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Ferner erzählt man, daß in alten Zeiten und längst entschwundenen Tagen ein griechischer Weiser lebte, dessen Name Daniel war, und der viele Schüler und Hörer hatte; und die Weisen Griechenlands gehorchten seinem Befehl und vertrauten auf seine Kenntnisse, doch war ihm bei alledem kein Sohn geschenkt. Während er nun eines Nachts in Gedanken versunken dasaß und darüber weinte, daß er keinen Sohn hatte, der nach seinem Tode seine Kenntnisse erben könnte, fiel ihm mit einem Male ein, daß Gott – Preis Ihm, dem Erhabenen! – das Gebet derer erhört, die sich reuig an ihn wenden, daß an der Pforte seiner Huld kein Pförtner steht, und daß er, wem er will, ungerechnet seine Gabe verleiht und keinen, der ihn bittet, abweist, sondern ihn mit reichlichem Gut beschenkt. Und so betete er zu Gott, dem Erhabenen, dem Allgütigen, daß er ihm einen Knaben schenkte, der ihm nachfolgen könnte, und daß er ihn mit seiner Huld reichlich begnadete. Hierauf kehrte er heim und ruhte bei seinem Weib, welches in derselbigen Nacht von ihm empfing.
Vierhundertunddreiundachtzigste Nacht.
Einige Tage später ging er zu Schiff, um nach einem andern Ort zu verreisen, doch zerbrach das Schiff, und seine Bücher fielen ins Meer, während er sich selber mit nur fünf Blättern von all den Büchern, die mit ihm ins Meer gefallen waren, auf eine Planke jenes Schiffes rettete. Als er wieder heimgekehrt war, legte er jene Blätter in einen 54 Kasten, legte ein Schloß vor diesen und sagte zu seiner Frau, deren Schwangerschaft bereits sichtbar geworden war: »Wisse, meine Todesstunde ist gekommen, und die Zeit meiner Übersiedelung vom Haus der Vergänglichkeit zum Haus der Ewigkeit ist genaht. Nun aber bist du schwanger und vielleicht kommst du mit einem Knaben nach meinem Tode nieder. Hast du ihn geboren, so heiße ihn Hâsib Kerîm ed-Dîn und erziehe ihn aufs beste; und, so der Knabe herangewachsen ist und zu dir spricht: »Was für ein Erbe hat mir mein Vater hinterlassen?« so gieb ihm diese fünf Blätter; hat er dieselben gelesen und ihren Inhalt verstanden, so wird er der gelehrteste Mann seiner Zeit sein.« Nach diesen Worten nahm er von ihr Abschied und verließ, den Sterbeseufzer ausstoßend, die Welt und alles, was darinnen ist, – Gottes, des Erhabenen, Barmherzigkeit auf ihn! – Da beweinten ihn seine Angehörigen und seine Freunde und wuschen ihn und geleiteten ihn in prächtigem Zuge hinaus und begruben ihn, worauf sie wieder heimkehrten. Wenige Tage später aber kam seine Frau mit einem hübschen Knaben nieder und nannte ihn Hâsib Kerîm ed-Dîn, wie sein Vater es ihr ans Herz gelegt hatte; und, da sie ihn geboren hatte, ließ sie für ihn die Sterndeuter kommen, daß sie seinen Stern berechneten und ihm das Horoskop stellten. Und die Sterndeuter sagten zu ihr: »Wisse, o Frau, dieses Kind wird viele Tage leben, doch wird es zu Anfang seines Lebens in Drangsal geraten; ist es jedoch der Gefahr entronnen, so wird ihm die Kenntnis der exakten Wissenschaft verliehen werden.« Nach diesen Worten gingen die Sterndeuter ihres Weges. Sie aber säugte ihn zwei Jahre lang, worauf sie ihn entwöhnte; und, als er fünf Jahre alt geworden war, brachte sie ihn in die Schule, daß er etwas lernte; doch lernte er nichts. Da nahm sie ihn aus der Schule und brachte ihn ins Handwerk; doch lernte er kein Handwerk, und keine Arbeit ging aus seiner Hand hervor. Da weinte seine Mutter hierüber, die Leute aber sagten zu ihr: »Verheirate 55 ihn; vielleicht wird ihn die Sorge für sein Weib dazu bewegen, daß er sich an ein Handwerk macht.