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Als wir am nächsten Morgen erwachten, rieben wir uns verwundert die Augen. Erst allmählich kam uns zum Bewußtsein, daß wir in der großen, fremden Stadt waren, die uns nun Heimat werden sollte. Mit einem raschen Satze sprangen wir aus den Federn.
»Nun, was hast du geträumt?« fragte mein Bruder.
Ich sah ihn nur verächtlich an.
»Mit dir bin ich fertig,« entgegnete ich kurz. »Du weißt schon, weshalb.«
»Ach, du dummer Junge,« antwortete er, »frage nur den Vater, ob es eine Sünde ist.«
»Das werde ich – verlaß dich darauf.«
Und in der Tat trugen wir beim Frühstück den Streitfall vor.
Mein Vater hörte aufmerksam zu. Dann sagte er zu meinem Bruder: »Ich glaube schon, daß du dir aus Faulheit das Beten so bequem machst.«
Mein Bruder leugnete das heftig.
Mein Vater fügte hinzu: »Im übrigen hängen natürlich die Frömmigkeit und der Ernst des Gebetes nicht davon ab, ob man es im Liegen oder im Sitzen spricht.«
Dieses Urteil, das meinem Bruder trotz der Einschränkung gewissermaßen recht gab, behagte mir keineswegs. Ich war in diesem Punkte eben anderer Meinung als mein Vater. Und bis auf den heutigen Tag glaube ich noch, daß ich im Rechte war. Denn wenn man es sich mit Gott in dieser Weise bequem macht, so hat meinem Gefühle nach der Gottesdienst wenig Sinn. Wie man sich aus jede ernsthafte Sache gründlich vorbereiten muß, so verlangt dies auch die Auseinandersetzung mit Gott.
Indessen wagte ich nicht zu widersprechen. Ich behielt meine Gedanken für mich, genoß stillschweigend das Frühstück und vermied es, meinen siegreichen Bruder anzublicken. Sobald ich meinen Kaffee getrunken hatte, erbat und erhielt ich die Erlaubnis, in den Hof zu gehen und mir unser Haus nach allen Seiten zu betrachten. Und ohne meinen Bruder aufzufordern, mich zu begleiten, eilte ich voll Ungeduld die drei Treppen hinunter.
Was war das für ein Hof? Mein Herz jubelte. Groß und sauber lag er da, und der frisch gefallene Schnee bedeckte sein Pflaster. In der Mitte des Hofes stand der kahle Kastanienbaum, den Portier Staegemann mit eigenen Händen gepflanzt hatte. Rechts und links führten Eingänge zu den hinteren Treppenhäusern, die durch einen Laubengang verbunden waren.
Unmittelbar an den Hof schloß sich ein schöner, großer Garten, der eine seltsame Laube barg. Sie lehnte sich an die Grenzmauer zwischen unserem und dem benachbarten Grundstück und übte auf mich einen geheimnisvollen Zauber aus. Hier saßen die Kinder an lauen Sommerabenden, oder wenn der Regen sie vom Hofe trieb, eng nebeneinander gekauert. Ihnen zu Häupten sangen Engel, die zu beiden Seiten die Mutter Gottes mit dem Jesusknaben umgaben, fromme Lieder. Denn dieses war das Geheimnisvolle der Laube, daß sie einer kleinen Kapelle glich. Aus ovalen Bogen, in die sie wie in Rahmen gestellt waren, traten greifbar die Gestalten der singenden Engel und der Mutter Gottes hervor. Mochte der Jesusknabe auch eine etwas beschädigte Nase zeigen – mochte unter Sturm und Wetter die Fleischfarbe der nackten Engel ebenso wie das rote Gewand der Madonna gelitten und allmählich ein verwaschenes Aussehen erhalten haben – den Kindern verschlug das wenig. Ich für mein Teil wurde in der Folge eher dadurch gereizt, daß die pausbackigen Engelsgestalten partout nicht die Münder schließen und mit ihrem Gesange nicht aufhören wollten. Aber auch daran gewöhnte ich mich, und wenn ich den aufhorchenden Gespielen meine Geschichten erzählte, und einer sich an den andern schmiegte, um besser hören zu können, so fühlten wir uns geborgen unter dem Schutze der Mutter Gottes, des Jesusknaben und der singenden Engel.
An jenem frühen Morgen betrachtete ich mit gespannter Aufmerksamkeit all die Dinge um mich herum, als wollte ich sie mir fürs ganze Leben ins Gedächtnis prägen. Und während ich mir noch den Kopf darüber zerbrach, wie wohl der arme Jesusknabe zu seiner verstümmelten Nase gelangt war, stand auf einmal ein blonder Junge mir gegenüber, der mich mit prüfendem, abwägendem Ernst fixierte. Ich hielt scheinbar ruhig seinen Blick aus, obwohl ich mein Herz klopfen hörte. Denn dieser Junge, der etwa einen halben Kopf größer war als ich, nahm mich gefangen. Seine wasserhellen Augen leuchteten – seine kühne, schmale Nase verriet Kraft und Verwegenheit, und der fein gezeichnete Mund schien Trotz und Güte in wunderlichem Verein auszudrücken. Vor allem aber entzückte mich sein glänzendes, blondes Haar.
