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22

Noch viermal wurde er zu Vernehmungen über lange Treppen und durch dunkle Gänge geführt. Dann hörte auch das auf. Einmal kam Rechtsanwalt Paasche und berichtete, daß die Voruntersuchung beendet und das Verfahren eröffnet sei.

»Nun und? Ich bin wegen Mordes angeklagt. Und Dorette?«

»Wegen Begünstigung.«

»Ist das schlimm?«

»Das wenigst Schlimme. Vielleicht nur Geldstrafe oder ein Jahr Gefängnis. Immerhin werden ihr die zur Erziehung ihres Sohnes erforderlichen Eigenschaften abgesprochen und wird die Erziehung des kleinen Joachim in die Hände seiner Großmutter und seiner beiden Halbschwestern gelegt werden.«

»So kann Dorette nicht mehr nach Swantemühl zurückkehren? Sie hat es sich gewünscht, glaube ich.«

»Vielleicht«, sagte er. »Es ist schwer, sich Frau Abercron auf dem Lande vorzustellen.« Steegen bemerkte, daß Rechtsanwalt Paasche vor sich hin lächelte.

»Aber wenn nun der richtige Täter gefunden wird, und es stellt sich heraus, daß sie nichts mit dem Mord zu tun hatte?«

»Dann wird sie vielleicht mit ihrem Kinde auf das Gut ziehen. Vielleicht wird sie auch etwas anderes tun.«

»Sie wird Schwarzer heiraten!«

»Ich weiß darüber nichts«, sagte der Alte und erhob sich. »Ich glaube aber, daß man Frau Abercron die Erziehungsgewalt über den Erben in jedem Fall absprechen wird. Das Vormundschaftsgericht denkt sehr streng über die sittliche Eignung einer Mutter.«

»Und wie steht es mit Ihren Nachforschungen?«

»Ich habe sie noch nicht aufgegeben. Das ist alles.«

Rechtsanwalt Paasche ging. Wer hat mir diesen merkwürdigen Mann geschickt? dachte Steegen zum hundertstenmal. Er suchte gegen die Atmosphäre anzukämpfen, die von dem Alten ausstrahlte. Er kam sich vor ihm vor wie ein Kind vor dem Weihnachtsmann. Plötzlich würde er den Sack hervorziehen und seine Geschenke auspacken. Aber vielleicht verbarg sich nichts hinter dem geheimnisvollen Wesen. »Eine Hoffnung, eine Empfindung, eine Ahnung!« hörte er ihn wieder sprechen und sah ihn den weißen Kopf hin und her wiegen. Es konnten Faseleien eines alten Mannes sein.

»Sie werden Besuch bekommen«, sagte der Aufseher am nächsten Morgen, »von einer Dame!«

Steegen hob den Kopf. »Wer ist es?«

Der Mann wußte es nicht. Sie hatte die Erlaubnis, ihn unter vier Augen zu sprechen, eine ganze Viertelstunde! Dorette oder Sabine? Eine von beiden mußte es sein. Auf einmal lastete die Zeit unerträglich. Unbeweglich stand das graue Vormittagsnebellicht hinter dem Gitterfenster. Die Mittagsstunde, in der die harten Holzsohlen der Gefangenen vom Hof heraufklapperten, wollte nicht kommen, und als sie endlich da war, nahm sie kein Ende. Er ging an das Fenster. Wenn er sich den Hals ausrenkte, konnte er die Männer unten in dem kahlen Hof zwischen den Mauern im Kreise laufen sehen. Noch fünf Stunden, sagte er sich, dann wird sie kommen. Abends, wenn ich die harte Linie des gegenüberliegenden Daches nicht mehr sehen kann.