« Da stand sie auf, freite eine Tochter für ihn und vermählte ihn mit ihr; doch verstrich die Zeit, ohne daß er sich im geringsten an ein Handwerk heranmachte. Da begab es sich, daß eines Tages einige der Nachbarn, welche Holzhauer von Profession waren, zu seiner Mutter kamen und zu ihr sagten: »Kauf' deinem Sohn einen Esel, einen Strick und eine Axt und laß ihn mit uns in die Berge gehen, daß er mit uns Holz haut; das Geld fürs Holz wollen wir unter einander teilen, und kann er dann seinen Anteil für euern Unterhalt verwenden.« Als seine Mutter diesen Vorschlag von den Holzhauern hörte, freute sie sich sehr und kaufte ihrem Sohn einen Esel, einen Strick und eine Axt; hierauf nahm sie ihn und übergab ihn den Holzhauern, ihn ihrer Obhut anempfehlend; und die Holzhauer sagten zu ihr: »Sorge dich nicht um diesen Knaben, unser Herr wird ihn schon versorgen; er ist der Sohn unsers Scheichs.« Hierauf nahmen sie ihn mit sich in die Berge, wo sie Holz hauten und es auf ihre Esel luden, worauf sie es dann in die Stadt brachten und verkauften und den Erlös für ihre Familie verwendeten. Am andern Tage sattelten sie wieder ihre Esel und zogen zum Holzhauen hinaus, und ebenso am dritten Tage und den folgenden eine geraume Zeitlang, bis eines Tages ein mächtiger Regen über sie hereinbrach und sie vor ihm in einer großen Höhle Zuflucht suchten. Hier setzte sich nun Hâsib Kerîm ed-Dîn abseits von den Holzhauern an einen besondern Platz und begann mit seiner Axt auf den Boden zu klopfen, wobei der Boden unter der Axt hohl erklang. Als er dies merkte, grub er eine Weile, bis er auf eine runde Steinfliese mit einem Ring stieß und nun bei ihrem Anblick erfreut die ganze Holzhauergesellschaft heranrief.
Vierhundertundvierundachtzigste Nacht.
Als die Holzhauer die Steinfliese erblickten, stürzten sie sich auf sie und hoben sie auf; da fanden sie unter ihr eine 56 Thür, und als sie die Thür aufmachten, siehe, da war es eine mit Bienenhonig angefüllte Cisterne. Da sagten die Holzhauer zu einander: »Diese Cisterne ist ganz voll Honig, und es bleibt uns deshalb nichts anderes übrig, als daß wir nach der Stadt gehen und Gefäße holen, worin wir den Honig füllen können, damit wir ihn verkaufen und den Erlös unter uns teilen; doch muß einer bei dem Honig bleiben und ihn vor andern hüten.« Und Hâsib sagte: »Ich will bei ihm sitzen und ihn hüten, bis ihr mit den Gefäßen zurückkehrt.« Hierauf gingen sie fort, während Hâsib Kerîm ed-Dîn die Cisterne mit Honig für sie hütete, und holten Gefäße aus der Stadt, worauf sie dieselben mit Honig füllten und sie dann auf ihre Esel luden und nach der Stadt brachten, wo sie den Honig verkauften. Alsdann kehrten sie zum zweiten und drittenmal und so weiter zurück und verkauften den Honig in der Stadt, während Hâsib Kerîm ed-Dîn bei der Cisterne zurückblieb und sie für sie bewachte, bis sie eines Tages, nachdem geraume Zeit in dieser Weise verstrichen war, zu einander sagten: »Siehe, Hâsib Kerîm ed-Dîn war es, der den Honig fand; und morgen wird er zur Stadt hinabsteigen und wird Klage wider uns erheben und den Erlös für den Honig für sich beanspruchen, und wird sagen: Ich war's, der ihn fand. Wir können dem auf keine andere Weise entgehen als daß wir ihn in die Cisterne hinunterlassen, daß er den letzten Honig, der sich noch in ihr befindet, einfüllt, und ihn dann drin stecken lassen; er wird dann vor Angst sterben, und niemand wird etwas von ihm wissen.