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22

Ein paar Wochen vor meinem Abiturientenexamen kam es zwischen mir und meinem Mathematiklehrer noch zu einer Art von Duell.

Professor Schulze hatte, wie man so zu sagen pflegt, eine Pike auf mich. Mich selber überläuft noch heute eine Gänsehaut, wenn ich mich des Mannes erinnere.

Ein knochiger, hoch aufgeschossener Mensch mit rotem Haupt- und Barthaar – aus dem Vollbart lugten weiße Büschel hervor, die mit dem roten Grundton merkwürdig kontrastierten.

War Mathematik niemals meine starke Seite gewesen, so hatte der Haß, mit dem dieser Mensch mich verfolgte, seine teuflische Schadenfreude, wenn ich eine schlechte Arbeit abgeliefert, oder bei seinen Kreuz- und Querfragen versagte, es noch zuwege gebracht, daß ich in den letzten Jahren seinem Unterrichte stumpf und teilnahmlos gefolgt war. Nun rückte das Examen in eine bedenkliche Nähe, und ich war genötigt, alle meine Energie zusammenzuraffen, um die entstandenen Lücken auszufüllen. Es dünkte mich auch, als ob mir dies gelingen wollte, denn die Ästhetik der Mathematik begann mir plötzlich aufzudämmern – es machte mir wirklich Freude, wenn es mir gelang, eine Gleichung auf elegante Art zu lösen. Mein Selbstbewußtsein wuchs infolgedessen, und mit einer gewissen Zuversicht wartete ich auf die nächste Gelegenheit, bei der ich von meinen Fortschritten Zeugnis ablegen könnte. Sie kam schneller als ich dachte.

Professor Schulze setzte seinen Kneifer auf, zog sein Notizbüchlein hervor und suchte nach dem Opfer, das er sich für diesen Tag auserwählt hatte. Er war übler Laune, denn er war stark erkältet und hatte sich um den Hals einen breiten gestrickten Schal geschlungen, der in seiner grauen Farbe einem Strumpfe nicht unähnlich war. Daß er nun gerade in dieser seiner Gemütsverfassung mich wählte, verhieß nichts Gutes. Ich aber dachte mir: gerade heute wirst du ihm beweisen, wie du gearbeitet hast. Ich ließ mich also nicht einschüchtern und wartete auf seine Fragen. Professor Schulze riß die Augen weit auf, als er mich wider Erwarten sicher und vorbereitet fand.

»Na, nun legen Sie mal los mit dem Goldenen Schnitt,« sagte er mürrisch.

Ich begann und hatte die innere Überzeugung, daß ich auch in dieser Aufgabe nicht versagen würde. Es schien in der Tat alles glatt zu gehen. Inmitten der Lösung machte ich eine ganz kleine Pause und atmete tief auf.

Diesen Moment benutzte Professor Schulze zu einem niederträchtigen Ausfall gegen mich. Er grinste über das ganze Gesicht, das vor Niedertracht nur so leuchtete, und sagte mit einem triumphierenden Lächeln dreimal hintereinander: »Strohfeuer – Strohfeuer – Strohfeuer!«

Ich war über diese Gemeinheit so perplex, daß ich nun wirklich die Fassung verlor und wirres Zeug faselte.

Professor Schulze verschränkte die Arme, und während er in seinem Notizbuch bei meinem Namen die obligate Fünf notierte, sagte er mit eisigem Hohn: »Gehen Sie unter die Pumpe, Verehrtester, und kühlen Sie sich ein wenig ab!«

Kaum war dieses Wort, um mich mit meinem geliebten Homer auszudrücken, dem Gehege seiner Zähne entflohen, so hatte ich auch schon meinen Nachbar beiseitegestoßen, mir freien Raum geschaffen und die Klasse verlassen.

Ich stürzte in unbeschreiblicher Wut auf den Schulhof, steckte nach Till Eulenspiegelscher Methode in der Tat meinen armen Schädel unter die Pumpe und eilte, sobald er pitschnaß war, wieder in das Klassenzimmer.

Professor Schulze sah mich starr an.

»Zum Teufel! was haben Sie denn da angestellt?« fragte er mich verdutzt.

»Den Kopf unter die Pumpe gesteckt – wie Sie befohlen haben.«

Professor Schulze wollte auffahren.

Aber mich packte ein so leidenschaftlicher Ingrimm, daß ich ihn nicht zu Worte kommen ließ.