Er versuchte sich niederzulegen, aber die Zeit war nur im Auf- und Abschreiten zu zermahlen. Plötzlich stand er still. Wen erwarte ich eigentlich? Dorette oder Sabine? Oder hinter der, die kommen würde, etwas anderes noch? Er konnte es nicht bezeichnen. Wenn Dorette kam! Es mußte etwas bedeuten. Der Knoten würde sich an einer, wenn noch so kleinen Stelle zu lösen anfangen. Und würde er enttäuscht sein, wenn es Sabine war? Er stellte beide Möglichkeiten nebeneinander. Nein, entschied er zu seiner eignen Überraschung, er würde nicht enttäuscht sein.

Es war Sabine. Der Aufseher schloß hinter ihr die Tür. Sie standen sich verlegen gegenüber. Ihnen unangenehm, daß ich komme?« fragte sie.

»Nein!«

»Ich wollte nur fragen, ob ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann. In einigen äußeren Dingen. Ich könnte Ihre Sachen bei uns unterbringen. Oder wollen Sie Ihr Zimmer behalten? Sie brauchen vielleicht Wäsche? Soll ich Ihnen eine Waschfrau besorgen? Verzeihen Sie, vielleicht wird für Sie gut gesorgt.«

»Ich danke Ihnen, Fräulein Sabine. Aber weshalb wollen Sie mir helfen? Halten Sie mich nicht mehr für einen Mörder?«

»Ich – weiß nicht«, sagte sie und wiederholte mit leiser Stimme: »Ich weiß es nicht mehr. Und deshalb bin ich hergekommen. Es ließ mir keine Ruhe.« Sie sah ihm voll ins Auge. »Herr Steegen, ich beschwöre Sie, mir die Wahrheit zu sagen! Sprechen Sie nicht jetzt gleich. Überlegen Sie es sich. Wollen Sie mir überhaupt antworten? Ich schwöre Ihnen, daß nie zu jemand ein Wort über meine Lippen kommen wird, was Sie mir auch sagen mögen. Soll ich es Ihnen schwören beim Andenken an meine Mutter?« Sie schlug jetzt doch die Augen nieder und wiederholte: »Soll ich es Ihnen schwören?«

Er schüttelte den Kopf.

»Sagen Sie mir die Wahrheit! Nur für mich! Sind Sie es, der meinen Vater erschossen hat?«

»Ich schwöre es Ihnen, daß ich es nicht bin!« sagte er ernst.

»Und Sie wissen nicht, wer es war?«

»Nein.«

»Ich danke Ihnen.«

»Glauben Sie mir, Fräulein Sabine?«

»Ja, Herr Steegen. Ich glaube Ihnen ganz fest.« Wieder schwiegen sie verlegen.

»Haben Sie mir den Rechtsanwalt Paasche zugeschickt?« fragte er nach einer Pause.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß von keinem Rechtsanwalt Paasche. Aber kann ich etwas für Sie tun? Ihr Zimmer kündigen, die Sachen bei uns unterstellen?«

»Ihre Plastik hätte ich gern hier«, sagte er lächelnd. »Wirklich, ich hätte sie furchtbar gern hier stehen. Aber es ist wohl nicht erlaubt. So nehmen Sie sie bitte wieder zu sich. Vielleicht werde ich sie lange nicht sehen.«

»Wir wollen das nicht hoffen. Aber Sie müssen mir für Ihre Wirtin einen Ausweis geben. Schreiben Sie in mein Notizbuch. Hier! Und wenn Sie einem andern Menschen etwas mitteilen wollen, dann schreiben Sie es auf eine andre Seite. Ich werde es sofort, ohne zu lesen, in einen Umschlag tun und auf die Post geben. An wen es auch ist, verstehen Sie?«

»Ich danke Ihnen, aber – es ist nicht nötig.« Plötzlich fiel ihm ein, daß sie Dorette gemeint haben konnte. »Ich danke Ihnen!« wiederholte er und war gerührt.