Nachdem wir eine Weile gegenseitig mit stummen Blicken unsere Kräfte gemessen hatten, brachen wir wie auf ein verabredetes Zeichen in helles Lachen aus, das den Bann zwischen uns löste. Er reichte mir fröhlich lachend die Hand, in die ich bereitwillig einschlug.
»Ihr seid gestern angekommen?«
»Ja,« sagte ich, »gestern abend!«
»Es ist fein hier, was?«
»Sehr fein,« entgegnete ich.
»Und das Feinste kennst du nicht einmal. – Wie heißt du denn eigentlich?«
»Felix.«
»Ein hübscher Name.«
»Ich finde ihn schrecklich. – Und wie heißt du?«
»Walter.«
»Das hätte ich mir denken können.«
Er lachte.
»Wieso hättest du dir das denken können?«
»Der Name paßt so gut zu dir.«
»Findest du?«
»Ja.«
»Schau mal in die Höhe.«
Ich folgte seiner Aufforderung und entdeckte auf dem Dache gerade über unserer Wohnung ein kleines graugestrichenes Häuschen.
»Da oben bin ich schon einmal gewesen,« sagte er. »Es gibt da lauter Geheimnisse.«
»Was für Geheimnisse?« fragte ich neugierig.
»Später werde ich es dir vielleicht einmal erzählen,« erwiderte er, nahm mich bei der Hand und führte mich aus dem Garten in den Hof.
»Siehst du dieses Tor?«
Ich nickte.
»Hier geht es in das Hinterhaus und in den zweiten Hof, wo die armen Leute wohnen. Folge mir nur.«
Wir schritten durch den Eingang. Bevor wir jedoch unser Ziel erreichten, blieb er stehen und öffnete eine niedrige Tür. Ein stockfinstrer Raum starrte uns entgegen.
»Nun darfst du keine Furcht haben,« sagte er, »denn hier geht es in den dusteren Keller. Halte dich fest an mich, sonst stolperst du und brichst dir Hals und Beine.«
Wir stiegen ein paar Stufen hinab und befanden uns in einem langen korridorartigen Gang.
Nicht das mindeste war in diesem Dunkel zu unterscheiden.
»Wenn man sich hier versteckt,« flüsterte er mir zu, »ist man vor allen Feinden sicher. Hier kann einen niemand so leicht aufstöbern, verstehst du?«
»Ja,« sagte ich und hörte, wie mein Herz schlug.
Er ließ meine Hand plötzlich los.
»Hast du etwa Angst?« fragte er leise und spöttisch.
»Ich habe keine Angst,« entgegnete ich ärgerlich. »Ich fürchte mich vor niemandem.«
»Hm, das gefällt mir.«
Dieses Lob erfüllte mich mit Stolz.
»Paß einmal auf. Jetzt wird es gleich hell werden. Tritt ein bißchen zurück.«
In der Tat drang unmittelbar darauf ein Lichtschein uns entgegen.
Er hatte nämlich die Tür geöffnet, die zur Waschküche führte.
Jetzt erst begriff ich die eigentliche Bestimmung des dusteren Kellers.
Wir gelangten wieder ins Freie und in den zweiten Hof, der im Vergleich zu dem des Vorderhauses einen ärmlichen Eindruck machte. Ein Knabe im gleichen Alter wie wir füllte an dem Brunnen einen Eimer. Bei unserem Anblick legte er wie ein kleiner Kadett grüßend die rechte Hand an die Schläfe. Mein neuer Freund erwiderte in derselben Art ein wenig von oben herab diesen militärischen Gruß. Gleich darauf nahm er mich unter den Arm und ging mit mir ins Vorderhaus zurück.
»Dies war Heinrich Felbel,« sagte er, und leiser fügte er hinzu: »Sein Vater ist ein Roter.«
Obwohl ich den Sinn dieser Worte nicht verstand, nickte ich stumm.
»Warum grüßt ihr euch so?«
Walter gab meinen Arm frei, kniff die Augen ein wenig zu und sagte dann langsam: »Alle Jungen müssen mich zuerst grüßen, du von morgen an auch. Denn auf beiden Höfen bin ich der Kaiser.«
Er brachte das in so sicherem Ton hervor, als ob jede Widerrede von vornherein ausgeschlossen wäre.
»Und wenn ich nicht will?« warf ich zögernd ein, denn mir behagte es nicht, mich so ohne weiteres unter die Botmäßigkeit meines neuen Kameraden zu stellen.