« Nachdem sich alle hierauf geeinigt hatten, zogen sie aus der Stadt hinaus und hielten nicht eher an als bis sie bei der Cisterne angelangt waren, wo sie zu ihm sagten: »Hâsib, steig' hinab in die Cisterne und füll' uns den letzten Honig ein.« Da stieg Hâsib in die Cisterne hinab, und füllte ihnen den letzten Honig ein, worauf er zu ihnen sagte: »Zieht mich heraus, es ist nichts mehr drin.« Keiner von ihnen gab ihm jedoch eine Antwort, vielmehr beluden sie ihre Esel und 57 kehrten nach der Stadt zurück, ihn in der Cisterne allein zurücklassend, so daß er um Hilfe zu schreien anhob und weinte und einmal über das andere rief: »Es giebt keine Macht und keine Kraft außer bei Gott, dem Hohen und Erhabenen! Ich muß vor Angst sterben.«
Soviel, was Hâsib Kerîm ed-Dîn anlangt; die Holzhauer aber verkauften nach ihrer Ankunft in der Stadt den Honig und gingen dann weinend zu seiner Mutter und sprachen zu ihr: »Mag dein Haupt deinen Sohn Hâsib überleben!« Da fragte sie die Holzhauer: »Was war die Ursache seines Todes?« Und sie erwiderten ihr: »Siehe, wir saßen oben auf dem Gebirge, als ein gewaltiger Regen vom Himmel über uns hereinbrach. Kaum hatten wir vor ihm in einer Höhle Obdach gesucht, da lief der Esel deines Sohnes ins Wadi hinunter, und er hinterdrein, um ihn zurückzutreiben, als mit einem Male ein gewaltiger Wolf aus dem Wadi hervorbrach, deinen Sohn zerriß und den Esel auffraß.« Als seine Mutter den Bericht der Holzhauer vernahm, schlug sie sich vors Gesicht, streute sich Staub aufs Haupt und trauerte um ihn, während ihr die Holzhauer alle Tage Speise und Trank brachten. Alsdann machten sie Kaufläden auf und wurden Kaufleute und schmausten und zechten und lachten und trieben Kurzweil.
Inzwischen saß Hâsib Kerîm ed-Dîn in der Cisterne und weinte und klagte in einem fort, als mit einem Male ein großer Skorpion auf ihn fiel. Da stand er auf und machte ihn tot; dann aber versank er in Gedanken und sprach bei sich: »Siehe, die Cisterne war doch ganz voll Honig, wie konnte da der Skorpion hereinkommen?« Hierauf stand er wieder auf und suchte, sich nach rechts und links in der Cisterne drehend, die Stelle, von welcher der Skorpion herabgefallen war, bis er einen Spalt sah, durch welchen ein Lichtschimmer hereinfiel. Da zog er sein Messer hervor und erweiterte den Spalt, bis er so groß wie ein Fenster geworden war, worauf er sich durch die Öffnung zwängte und weiter 58 ins Innere schritt. Nach einer Weile gewahrte er eine große Vorhalle und, nachdem er auch in diese geschritten war, erblickte er ein großes Thor aus schwarzem Eisen, vor welchem ein silbernes Schloß lag, in dem ein goldener Schlüssel steckte. Da trat er an das Thor heran und, durch seinen Spalt spähend, nahm er nun ein großes Licht wahr, welches den Raum hinter dem Thor erhellte. Nun faßte er den Schlüssel, öffnete das Thor und durchschritt den Raum dahinter, bis er nach einer Weile zu einem großen Teich gelangte, in welchem er etwas, das wie Wasser schimmerte, erblickte. Unverdrossen schritt er ganz nahe an den Teich heran und sah nun einen hohen Hügel aus grünem Chrysolith, auf welchem ein goldener mit allerlei Juwelen besetzter Thron stand.
Vierhundertundfünfundachtzigste Nacht.