»Es ist mir ganz gleichgültig, wie Sie über mich denken,« sagte ich zornbebend. »Aber drangsalieren lasse ich mich von Ihnen nicht.«

Professor Schulzes Miene wurde fahl. In meinem ganzen Gebaren mußte etwas gelegen haben, das ihn warnte, mich noch mehr zu reizen.

»Sie sind nicht bei Troste,« sagte er verächtlich. Dann rief er einen anderen Namen auf, so daß die Kontroverse zwischen ihm und mir abgebrochen war.

Meine Mitschüler hatten mit atemloser Spannung diesen Zwischenfall verfolgt. Sie fanden mein Benehmen schneidig, aber sie fürchteten, daß ich mich um meinen Hals, oder korrekter ausgedrückt – um das Examen geredet hatte.

Ich lachte sie aus. Ich hatte in der Sache meinen besonderen Standpunkt und bildete mir nicht ein, gegen Professor Schulze besonders charaktervoll und mutig gewesen zu sein. Denn für mich lag die Geschichte so, daß ich mittlerweile zu der Überzeugung gekommen war, todessicher im Examen – durchzufallen. Infolgedessen legte ich mir eine besondere Taktik zurecht: da du auf jeden Fall durchrasselst – sagte ich mir – hat es ja keinen rechten Sinn, sich zu Tode zu schuften.

Anderseits bist du es deinen Angehörigen schuldig, zum mindesten das Dekorum zu wahren und den Anschein zu erwecken, daß du wirklich gearbeitet hast. Ich legte mich also Punkt zehn Uhr zu Bett, ließ aber während der ganzen Nacht die vorher frisch gefüllte Petroleumlampe brennen. So hatten meine Leute wenigstens eine stille Genugtuung, denn im ganzen Hause hieß es: Der Doktorjunge arbeitet seit Wochen die Nächte durch.

Auch zu meinem Vater drang die Kunde von meinem Fleiße. Es machte auf ihn gar keinen Eindruck.

»Hätte er all die Jahre gewissenhaft seine Pflicht erfüllt,« sagte er, »so brauchte er jetzt nicht die Nächte opfern.«

»Bravo!« antwortete ich unhörbar. »Und wenn ich all die Wochen kein Auge zutäte und hinter meinen Büchern büffelte – ich würde doch mit Pauken und Trompeten durchfallen. Denn Schulze legt mich in Mathematik glatt rein – sobald ich beginne: cos. alpha plus cos. beta – fängt er zu grinsen an – und aus ist es. In der Geschichte geht es mir noch dreckiger – – – wenn ich mich Kopf stelle, kriege ich die Zahlen nicht in mein Hirn.«

Meine Mutter fand, daß ich blaß und versorgt aussähe. Sie drückte mir eines Tages ein Zwanzigmarkstück, das sie sich abgehungert hatte, in die Hand und sagte: »Pflege dich ein bißchen, mein Junge.«

Diese Güte demütigte mich auf das tiefste. Mein verstocktes Herz schmolz wie der Schnee unter der Sonne. Ich wollte das Geld nicht nehmen. Aber die Mutter bestand darauf. So mußte ich mich ihrem Willen fügen, und schließlich sagte ich mir: »Wenn du durchgefallen bist, siehst du weder ein Goldstück, noch kriegst du ein gutes Wort zu hören. Also nimm's in Gottes Namen. Was man hat, hat man.«

Und so schlief ich Nacht für Nacht einen gesegneten Schlaf, während die Lampe treu und unablässig brannte.

Der Tag des Examens kam, und ich zog mir heimlich meinen Frackanzug an, um das Unglück über mich ergehen zu lassen.

Auf der Treppe zum Prüfungszimmer begegnete ich Schulze.

»Na,« sagte er, »den Pythagoreischen Lehrsatz und den Goldenen Schnitt werden Sie wohl können.«

Ohne meine Antwort abzuwarten, flitzte er an mir vorbei.

Der macht sich noch in der Todesstunde über dich lustig – dachte ich – so ein Schurke!

Ich will mich über das Examen kurz fassen. Jedermann weiß, daß das Ganze einer scheußlichen Tierquälerei nahekommt, daß aber die Angst vor der zu erwartenden Pein schließlich viel größer ist, als der Schmerz, der einem nachher zugefügt wird.

An mir zog die Geschichte wie ein wüster Traum vorbei.

Ich wußte schon am nächsten Tage nicht mehr, was man mich gefragt hatte – geschweige denn, wieviel Antworten ich schuldig geblieben war. Ich erinnere mich nur noch, daß ein kleiner, wohlbeleibter Herr – in schwere Decken verpackt – auf einer Art von Kanzel saß und die Prüfung leitete. Dies war der Kommissar, Geheimer Schulrat Doktor Klix, dem wegen seiner Strenge ein übler Ruf voranging. Er litt an Podagra, und es war eine ausgemachte Sache, daß jedesmal die Hälfte der Abiturienten durchfiel, wenn er in seiner Packung ankam. Denn das bedeutete, daß er gerade einen neuen Anfall hatte.

Dir kann es gleich sein – dachte ich bei seinem Anblick – du rasselst in jedem Falle durch.

Obwohl ich Schulze in der Tiefe meines Herzens mißtraute, hatte ich dennoch in aller Eile mich über den Goldenen Schnitt und Pythagoreischen Lehrsatz mit einem Conabiturienten verständigt.

Es war selbstverständlich überflüssig gewesen. Schulze hatte nicht im Traum daran gedacht, mir diese Fragen vorzulegen. Er benahm sich noch in der letzten Stunde gemein gegen mich.

Die Prüfung war beendet, und man rief uns Abiturienten, die wir draußen mit pochenden Herzen und in schlecht sitzenden Fracks – über den Händen die weißen, prall sitzenden Glacés – auf dem Haupte den Zylinder (ich hatte mir einen Anzug für einen Taler ausgeliehen) ängstlich der Entscheidung harrten, in den Konferenzsaal. Wir zwanzig Schlachtopfer stellten uns in einer langen Reihe auf, während der Direktor mit dem Lehrerkollegium um Geheimrat Klix eine Gruppe bildete.

Zuerst wurde ein Gebet gesprochen, obwohl in der Erregung dieser Stunde keiner von uns ein besonderes Verhältnis zu Gott hatte. Dann kroch Geheimrat Klix aus seiner Verpackung hervor und stand wie ein Jupiter tonans vor uns.

Ich habe keine Ahnung mehr von dem, was er gesprochen hat. Ich horchte auf, als er die Namen derjenigen zu nennen begann, die die Prüfung bestanden hatten. Ich wartete und wartete – mein Name kam nicht. Und plötzlich machte er eine große Pause, dann fixierte er mich scharf – und sich direkt an mich wendend – fuhr er fort: »Ihre Leistungen waren leider in der Mathematik und Geschichte derartig schwach, daß Ihre Lehrer nicht glaubten, Ihnen das Zeugnis der Reife erteilen zu können …«

Wieder hielt er inne. Und nun weiß ich, als ob es heute geschehen wäre, daß in dieser Sekunde etwa folgende Erwägungen mit blitzartiger Geschwindigkeit durch mein Hirn zuckten:

Erstens sind Sie in einem kleinen Irrtum befangen, Herr Geheimrat, wenn Sie meinen, mir eine Neuigkeit mitzuteilen.

Zweitens – wie soll ich jetzt meinem Vater vor die Augen treten … Ich sah sein kummervolles Antlitz – und sein Wort klang in meinen Ohren: du wirst noch ein Nagel zu meinem Sarge.

Es gab nur einen Ausweg – kopfüber ins Wasser zu springen.

Und jetzt erhob Geheimrat Klix von neuem die Stimme: »Wenn wir uns dennoch entschlossen, Ihnen das Reifezeugnis zu erteilen, so danken Sie das in erster Linie Ihrem deutschen Lehrer, der auf Grund Ihrer Leistungen im deutschen Aufsatz auf das wärmste für Sie eingetreten ist …«

Nur wer jemals einer Lebensgefahr entronnen ist, und in den finsteren Abgrund geblickt hat, vermag in seinem Herzen zu ermessen, welch ein Gefühl der Seligkeit mich durchdrang.

Klirrend waren die Ketten des Schulkerkers gefallen – das goldene Land der Freiheit tat sich auf.

Leb wohl, du alter Kasten, in dem ich oft geseufzt und gestöhnt habe. – Lebt wohl, ihr bemoosten Häupter mit den faltigen, strengen Magistermienen. Ihr wolltet nur unser Bestes und habt Schindluder mit uns getrieben. Unser Herz und unseren Geist wolltet ihr formen und bilden und habt auf uns arme Jungen losgehämmert, daß Hirn und Seele zerbrochen wären, wenn nicht ein guter Gott die Teile immer wieder zusammengefügt hätte …


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