»Dann, lieber Junge,« antwortete er, »sind wir von der ersten Stunde an unversöhnliche Feinde. Ich bin und bleibe Kaiser auf beiden Höfen.«
Mein Ehrgefühl lehnte sich gegen diese Unterordnung auf.
»Gut. So sind wir Feinde,« sagte ich, »was geschieht nun?«
»Was nun geschieht?« wiederholte er lachend, »du wirst es gleich merken. Wir kämpfen mit einander und wollen sehen, wer von uns beiden der Stärkere ist. Wollen wir boxen oder ringen?«
»Erst ringen, dann boxen,« entschied ich.
»Abgemacht!«
Ein regelrechter Kampf begann. Nach wenigen Minuten lag ich auf dem Boden, und er hielt sein rechtes Knie auf meine Brust gestemmt.
»Nun? Wer hat gesiegt?« fragte er.
»Du,« erwiderte ich schamrot und war dem Heulen nahe.
Ich biß jedoch auf meine Lippe, um der aufsteigenden Tränen Herr zu werden.
»Jetzt wollen wir boxen,« sagte ich, »eher ist der Sieg nicht entschieden.«
»Gut. Boxen wir.«
Wie die Kampfhähne stürzten wir aufeinander los, ging es doch um die Kaiserkrone zweier Höfe.
Er verstand sich auch auf das Boxen. Es hagelte Püffe bald auf die Nase, bald auf die rechte, bald auf die linke Brust. Jetzt fühlte ich, daß mir das Blut über die Lippen rann. Ich gab keinen Laut von mir und wehrte mich wie ein Verzweifelter. Ich wollte nicht verlieren.
Da auf einmal drang aus einem Fenster des zweiten Stockwerks eine tiefe melodische Frauenstimme in den Hof.
»Walter! Walter! Du nichtswürdiger Junge! Wirst du sofort aufhören!«
Er ließ im Nu die Arme sinken. Aber ritt mich der Teufel, oder war ich von einer Erbitterung erfüllt, die mir jede Besinnung raubte – genug, ich ging von neuem auf ihn los.
Er mußte sich notgedrungen wehren. Aber auf seinem Gesicht las ich den Ausdruck der tiefsten Bekümmernis. In seinen Zügen arbeitete es unaufhaltsam. Er war ganz blaß geworden.
»Walter! Walter! Hörst du mich nicht? – Und du, böser Schlingel« (diese Worte waren offenbar an mich gerichtet) »gibst ebenfalls Ruhe!«
Mein Gegner verschränkte plötzlich die Arme. »Du kannst machen, was du willst,« sagte er. »Ich boxe nicht weiter.«
Dabei sah er mich mit einer unbeschreiblich traurigen und grundehrlichen Miene an, die ich niemals vergessen habe. Dieser Ausdruck seines Gesichtes beschämte mich tief, ich senkte den Kopf.
»Komm herauf, Walter!« tönte es von oben.
Er schlich still an mir vorbei, während ich noch eine Weile wie angewurzelt dastand, mit mir selbst im Hader und keineswegs mit meiner Aufführung zufrieden. Ich zog mein Taschentuch hervor und reinigte mein zerschundenes Gesicht. Am liebsten hätte ich mich vor aller Welt verkrochen. In diesem unbehaglichen Gefühl der Scham kam mir plötzlich ein erlösender Einfall. Ich nahm beide Hände voll Schnee und wusch mir das heiße Gesicht. Dann atmete ich tief auf und trollte mich ebenfalls. Das ganze Abenteuer tat mir weh. Einen Freund gefunden zu haben, um ihn in selbiger Stunde zu verlieren, erschien mir bitter. Nachdenklich stieg ich die Treppen hinauf. Vor jeder Stufe machte ich halt. Als ich den zweiten Stock erreicht hatte, hörte ich ein Geräusch. Die Entreetür öffnete sich und Walters Kopf wurde sichtbar.
»Hier ist ein Brief für dich,« sagte er kurz und warf die Tür klirrend hinter sich zu.
Ich öffnete zitternd das Schreiben und las:
»Du kannst nicht Kaiser werden. Es geht beim besten Willen nicht. Aber wenn Du einverstanden bist, so mache ich Dich zum Kronprinzen, und Du erbst später das ganze Reich. Denn ich habe Dich trotzdem gern. Überlege es genau, bevor Du antwortest.
Es grüßt Dich
Walter Senz.«
Diese Zeilen rührten mich dermaßen, übten eine so beglückende Wirkung auf mich aus, daß ich nun in der Tat zu weinen anfing. Aber geschämt habe ich mich dieser Tränen nicht, die aus der Freude meines jungen Herzens geboren wurden. Ich fühlte, daß ich Walter Senz liebte, wie ich noch keinen Jungen vor ihm geliebt hatte, und daß ich – wenn auch nicht leichten Herzens – entschlossen war, zu seinen Gunsten auf die Kaiserkrone zu verzichten.