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Als er den Hof des Tattersalls betrat, rief ihm ein Stalljunge entgegen, daß er ans Telefon gewünscht würde.
Er eilte in das Büro. Dorette hatte ihn angerufen. Sie fragte ihn, ob er ihr Trauzeuge sein wolle. Morgen ließe sie sich mit Abercron trauen. Ganz einfach im Straßenkostüm. Auch in die Kirche führe man nachher, so wie man wäre. Eine kleine Feier sollte bereits heute bei Horcher stattfinden. Nur sie, Abercron und die Trauzeugen. Der andre Zeuge wäre ein Herr Schwarzer. Smoking bitte! Also dann heute abend um zweiundzwanzig Uhr bei Horcher!
Die Wiederkehr der Situation ließ ihn erschauern. Würde es jetzt nicht kommen, wie es schon einmal mit ihm und ihr gewesen war? Nur in das Chaos der Weltstadt diesmal hineingetrieben, in das Gewimmel der aufgeregten Atome! Dieses lärmende Durcheinander konnte sie verbergen, wie in Swantemühl die Wälder und der ferne Horizont sie verborgen hatten. Würde er wieder mit ihr reiten und sie küssen dürfen? Und noch mehr vielleicht diesmal? »Wenn du artig bist! Wenn du sehr artig bist!« hörte er sie sagen und erschrak nachträglich über den brüchigen Ton ihrer Stimme. War hier ein Köder ausgelegt wie damals? Wenn Abercron kurz nach der Hochzeit verunglückte, dann würde sie Geld besitzen, viel Geld! Er suchte diesen Gedanken fortzuweisen. Hatte Dorette denn irgend etwas mit dem Schuß auf Blankenhorn zu tun gehabt? Hatte sie? Seit Jahren suchte er die Antwort auf diese Frage. Vielleicht wußte der Rechtsanwalt etwas darüber. Zum erstenmal spürte er die Versuchung, van Holten anzusprechen und geradezu nach den »entdeckten Spuren« zu fragen. Das konnte ganz beiläufig geschehen. Man deckte damit noch lange nicht seine Karten auf. Oder wartete der Rechtsanwalt nur darauf? Würde er triumphieren?
Gerade heute hatte er bis neunzehn Uhr drei Pferde zu reiten und bis zwanzig Uhr einer Studentengruppe in der großen Bahn Stunde zu geben. Ein Gaul vor ihm schlug aus, hart an seiner Kniescheibe vorüber. Beim Springen stürzte sein Vordermann und wurde hinausgetragen. Zum erstenmal spürte er etwas wie Aufregung, als er selbst über die Stange setzte. Das kann gut werden! dachte er und riß beim Landen dem Tier mit der Kandare ins Maul. »Nanu, Herr Steegen?« rief Rechtsanwalt van Holten und galoppierte an ihm vorüber. Seit wann ritt Holten abends? Ob man ihn nachher ansprach? Aber Holten war verschwunden. Sein Rappe wurde von dem Stalljungen fortgeführt.
Während der Reitstunde sah er sich in einer seltsam träumerischen Anwandlung in Sabines Atelier sitzen. Merkwürdigerweise stand eine brennende Petroleumlampe zwischen ihnen auf dem Tisch. Das tauchte aus Kindervorstellungen auf, lockte mit einem verführerischen Frieden. Sabine war gar nicht Sabine, es war seine Mutter. »Der Herr auf Ajax!« hatte er Veranlassung zu rufen, »nehmen Sie die Schenkel zurück und die Hacken herunter!« Sabine war verschwunden.
Er war todmüde, als er die drei Treppen zu seinem Zimmer in einem Gartenhaus der Kantstraße hochstieg. Jedesmal an der gleichen Stelle überfiel ihn die Unwürdigkeit seines jetzigen Lebens. Er hatte noch Zeit, sich in dem kleinen Zimmer umzuziehen und einen Bissen zu sich zu nehmen. In der Speisekammer der Wirtin hielt er sich Butter und Aufschnitt. Eigentlich lebte er wie ein Kuli, aber gerade diese Vorstellung befriedigte ihn auf eine eigentümliche Art. Sein »Warten auf Dorette« drückte sich auf besonders eindringliche Weise in diesem proletarischen Dasein aus. Er überprüfte den Smoking, das weiße Hemd und die Lackstiefel im Schrank. Das war alles noch first class, war von der subalternen Ärmlichkeit noch nicht angefressen.