»Ich möchte, daß Sie freigesprochen werden«, sagte sie, während er der Wirtin einige Zeilen schrieb, »aber ich bange mich sonst nicht danach, daß der Täter festgestellt wird. Ist es schlimm, daß ich als Tochter so denke?«

Er reichte ihr das Notizbuch zurück. »Es ist nicht schlimm«, sagte er lächelnd, »sondern es ist gut. Es hat Altes Testament und Blutrache und solche barbarischen Geschichten überwunden.« Aber die Worte waren nicht das Eigentliche, was zwischen ihnen vorging. Sie sprachen nur, um sich gegenseitig zu zeigen, daß nun alles zwischen ihnen gut war.

Der Aufseher trat ein. Sie reichten sich die Hände. »Kommen Sie wieder?« fragte er.

»Wenn ich darf?«

»Sie müssen jeden Tag kommen!« bat er. Plötzlich fiel ihm ein, daß die Erlaubnis nicht von ihm abhing. Einige Augenblicke hatte er vergessen, daß er gefangen war. Er wurde rot vor Verlegenheit.

»Von Zeit zu Zeit wird man es mir gestatten«, kam sie ihm zu Hilfe. Sie reichten sich noch einmal die Hände.

»Ihr Verteidiger ist da«, sagte der Aufseher. Sabine ging mit einem Kopfnicken an Herrn Paasche vorüber, der in seiner langsamen Art eintrat. Er ist also von Dorette bestellt, dachte Steegen. Der Rechtsanwalt sah dem jungen Mädchen nach. »Wer ist das?« fragte er.

»Sabine Blankenhorn!« Steegen lehnte sich für einige Augenblicke mit geschlossenen Augen gegen die Wand. Grade jetzt wäre er gern allein geblieben. Er hörte das Türschloß zuschnappen. »Sabine Blankenhorn!« sagte er noch einmal und öffnete die Augen. Herr Paasche ließ sich auf dem Stuhl nieder.

»Ich habe von ihr gehört«, sagte er. »Übrigens komme ich nur kurz vorbei, um Ihnen etwas mitzuteilen.« Er sah ihn forschend an. »Die beiden Briefe an Frau Abercron sind wirklich in Swantemühl geschrieben worden!«

»Und von wem?«

»Das wird sich herausstellen. Es ist jedenfalls die gleiche Handschrift, die sich in einem Wirtschaftsbuch auf dem Gut befand. Natürlich verstellt! Unser Detektiv, der seit einigen Tagen dort arbeitet, wird noch feststellen, wer die betreffende Eintragung in dem Buch gemacht hat.«

»Ja«, sagte Steegen, »dann werden wir wissen, wer Dorette gewarnt hat.« Seine Gedanken weilten noch bei Sabine.

Der Rechtsanwalt sah wieder zu ihm auf. »Nein«, sagte er langsam, »dann werden wir wissen, wer Blankenhorns Mörder ist!«

Steegen war so überrascht, daß er einen Schritt zurücktrat. »Der Mörder?« fragte er verwundert. »Wieso der Mörder?«

»Die beiden Briefe hat der Mörder geschrieben!« sagte der Verteidiger mit seiner leisen Stimme. »Das war mir klar, als ich davon hörte. Wer die Briefe geschrieben hat, muß der Täter sein!«

»Ich verstehe nicht.«

»Der erste Brief wurde einige Tage vor der nochmaligen Besichtigung des Tatorts geschrieben. Nur ein Mensch, der das Geheimnis jener Mauerecke kannte, konnte auf den Gedanken kommen, daß diese Besichtigung etwas entscheidend Neues zutage fördern würde. Und nur ein Mensch, der den wirklichen Verlauf des Hergangs kannte, konnte vermuten, daß die aufgefundenen Spuren in erster Linie Sie und Frau Blankenhorn belasten würden. Der Schreiber der Briefe kannte Ihr Geheimnis!«

»Und weshalb ließ er mich nicht schießen?« fragte Steegen fiebernd.

»Vielleicht hatte er selbst eine Rechnung bei Herrn Blankenhorn zu begleichen«, sagte er bedächtig. »Es kann sein, daß er Wert darauf legte, selbst zu schießen. Es kann sein, daß er acht Tage lang vergeblich auf Ihren Schuß gewartet hat. An jenem Abend kam er an die Stelle. Das Gewehr stand schußbereit an der Mauer. Dieser Mensch konnte den Schuß so gut abfeuern wie Sie. – Sie sind es nicht gewesen, Herr von Scheeven?«

Steegen überhörte die Frage. Seine Gedanken fingen an zu arbeiten.

»Entweder Sie oder der Briefschreiber kommen in Frage. Der Mann dachte mit den Briefen etwas besonders Schlaues zu machen. Er hoffte, daß Sie und Frau Abercron aus Furcht vor den schwerwiegenden Indizien ins Ausland fliehen würden.«

»Ich weiß, wer der Täter ist!« unterbrach Steegen schroff. Jener Morgen auf der Försterei stand vor seinen Augen. Er sah die scheue dunkle Frau ins Haus flüchten. Er sah das Kind mit der seltsamen ausgebuckelten Stirn an der Küchentüre stehen, er sah die Mutter den Jungen wortlos zu sich hineinziehen. »Vielleicht hatte er selbst eine Rechnung bei Herrn Blankenhorn zu begleichen!« dachte er der Worte des Verteidigers nach. Wie alt konnte der Junge sein? Kaum älter als Joachim Blankenhorn! Damals, als er täglich mit Dorette zusammen ritt, als er sich schon mit Mordgedanken trug, damals mußte es gewesen sein!

»Sie wissen es!« nickte Herr Paasche.

»Der Förster Ahlmann!«

»Förster ist gut. Förster könnte passen. Ein Förster kann schießen, ein Förster kann Sie belauschen, ein Förster kann Sie beide im Wald beobachten. Er folgt den Hufspuren, stellt fest, daß Sie unter dem Ahornbaum zu lagern pflegen. Vielleicht hat er Sie da über Ihren Plan sprechen hören. Oder er findet Ihren Hinterhalt auch anders heraus. Ihm fällt eine Spur an der Mauerecke auf. – Und weshalb glauben Sie, daß er es ist?«

»Der Förster hat ein Kind, anderthalb Jahre alt. Ich sah es neulich, als ich mit Fräulein Sabine dort war. Einen Jungen von einer auffallenden Ähnlichkeit mit Blankenhorn. Ich weiß jetzt, daß ich geradezu erschrak, als ich es sah.«

»Und Sie glauben?«

»Die schwarze Martha war vorher als Stubenmädchen im Schloß. Herr Blankenhorn hatte es ewig mit den Mädels. Dann heiratete sie den Förster.«

»Und das Kind?«

»Das Kind stammt schon aus der Zeit, als die Martha verheiratet war. Vielleicht ein halbes Jahr kann sie verheiratet gewesen sein. Blankenhorn muß der jungen Frau nachgestellt haben. Es kann sein, daß sie ihm früher im Schloß zu Willen gewesen ist. Das war das Merkwürdige, alle Mädels waren ihm zu Willen. Diesmal, nach ihrer Verheiratung, hat er es vielleicht mit Gewalt erzwungen. Sie wird es ihrem Mann gesagt haben, oder der hat es sonstwie herausbekommen. Und da hat er sich gerächt!«

»Wir müssen sehen, ob er die Briefe geschrieben hat. Es werden einige Kinder dort herumlaufen, die Ähnlichkeit mit Herrn Blankenhorn haben. Aber Förster ist gut, Förster könnte passen!« wiederholte er.

Der Verteidiger erhob sich in seiner schwerfälligen Art. Ehe er das Zeichen für den Aufseher zog, blieb er, auf den dicken Stock gestützt, mitten in der Zelle stehen. »Herr von Scheeven«, sagte er ernst, »bis Sie frei sind, kann es noch Wochen dauern. Aber wenn Sie frei sein werden, dann haben Sie eine Lebensperiode hinter sich. Oder vielleicht müssen Sie noch weiter lernen!«

Steegen schlug seine Augen vor dem Blick des alten Mannes nieder. Er wußte, was Herr Paasche meinte.


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