Rings um diesen Thron standen Stühle, teils aus Gold, teils aus Silber und teils aus grünem Smaragd. Nachdem er dieselben gezählt und ihrer zwölftausend gefunden hatte, stieg er auf den Thron inmitten der Stühle und setzte sich auf denselben, verwundert über den Teich und alle die Stühle, bis ihn die Müdigkeit überwältigte, und er einschlief. Nach einer Weile vernahm er jedoch ein Schnarchen und Zischen und lautes Rascheln; und als er nun die Augen öffnete und sich aufrecht setzte, sah er auf jedem Stuhl eine gewaltige Schlange von hundert Ellen Länge, so daß er von mächtigem Entsetzen gepackt wurde, und sein Speichel infolge seines Grausens trocknete, und er am Leben verzweifelte. Die Augen aller der Schlangen auf den Stühlen funkelten wie Kohlen, und, wie er sich nun zum Teich wendete, sah er in ihm eine Menge kleiner Schlangen, deren Anzahl Gott, der Erhabene, allein kannte. Nach einer Weile kam eine riesige Schlange auf ihn los, die so groß wie ein Maultier war und auf ihrem Rucken eine goldene Platte trug, auf deren Mitte eine krystallhell schimmernde Schlange mit menschlichem Antlitz saß, die mit menschlicher Sprache redete. Als 59 diese Schlange nahe an Hâsib Kerîm ed-Dîn gekommen war, begrüßte sie ihn, und er erwiderte ihr den Salâm. Alsdann kroch eine der Schlangen, die auf den Stühlen saßen, zur Platte, hob die Schlange von ihr herunter und setzte sie auf einen der Stühle; und nun rief diese die andern Schlangen in ihrer Sprache an, worauf sich alle Schlangen von den Stühlen stürzten und Segen auf sie erflehten. Dann gab sie ihnen ein Zeichen sich wieder zu setzen, und, als sie es gethan hatten, sagte sie zu Hâsib Kerîm ed-Dîn: »Fürchte dich nicht vor uns, junger Mann, denn siehe, ich bin die Königin und Sultanin der Schlangen.« Als Hâsib Kerîm ed-Dîn diese Worte von ihr vernahm, beruhigte sich sein Herz. Die Schlangenkönigin aber gab nun den Schlangen einen Wink etwas zum Essen zu bringen, worauf dieselben Äpfel, Weintrauben, Granatäpfel, Pistazien, Haselnüsse, Walnüsse, Mandeln und Bananen brachten und sie Hâsib Kerîm ed-Dîn vorsetzten. Hierauf sprach die Schlangenkönigin: »Sei willkommen, junger Mann; wie heißest du?« Er erwiderte ihr: »Mein Name ist Hâsib Kerîm ed-Dîn.« Nun sagte sie: »O Hâsib, iß von diesen Früchten, wir haben keine andere Speise bei uns; und sei ganz ohne Furcht vor uns.« Als Hâsib Kerîm ed-Dîn diese Worte von der Schlangenkönigin vernahm, aß er, bis er genug hatte, und lobte Gott; sobald er sich aber satt gegessen hatte, hoben sie das Tuch auf und trugen es fort, und die Schlangenkönigin sagte zu ihm: »Erzähle mir, o Hâsib, von wannen du bist, wie du an diesen Ort kamst, und was dir zugestoßen ist.« Da erzählte ihr Hâsib alles, was seinem Vater zugestoßen war, wie seine Mutter ihn geboren und als Knaben von fünf Jahren in die Schule gebracht hatte, wie er jedoch nichts gelernt hatte, und wie seine Mutter ihn dann ins Handwerk gegeben und ihm hernach einen Esel gekauft hatte und er Holzhauer geworden war; wie er dann die Honiggrube gefunden hatte, wie ihn seine Freunde, die Holzhauer, in der Grube gelassen hatten und fortgegangen waren, wie der 60 Skorpion auf ihn herabgefallen war und er ihn getötet hatte, wie er dann den Spalt, aus welchem der Skorpion herabgefallen war, erweitert hatte und aus der Grube gestiegen war, und wie er schließlich das eiserne Thor gefunden und es geöffnet hatte und so zur Königin gekommen war; und schloß seine Erzählung mit den Worten: »Solches ist meine Geschichte von Anfang bis Ende, und Gott ist allwissend und weiß, was mir nach alledem noch widerfahren wird.« Als die Schlangenkönigin seine Geschichte von Anfang bis Ende vernommen hatte, sagte sie zu ihm: »Nichts als allein Gutes soll dir widerfahren;
Vierhundertundsechsundachtzigste Nacht.
Doch wünschte ich, o Hâsib, du bliebest eine Weile bei mir, daß ich dir auch meine Geschichte erzähle und dir die Wunderdinge, die ich erlebt habe, mitteile.« Hâsib antwortete ihr: »Ich höre und gehorche deinem Befehl;« und nun hob die Schlangenkönigin an und erzählte: