mark zu bekommen? Sie wußten alle zuviel und zuwenig voneinander.
Der Standesbeamte rief sie herein. Der Mann hatte etwas professionell Feierliches in der Stimme. Sicher sprach er am Mittagstisch zu Hause mit dem gleichen sonoren Tonfall. Abercron sagte sein Ja, Dorettes Stimme zitterte ein wenig. Dorette war Frau Abercron. Sie bewohnte jetzt eine fürstliche Villa in der Hildebrandtschen Privatstraße, sie besaß Autos und Pferde. Nur, in einigen Tagen würde sie ihren Mann um einige tausend Mark bitten müssen, und wieder ein paar Tage später würde ein Rechtsanwalt unerhörte Beschuldigungen gegen sie vorbringen. Was würde er beweisen können? Das war die Frage, vor der Steegens Gedanken haltmachen mußten. Was würde van Holten beweisen können?
Sie fuhren in eine Kirche, deren Gewölbe erstaunt einem ziellosen Orgelvorspiel zuhörte. Ein Pfarrer stand vor dem Altar und mußte seine Stimme bis zum Flüstern dämpfen, um nicht den Widerhall in dem leeren Raum übermächtig aufzuwecken. Das Paar stand verloren inmitten des großen Halbrondells, und die beiden Zeugen drückten sich verlegen vor den leeren Bänken herum. Diese Trauung hatte keine Ordnung in sich. Dann standen sie alle vier draußen und reichten sich die Hände. Abercron hatte seine Frau untergefaßt. Herr Schwarzer und Rolf Steegen zündeten sich Zigaretten an. Niemand wußte recht, was er sagen sollte. Eine Atmosphäre von Feindseligkeit lagerte um jeden von ihnen. Der Pfarrer kam aus der Sakristei, drückte sich vor den vier, um nicht grüßen zu müssen, und tauchte ins Straßengewühl unter.
Plötzlich fing Dorette an zu weinen. Die Trostlosigkeit der leeren Zeremonie brachte sie außer Fassung. Irgendein Klang von Hochzeit, Myrten und Schleier mußte durch ihr Herz gefahren sein. Abercron schob sie verlegen in den Wagen. Ein wehes Gefühl durchschnitt Steegen, da sich Dorette in diesem Augenblick der Bodenlosigkeit ihrer Existenz bewußt wurde. Der Motor zog an. Abercron und seine Frau waren fort.
»Sie haben den Braunen gut geritten«, sagte Herr Schwarzer. »Sie wissen, daß ich ihn von jetzt selbst reiten werde?«
»Jawohl!«
»Abercron will ihn später auch reiten. Er liebt das Tier. Übrigens hat es beim Springen eine Eigentümlichkeit: es krümmt vor dem Hindernis den Rücken und bockt. Wenn man ihm in diesem Augenblick nicht die richtige Hilfe gibt, fliegt man über den Kopf. Haben Sie es bemerkt? Es kann leicht ein Unglück geben!«
Steegen hatte nichts davon bemerkt. Unter ihm setzte das Tier glatt über die Hürde.
»Vielleicht reite ich es auch nicht richtig«, gab Herr Schwarzer zu und verabschiedete sich.
Steegen sah ihm kopfschüttelnd nach. Dieser Mann war ihm unheimlich. Er hatte ihn im Sprunggarten beobachtet. Herr Schwarzer ritt vorzüglich. Vielleicht hatte der Braune wirklich Nücken.
Steegen stieg auf die Elektrische. Um zwölf hatte er noch ein Pferd zu reiten. Es war halbzwölf durch. Die Trauung hatte ihn Zeit gekostet. Bei dieser Feststellung fielen ihm von neuem Dorettes Tränen ein. Was war das für eine Hochzeit gewesen!
Über Mittag legte er sich auf die Pritsche der Stallwache. Er war todmüde, und er wollte an Dorette denken. Wie er sich aus dem Stroh ein Kissen zurechtdrückte, wurde er an irgendeine Zeit erinnert, in der er sich wohlgefühlt hatte. Er besann sich nicht darauf, was das für eine Zeit gewesen sein konnte. Ferien in der Gymnasiastenzeit oder eine Ruhestellung im Kriege? Er hatte nur das Gefühl völliger Unbeschwertheit in der Erinnerung. Aber einmal hatte er sich so in das Stroh hineingewühlt und war besinnungslos glücklich gewesen. Es mußte zehn oder fünfzehn Jahre her sein. Der Gegensatz zu seiner jetzigen Lage preßte ihm ein Seufzen ab. Er drückte die Fäuste gegen die Augen. Die Gedanken wirbelten durcheinander. Er fiel in Schlaf.
Das Geschrei der Stallburschen weckte ihn, die die Pferde sattelten. Im Augenblick, da er den Kopf hob, war die Gegenwart wieder da. Er hatte es im Gefühl, daß heute noch etwas geschehen würde. Der Rechtsanwalt van Holten wußte von Abercrons Hochzeit. Er würde Dorettes Freund beobachten lassen. Was geschah in dem feindlichen Lager? Zu seiner eigenen Überraschung schloß er noch einmal die Augen und blieb zwei Minuten liegen. Er suchte nach einem Entschluß und konnte keinen finden. Er zählte sein Geld durch. Dorette hatte ihm die siebenundvierzig Mark nicht wiedergegeben. Es langte jetzt nicht zu der Fahrt nach Ostpreußen. Man mußte bis zum nächsten Ersten warten. Bis dahin würde das Verhängnis ihn gepackt haben. In zehn Tagen war der Termin. Holten mußte arbeiten. Was würde heute geschehen?
Er stand langsam auf und entfernte die Strohhalme aus Haar und Kleidern. Zwei Reitschülerinnen warteten draußen auf ihn. Es regnete nicht, man konnte in den Tiergarten. Die Wege waren gelb von gefallenem Laub. Das drittemal erlebte er hier den beginnenden Herbst. Zwei Jahre hindurch hatte er Dorette herangewartet. In diesem Jahr war sie gekommen und wieder verschwunden. Nichts war gewesen. Ein Phantom, ein Idol in Wolken war vorübergezogen. Der Bildhauer hatte recht. Das Laub raschelte unter den Hufen der Pferde.
Als er nach einer Stunde zurückkam, winkte der Portier ihm zu. Eine Dame hatte nach ihm gefragt. Sie wollte um achtzehn Uhr wiederkommen. »Reitschülerin?« Nein, es war eine andre Dame gewesen. Noch zwei Touren mußte er machen, eine mit Dr. Alstrich, eine mit einer Studentin, dann sah er sie im Hof stehen. Eigentlich sah er nur den grauen Filzhut und wunderte sich selbst, daß er sie daran erkannte: Sabine! Er mußte einige Schritte weiterreiten, ehe er sie ganz sah. Sie beobachtete interessiert zwei Pferde, denen die Beine gewaschen wurden.
Hatte er sich nicht drei Sekunden lang gefreut, als sie überraschend in dem blauen Mantel auf dem Hof stand? Aber sie mußte heute kommen. Holten war fortgeblieben. Er hatte Sabine geschickt. Das gab es nicht, daß man ihn an diesem Tag ohne Aufsicht ließ.
Sabine wandte sich bei dem Hufgeklapper um und sah ihn vom Pferde steigen. »Ich mache Ihnen als höflicher Mensch meinen Gegenbesuch«, sagte sie lächelnd. »Übrigens gefällt es mir hier. Man kann Bewegungsstudien machen. Ich muß einmal mit meinem Skizzenbuch hierherkommen. Ob das erlaubt ist?«
»Der Fall ist noch nicht vorgekommen. Bildhauern Sie öfters Pferde?«
»Ich möchte gern, aber Ihr Ulfilas war bisher das einzige. Merkwürdig, wie wenig Notiz die Hochschule für bildende Künste und diese hervorragende Anstalt für wundervolle Naturgebilde voneinander nehmen. Die Hardenbergstraße scheint zu tief zu sein. Was unternehmen Sie heut abend?«
»Gar nichts!« sagte er. »Ich gehe nach Hause, esse eine Kleinigkeit, wasche mich, lese und schlafe. Morgen um sechs muß ich wieder hier sein.« Es setzte ihn in Verlegenheit, daß er ihr nichts zu bieten hatte. Sollte er ihr Pferde zeigen, die nicht ihm gehörten? Sollte er sie einladen, in einem kleinen Restaurant mit ihm zu speisen? Er fühlte eine Leere, als ob sein Leben in den drei Jahren ausgelaufen war, in denen es um Dorette gekreist hatte. Er sah unsicher an sich herunter.
»Ich wollte Sie um etwas bitten!« sagte Sabine. In diesem Augenblick prasselte überraschend eine Regenbö hernieder. Sie flüchteten in die Stalltür. Drinnen wurde abgefüttert. Die Knechte liefen mit den Futterkiepen hin und her. Der Futtermeister fluchte. Die Pferde wieherten und scharrten mit den Vorderhufen. Jemand drehte das elektrische Licht an. Mit einem Schlage wurde es draußen dunkel. Die Züge, die in kurzen Abständen über die Torbogen donnerten, warfen ihre Rauchfahnen, die eben noch schwarz und schattenhaft gewirkt hatten, als hellen Schein über das nasse Pflaster, das mit flüssigen Lichtern glitzerte. Steegen und Sabine standen in der Tür zwischen Hell und Dunkel.
»Wenn man den Stall sieht, bekommt man Heimweh nach Swantemühl«, sagte Sabine. »Ich bange mich seit Ihrem Besuch gestern aufs Land. Deswegen bin ich gekommen. Begleiten Sie mich morgen nach Swantemühl!«
Er sah sie überrascht an. Das also war es! Man wollte ihn nach Swantemühl locken. »Ich kann nicht!« sagte er zögernd.
»Das ist kein Grund!« lachte sie.
»Weshalb wollen Sie mich in Swantemühl haben?« fragte er noch einmal und dachte, daß sie aus der Stellung seiner Worte erkennen würde, was er meinte. Eigentlich gab er mit dieser Frage sein Geheimnis preis. Es war, als wenn er gesagt hätte: Sagen Sie es mir gleich, daß Sie mich für den Mörder Ihres Vaters halten. Quälen Sie mich nicht länger! Holten und ein Kriminalkommissar werden in Swantemühl sein, um mich festzunehmen! Das alles konnte sie aus seinen Worten herauslesen. Ihm leuchtete es plötzlich ein, daß er nur am Ort der Tat ganz richtig überführt werden könnte.
»Sie fragen so komisch«, sagte Sabine. »Ich habe einfach Furcht davor, allein zu fahren. Sonst fuhr ich mit Karla. Das geht jetzt nicht. Ich will nicht allein in Swantemühl herumgehen und auf dumme Gedanken kommen. Also, fahren Sie mit? Morgen, übermorgen, wann Sie wollen!«
Er sah sie von der Seite an. Vielleicht liebte Sabine ihn wirklich, wie der Bildhauer gesagt hatte. Aber sie hatte einen strengen Mund. Wenn Holten sie beauftragt hatte, ihn nach Swantemühl zu bringen, würde sie es ausführen. So war sie!
Der Stallmeister Werkenthin kam über den Hof gegangen. Steegen rief ihn an. »He, Werkenthin! Ich will morgen nicht kommen. Können Sie und Lange meine Pferde bewegen und die Schüler vertrösten?«
»Fehlt Ihnen etwas, Steegen?«
»Ich weiß nicht. Hexenschuß!«
Der lange Werkenthin beugte sich in das Licht vor, das aus dem Stall kam, und warf einen verstohlenen Blick auf die fremde Dame. »Es gibt auch hübsche und junge Hexen! Gut, ich verstehe Sie!« Er ging lachend ab.
»Das ist ein lustiger Kamerad!« sagte Sabine. »Also wir fahren morgen mit dem Frühzug?«
»Kommen Sie! Es regnet nicht mehr.« Er konnte noch nicht zusagen, obwohl er wußte, daß er mit ihr fahren würde. Er wollte das triumphierende Aufblitzen in ihren Augen nicht sehen. Erst als sie im Dunkel waren, sagte er:
»Ja, wir fahren morgen!« Sie schwieg.
Sie gingen zum hinteren Tor hinaus auf die Kantstraße und bogen links ein. Auf einmal fing Sabine an:
»Ich möchte wissen, Herr Steegen, wer Sie sind!«
Er sah sie erstaunt an. »In welchem Sinne?«
»Daß Sie kein gewöhnlicher Gutsinspektor sind, habe ich schon als kleines Mädchen in Swantemühl gemerkt und mich über die andern gewundert, die nicht sahen, daß Sie gewissermaßen verkleidet waren.«
»Ich war aber gar nicht verkleidet.«
»Sie waren genau so verkleidet, wie Sie jetzt als Stallmeister verkleidet sind.«
»Leider bin ich auch nicht als Stallmeister verkleidet. Es ist richtig, daß ich früher einmal Herrenreiter und ziemlich wohlhabend war, aber dann habe ich alles Geld verloren und bin geworden, was ich jetzt bin.«
»Darf ich etwas sagen?« entgegnete sie und senkte den Kopf, als ob sie sich verbergen wollte. »Ich habe einmal gedacht, daß Sie sich einer geliebten Frau wegen als Inspektor verkleidet haben. Es gibt gewisse Anzeichen dafür.«
Er schüttelte den Kopf. »So war das nicht. Ich war froh, als ich eine Stelle bekam.«
»Aber Sie hatten die geliebte Frau vorher gesehen und gesprochen und geliebt, ehe Sie auf das Gut ihres Mannes als Inspektor kamen?«
Es war gut, daß sie so langsam sprach und ihn nicht ansah. Er fühlte, wie ihm das Blut aus dem Kopf wich. Das wußten sie von ihm! Sie hatten herausbekommen, daß er Dorette vor Swantemühl gekannt hatte! Wer, wer konnte sie beide damals beobachtet haben? Wenn Holten das wirklich herausbekommen hatte, dann war die Beweiskette gegen ihn geschlossen!
»Es ist weder von einer geliebten Frau die Rede, noch hatte ich sie vorher gekannt!« sagte er mit fester Stimme. »Später und nachträglich wurde dann einmal ein zufälliges früheres Zusammensein, an das beide nicht mehr gedacht hatten, festgestellt. Das ist alles!«
»Wie Sie wollen!« sagte Sabine und blieb an der Haltestelle stehen. »Wir sehen uns also morgen früh auf dem Bahnhof.«
Sie bestieg die Elektrische, die sich gerade in Bewegung setzte.