Auf dem Tisch neben Sabines Bronze lag ein Brief, von seinem Freund Engelke natürlich, und enthielt das alte Lied: Engelke wollte nun endlich auf seiner Fünftausend-Morgen-Klitsche das Gestüt errichten und brauchte ihn als Leiter. Steegen kannte das schon. Von Zeit zu Zeit wiederholte Engelke sein Angebot. »Du bist besoffen, alter Kerl!« schrieb er. »Du bist total meschugge. Hier ringe ich mir die Hände wund nach einem Menschen mit Deinen Kenntnissen und Erfahrungen, und Du mußt Dich als besserer Reitknecht ausgerechnet in Berlin herumtreiben. Denkst Du, ich merke nicht, daß Dich irgendein Weibsbild an der Nase herumführt? Laß sie laufen, schmeiß sie raus! Wenn Du kein Geld hast, telegrafiere, aber setze Dich in den nächsten Zug und komm hierher!«
Zum erstenmal las Steegen diesen Brief aufmerksam bis zu Ende durch. Der Gutshof von Kallischken stieg vor seinem Blick auf. Die weiten Pregelwiesen lehnten sich in sanftem Abfall gegen die Birkenwälder. Er sah im Geist zweihundert Pferde weiden oder in langen Reihen in den betonierten Ställen stehen. »Das wäre Glück!« sagte er zu sich selber. Man konnte den morgigen Tag noch darangeben, Dorettes Trauzeuge sein, aber dann, übermorgen früh, sollte man sich in den Zug setzen und nach Ostpreußen fahren. Er stellte sich seine Ankunft bei Engelke vor. Er richtete sich in Gedanken auf dem Gut ein. Und auf einmal – das sah er in Form einer fettgedruckten Zeitungsnotiz vor sich! – würde er lesen, daß der Großindustrielle Abercron unter seltsamen Umständen ermordet aufgefunden worden wäre. Ganz genau stellte er sich diese »seltsamen Umstände« vor: Ein Zimmer, in dem zur Zeit der Mordtat niemand außer dem Erschossenen gewesen sein konnte, wie auch ein Entkommen des Täters aus dem Zimmer unmöglich war. So würde es in den Zeitungen stehen. Und über Dorette würde man vielleicht lesen: »Die junge Gattin des Ermordeten, die sich durch ihr pikantes und reizvolles Aussehen und ihren liebenswürdigen Scharm in kurzer Zeit eine bedeutende Position in der Berliner Gesellschaft gemacht hat, weilte zur Zeit der Tat bei Freunden in einem geselligen Kreis. Durch das Telefon herbeigerufen, brach sie an der Leiche ihres Gatten mit einem Nervenschock zusammen.« So pflegten doch diese Berichte zu lauten!
Er lachte über die seltsamen Phantasien, die sich ihm aufdrängten. Dann ergriff er eine Postkarte und schrieb: »Vielleicht komme ich wirklich nächstens! Gruß! Dein alter Rolf Steegen.«
Aber während er schrieb, wußte er schon, daß er nicht kommen würde. Vielleicht konnte er gar nicht mehr kommen. Oder sollte er die Reise machen, um in Ostpreußen verhaftet zu werden? Plötzlich ging ihm die Verlorenheit seines Daseins auf. Die blinden Möbel starrten ihn höhnisch an. Aus dem Hof kam die Dunkelheit angekrochen.
Er steckte die Karte zu sich und ging die halbdunkle Treppe hinunter. Es war eine Viertelstunde über die verabredete Zeit, als er vor dem Restaurant stand. Er hatte sich verspätet, um die andern schon vorzufinden. Eine eigentümliche Spannung bemächtigte sich seiner, als er draußen noch einige Augenblicke wartete. Wie würde Dorette in Abercrons Gegenwart sich verhalten? Ungefähr wie an jenem ersten Gesellschaftsabend in der Hildebrandtschen Privatstraße? Aber doch noch anders! Er wußte genau, wie sie sein würde. Zwei Jahre hindurch hatte er sie bei den Mahlzeiten neben Blankenhorn sitzen sehen. Alle ihre Bewegungen, die Art ihres Sprechens, ihre Kopfhaltung, die leicht geschlossenen Augenlider: das alles kannte er an ihr. Er kannte die Augenblicke des Übergangs, wenn Blankenhorn das Zimmer verließ und ihr Körper anfing lebendig zu werden, etwas Katzenhaftes bekam und ihr Gesicht wie das eines trotzig verschmitzten Knaben wurde. Genau so würde es wieder sein. Dorette mußte den Mann hassen, den sie heiratete. Das war nun einmal nicht anders. Sie mußte ihn hassen, weil sie einen andern liebte! Das war die gesetzmäßige Wiederkehr dieser Todfeindschaft.
»Hallo, Herr Steegen!« rief ihn eine Stimme an. »Sie gehen wohl zum Hochzeitsschmaus?«
Er drehte sich um und blickte in das rundlich freundliche Gesicht van Holtens. Wie kam der Rechtsanwalt hierher? Aber Steegen wunderte sich im Grunde nicht. Natürlich mußte Holten heute abend zu Horcher kommen, um zu beobachten. Das ließ sich ohne Aufsehen bewerkstelligen. Steegen drehte sich um, ob der Rechtsanwalt allein war. Ein Herr und zwei Damen waren in seiner Gesellschaft. Selbstverständlich! Es wäre aufgefallen, wenn er sich allein in das Lokal gesetzt hätte, in dem Dorette ihre Hochzeit feierte.
»Guten Abend, Herr Rechtsanwalt!« grüßte er zurück. Er sah, wie Holten mit den andern durch die Tür eintrat. Holten wollte als letzter hineingehen. Auf einmal fiel es Steegen ein, daß er ihn nach den »entdeckten Spuren« fragen konnte. Es war kein günstiger Moment dafür. Der Rechtsanwalt konnte ihn auf seine Sprechstunde verweisen, und überhaupt war es auffallend und konnte belastend wirken. Das alles machte er sich klar, und dennoch rief er Holten an. »Verzeihung, Herr Doktor, einen Augenblick!«
Der drehte sich um und sah ihn belustigt an. Hatte Holten auf diesen Augenblick gewartet? Blitzte es nicht in seinem Auge triumphierend auf? Er rief den andern eine Erklärung zu und wandte sich zu Steegen zurück. »Bitte?« fragte er, aber seinem Gesicht war anzumerken, daß er Steegens Wunsch im voraus erriet. Steegen fühlte sich ertappt. Jetzt mußte der andre ihm anmerken, daß er tagelang an nichts anderes gedacht hatte als an die »entdeckten Spuren«. »Womit kann ich Ihnen dienen?« fragte van Holten noch einmal.
»Ach«, gab Steegen zurück, »es ist vielleicht nicht so wichtig. Aber Sie erzählten neulich, daß Sie in Swantemühl gewesen wären und allerhand Entdeckungen gemacht hätten. Leider wurden wir damals unterbrochen. Natürlich interessiert es mich sehr, davon zu hören.« Holten sagte noch immer nichts, sondern behielt sein fast belustigtes Aussehen bei. Steegen redete weiter: »Ich dachte, daß Sie es mir mit zwei Worten sagen könnten. Aber es hat durchaus Zeit. Ich will Sie nicht aufhalten. Ich selbst muß hineingehen. Eine Gesellschaft wartet auf mich. Herr Abercron und Frau Blankenhorn feiern heute hier ihre Hochzeit. Ich bin Trauzeuge. Sie wissen schon.«
Es war merkwürdig, wie van Holtens Schweigen ihn zum Weiterreden zwang. Er fühlte selbst, daß er dem andern in diesem Augenblick unterlegen war. Er war wie ein Bittsteller, der an Entschuldigungen herumwürgt.
»Bitte!« sagte der Rechtsanwalt jetzt. »Ich kann Ihnen das wirklich gern mit wenigen Worten erklären, wobei ich voraussetze, daß Sie keinen Gebrauch davon machen. Aber die Sache ist weiter kein Geheimnis, sie spielt bereits eine Rolle in den Schriftsätzen.« Dabei sah er Steegen wieder belustigt an. »Sie sind über die Örtlichkeiten in Swantemühl im Bilde, nicht wahr?«
»Genau!« antwortete Steegen. Die nächsten Worte mußten die Entscheidung bringen. Er tauchte seine Hände in die Manteltaschen, weil er bemerkte, daß sie zu zittern anfingen.
»Die Situation unmittelbar nach dem Mord ist Ihnen ebenfalls klar: Der Ermordete liegt mit der Schußwunde in der Stirn in seinem Sessel. Nach dem ganzen Befund muß er gesehen haben, wie das Mordgewehr sich auf ihn richtete. Nun ist es nach der Lage ausgeschlossen, daß sich überhaupt jemand außer Herrn Blankenhorn selbst in dem Zimmer befand. Der Mörder muß aber in der Ecke des Zimmers gestanden und die Waffe gegen sein Opfer angeschlagen haben. Jedenfalls weist der Schußkanal und die Beschaffenheit des Einschusses darauf hin. Aus dem Zimmer konnte der Mörder nicht heraus, ohne gesehen zu werden. Man stand also vor einem vollkommenen Rätsel. Sie wissen, daß sich der Verdacht naturgemäß gegen Sie selber richtete. Aber auch Sie konnten unmöglich in dem Zimmer sein.«
»Nein, das war ganz ausgeschlossen.«
»Es war unmöglich. Die Haustür war von innen verschlossen. Angenommen, daß Sie der Mörder wären, so hätten Sie in Eile das Zimmer verlassen, die Haustür hinter sich zuschließen und in das Inspektorhaus laufen müssen. Aber die Haustür war eben von innen verschlossen, und Sie selbst wurden ja bald nach dem Schuß gesehen, wie Sie, anscheinend vom Inspektorhaus aus, zu dem Schloß liefen, um zu sehen, was passiert wäre.«
»Ja, ich hörte den Schuß und stürzte hinaus. Ich hatte sofort das Gefühl, daß Herrn Abercron etwas zugestoßen sein müßte.«
»Weshalb sagen Sie: Herrn Abercron? Herr Abercron feiert vergnügt seine Hochzeit, und Sie selbst sind geladen. Sie meinen natürlich: Blankenhorn, daß Herrn Blankenhorn etwas zugestoßen sein müßte!«
»Natürlich, Blankenhorn! Ich habe mich versprochen.«
»Man soll mit Versprechen vorsichtig sein. Freud macht interessante Ausführungen darüber. Aber Sie haben recht. Der Hofmann sah, wie Sie gegen die Eingangstür des Schlosses stürzten. Das war vielleicht eine Minute nach dem Schuß. Sie konnten als Täter also ebenfalls nicht in Frage kommen.«
»Aber die Spuren?«
»Die Spuren! Der Kriminalkommissar und ich entdeckten, daß die Mordkommission von falschen Voraussetzungen ausgegangen war. Diese lokalen Polizeiorgane haben leider meistens wenig Erfahrungen in komplizierten Fällen. Man kann nur sagen: Gott sei Dank liefert ihnen die Provinz wenig Material. Aber manchmal macht sich das doch störend bemerkbar. Der mörderische Schuß war also aus dem Zimmer abgegeben worden. Wir bekamen das bald heraus.«
»Ich verstehe nicht.«
»Weshalb sollten Sie auch verstehen? Aber ich will mich kurz fassen: Sie wissen, daß das Arbeitszimmer Blankenhorns, in dem er ermordet wurde, im Ostflügel des Schlosses liegt. Nun ist da im Anfang des 19. Jahrhunderts noch ein kleiner vorspringender Flügel angebaut worden, nicht wahr? Dadurch ist ein Winkel entstanden, der mit einigen Tannen und dichtem Gestrüpp ausgefüllt ist. Früher führte aus dem Herrenzimmer eine Tür ins Freie. Diese Tür ist zugemauert worden. Es bestand kein Bedarf mehr für sie, weil eine bequem zu erreichende Eingangstür in dem neuen angebauten Flügel vorhanden war. Durch die Vermauerung der Tür gewann man im Herrenzimmer auch eine Wand. Es ist die Wand, an der der große Bücherschrank steht. Die Außenwand, Sie verstehen, nicht wahr?«
»Natürlich! Die Wand, an der der Bücherschrank steht, das ist die Außenwand, in der sich ursprünglich eine Tür ins Freie befand.«
»Richtig! Und die Außenseite dieser Wand befindet sich in einem Winkel, in dem es dichtes Haselnußgestrüpp und einige Tannen gibt, die jetzt auch bereits an die sechzig Jahre alt sind. Der Berliner Kriminalist und ich verfielen nun natürlich sofort auf die Idee, uns diese Wand gründlich anzusehen. Und was meinen Sie wohl, was wir fanden?«
»Diese Wand? Ich weiß nicht. Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, daß es mit dieser Wand etwas Besonderes auf sich haben könnte.«
»Nun, der Mörder ist auf diesen Gedanken gekommen. Vielleicht hat er einmal zufällig diesen muffigen Winkel durchstöbert. Dann wird er entdeckt haben, daß an dieser Stelle der Putz abgefallen und die ursprünglich dort in der Wand befindliche Tür noch zu erkennen war. Vielleicht hat er dann ein wenig an den Steinen herumhantiert und gefunden, daß sie sich mit geringer Mühe lockern ließen. Dann wird er wohl mit einem Meißel ein wenig nachgeholfen haben. Die Steine lockerten sich leicht. Man konnte sie herausnehmen. Und wenn man sie herausnahm, dann befand man sich unmittelbar hinter dem Bücherschrank des Herrenzimmers. Dieser Bücherschrank verfügte aber auch schon über ein beträchtliches Alter, und außerdem war es eigentlich nur ein Bücherregal. Man konnte aus der Rückwand leicht ein Stück Brett herausnehmen und wieder so einfügen, daß es von dem Zimmer aus nicht zu merken war. Außerdem standen an der Stelle gerade die Erinnerungen von Varnhagen van Ense. Wahrscheinlich wird in dem Schloß niemand mehr seit vierzig Jahren diese an sich sehr interessanten Bände vorgenommen haben.«
»Varnhagen!« erinnerte Steegen sich. »Ja, diese Bücher standen dort!«
»Versetzen wir uns also in die Lage eines Menschen, der Herrn Blankenhorn systematisch nach dem Leben trachtet. Dieser Mensch brauchte nur die Stunden abzupassen, in denen sich niemand im Herrenzimmer befand. Eigentlich saß Herr Blankenhorn nur dort, wenn er mit geschäftlichen Schreibereien beschäftigt war. Das war, wie man mir sagte, vormittags von zwölf bis dreizehn, nachmittags von achtzehn bis neunzehn und abends bis etwa zweiundzwanzig Uhr. Punkt zweiundzwanzig pflegte er schlafen zu gehen. Unser Mörder hatte also sowohl am Tag wie vor allem in der Nacht genügend Zeit, sich mit dem Loch in der Wand zu beschäftigen. Man konnte sich in dem verwilderten Winkel außerdem jederzeit ungesehen aufhalten. Ja, man konnte sogar hinein, ohne Spuren zu hinterlassen, was für eine Verfolgung mit dem Polizeihund von Wichtigkeit war. Dieser Winkel war wegen des architektonischen Eindrucks durch eine kleine Mauer, die etwa einen Meter hoch war, abgeschlossen. Man konnte auf dieser Mauer, die keine Spuren aufnahm, einige Schritte entlanggehen, konnte dann einen Zweig fassen und bequem von Zweig zu Zweig bis zu dem Mauervorsprung vordringen, der genügend Halt zum Stehen bot und wiederum keine Spuren annahm. Dort konnte unser Mörder in aller Ruhe die Mauer für seine Zwecke bearbeiten. Das dichte Gestrüpp schützte ihn nach außen hin gegen Sicht. Der Schauplatz war abgelegen genug, daß er ruhig auch einige festere Hammerschläge riskieren konnte. Die Hauptschwierigkeit muß darin bestanden haben, die Hintere Holzwand des Bücherregals durchzubrechen, um bis zu Varnhagens Denkwürdigkeiten zu gelangen. – Doch ich langweile Sie mit dieser genauen Beschreibung, nicht wahr?«
»Keineswegs! Das ist mir alles sehr interessant!«
»Das ausgebrochene Viereck in dem Bücherregal war lose wieder einzufügen. Ich denke mir, daß der Mörder zur Vorbereitung auf seine Tat die Mauersteine herausnahm. Er brauchte dann später im gegebenen Moment nur noch das Brett fortzunehmen und konnte nun sein Gewehr auf sein Opfer anlegen. Natürlich ging das Herausnehmen des ausgesägten Brettes nicht völlig lautlos vor sich. Herr Blankenhorn wurde auf das Geräusch aufmerksam und hob den Kopf. In diesem Augenblick sah er aus dem Bücherschrank die Mündung eines Gewehres auf sich gerichtet. Können Sie sich ungefähr die Wirkung dieses Eindrucks vorstellen? Herr Blankenhorn soll allerhand auf dem Kerbholz gehabt haben. Man sagt, daß er seine Familie wie seine Leute in einer tyrannischen Weise schikaniert habe. Er soll auch einen wüsten Weiberbetrieb unterhalten und in der unsinnigsten Weise Geld ausgegeben haben, das für seine wirklich notleidende Familie und für den Gutsbetrieb besser angewandt worden wäre. Auch wenn wir das alles zugeben, so wird er jedenfalls in dem Augenblick, da er das Gewehr aus der Wand auf sich gerichtet sah, vieles abgebüßt haben. Glauben Sie nicht auch?«
»Das glaube ich.«
»Der Mörder muß gute Nerven gehabt haben, daß er in diesem Augenblick so gut zielen konnte. Er traf sein Opfer mitten in die Stirn. Dann warf er das Gewehr in die Stube. Dann mußte er das ausgesägte Brett wieder sorgsam einfügen und sich still verhalten. Vielleicht hat er sogar unmittelbar nach der Tat die Mauersteine wieder eingefügt. Aber das kann er ebensogut einige Stunden später gemacht haben. Er brauchte nicht damit zu rechnen, daß man diese Spuren der Tat in absehbarer Zeit auffinden würde. Selbst ein Polizeihund mußte hier versagen. Und wenn der Täter nun noch Handschuhe angezogen hatte, so daß man auch späterhin keine Fingerabdrücke fand, so konnte er beruhigt das Ergebnis der einsetzenden Verfolgung abwarten. Habe ich recht?«
»Das mit der Mauer ist fabelhaft!« brach Steegen aus. »Daß Sie das herausgefunden haben! Niemand von uns allen ist auf die Idee verfallen, dort nachzusehen. Dabei lag es doch nahe. – Aber der Mörder! Haben Sie eine Spur des Mörders gefunden?«
Der Rechtsanwalt sah ihn wieder mit seinem belustigten Ausdruck an. »Der Mörder ist nicht weit zu suchen. Ich habe ihn sozusagen, und ich habe ihn auch wiederum nicht. Aber darüber sprechen wir wohl besser ein andermal. Entschuldigen Sie, ich muß jetzt hineingehen, und Sie werden auch schmerzlich erwartet werden.«
Sie gaben ihre Garderobe ab und betraten das Lokal. Die Freunde des Rechtsanwalts saßen gleich vorn in einer Fensternische. Abercrons Gesellschaft hatte in einer hinteren Ecke Platz genommen. Über die Anrichte hinweg, die mitten in dem Raum stand, sah Steegen Dorettes Gesicht mit dem Ausdruck tödlichen Schreckens gegen die Tür gerichtet, durch die er mit Holten eintrat. Ihre Gesichtsfarbe war in diesem Augenblick nicht bleich, sondern geradezu von einem fahlen und grünlichen Gelb. Oder hatte er sich getäuscht? Schon schien es ihm, als ob sie nur einen flüchtigen Blick hinübergeworfen hatte und sich nun mit den andern weiter unterhielt.
Er verabschiedete sich von Holten und ging auf den Tisch zu.