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9

In den Nebenzimmern übten die Schwestern am Klavier und mein Bruder Richard machte unaufhörlich seine Geigenstudien. Das Haus hallte wider von Musik. So manches liebe Mal ballte ich während der Schularbeiten vor Wut die Hände, weil ich dies ewige Gedudel nicht ertragen zu können glaubte. Wenn die Mutter wegen meiner Faulheit mir Vorwürfe machte, schob ich dreist und gottesfürchtig alles auf die Musik. »Man kann dabei nicht arbeiten,« sagte ich.

Die Mutter seufzte, und kam der Zensurentag, schlich sie sich in aller Frühe bekümmert aus dem Hause.

Die Abrechnung, die dann der Vater mit uns hielt, war eine Tortur, die ich kaum zu schildern vermag. Er grämte sich unsagbar, und seine Strenge hatte keine Grenzen. Wir mußten auf dem Hängeboden essen und durften uns wochenlang nicht vor ihm sehen lassen.

Die alte Therese hatte ein Mitleiden. Sie schloß uns in ihre Kammer ein, heulte in ihr Taschentuch, steckte uns heimlich die besten Bissen zu und von der Mehlspeise, die uns von Rechts wegen entzogen war, das doppelte Quantum.

So ließ sich das Unglück leichter ertragen.

Ich entwickelte mich in der nächsten Zeit zu einem rechten Flegel, der Mutter und Schwestern den Gehorsam kündigte und das Haus plagte. Einmal gab mir die Mutter in ihrem Zorne eine Ohrfeige, weil ich mich geweigert hatte, beim Kaufmann eine Flasche Petroleum zu holen.

»Ich bin kein Bedienter,« hatte ich gesagt, »und es schickt sich nicht für einen Jungen meines Alters, den Lakaien zu spielen.«

Als sie mich nun schlug, bekam ich eine Art Tobsuchtsanfall.

»Ich lasse mich von dir nicht schlagen,« schrie ich. »Niemand darf mich mißhandeln.«

Wenige Minuten später rief mich der Vater. Er fragte mich, ob ich diese Antwort meiner Mutter im Ernst gegeben hätte und sah mich dabei durchdringend an.

Ich hielt seinen Blick trotzig aus.

»Ich habe es im Ernst gesagt,« erwiderte ich. »Ich lasse mich im Hause von niemandem schlagen außer von dir.«

Es mag sein, daß mein Vater ein wenig geschmeichelt war, weil ich seine Autorität in dieser Sache unangetastet ließ. Er schalt mich zwar aus, aber an seinem milden Tone glaubte ich zu merken, daß er im Grunde seines Herzens meinen Standpunkt nicht für ganz unberechtigt hielt.

Jedenfalls hat mich meine Mutter nie mehr zum Kaufmann Bullrich geschickt, um Petroleum einzuholen. Aber in der Folgezeit sprach sie kein Wort mit mir, und meine beiden Schwestern Lotte und Anna straften mich mit Verachtung – ein Zustand, in dem ich mich recht unbehaglich fühlte. Ich war überhaupt in meinem Innern zerwühlt. Denn in jener Zeit kämpfte ich meinen Kampf mit Gott und weinte abends in die Kissen hinein. Jeder Junge macht diese Stunden der Verzweiflung durch. Jeder Junge bittet den lieben Gott, ihm in seiner Herzensangst zu helfen. Und Gott erhört ihn nicht.

Das Grauen vor dem Tode schüttelte mich und schuf meinen Nächten Fieberphantasien. In der tiefen Finsternis bekam der weiße Kachelofen plötzlich Kopf und Beine, schritt auf mich zu, holte mich aus dem Bett und trug mich in die schwarze Gruft. Erwachte ich dann mit einem lauten Aufschrei, und traten meine Mutter und meine Schwester Dora erschreckt an mein Bett, so blieb ich auf ihre Fragen jede Antwort schuldig, denn ich schämte mich.

Ich schlug Gott für viele Jahre tot und riß ihn gewaltsam aus meinem Herzen, um nicht den Verstand zu verlieren. Mir machten die irdischen Mächte so viel zu schaffen, daß ich den Kampf mit dem Himmel aufgab.

Auch wurde das ewige Grübeln durch ein freundliches Wesen unterbrochen, das sich damals unserm Hausstand zugesellte. Die neue Pensionärin hieß Rosa Himmel und war Volksschullehrerin. In die sorgenvolle Familie brachte ihr gesunder, frischer Sinn Leben und Bewegung. Sie war ein Mensch, der auch dem Unglück noch eine gute Seite abgewann. Die ersten Frühlingsblumen stellte sie meinem Vater auf den Schreibtisch, und die jungen Haselnüsse mit der grünen Hülle brachte sie ihm in einem weißen Säckchen.

Bei Tisch plauderte sie allerliebst von ihren Schulkindern, und beim Kaffee unterhielt sie sich auf eine eigenartige Weise mit meinem Vater über Kunst und Literatur.

Mit meinen Schwestern Lotte und Anna teilte sie das Schlafgemach, und die alte Therese nannte diesen Raum unserer Wohnung das gebildete Zimmer, weil die drei Fräuleins nach dem Nachtmahl französische und englische Konversation trieben oder gemeinsam lasen.

Mir war es das höchste Vergnügen, wenn ich diesen Vorlesungen beiwohnen durfte, und das Fräulein Rosa Himmel, deren Organ allein schon meinen Ohren wohltat, schmuggelte mich gegen den Widerstand der Schwestern, so oft es anging, in das Zimmer hinein.

In dem gebildeten Zimmer, das von anderer Seite auch die Jungfernkammer genannt wurde, war es überaus gemütlich. Die Vorleserin saß auf dem breiten, schwarzen Sofa, und auf dem runden Tische brannte in einem altmodischen Messinggestell die Öllampe. Eine kleine Schale enthielt das feinste Konfekt, von dem man bei traurigen Stellen ein Stückchen nahm, um seine Rührung zu verbergen.

Die Mädchen liebten die zarten Novellen von Paul Heyse, in denen es bekanntlich oft sehr wehmütig zugeht.

Im Laufe der Jahre entspann sich zwischen meinem Vater und Rosa Himmel ein allerliebstes Verhältnis. Ich habe meinen Vater in Verdacht, daß er in aller Ehrbarkeit zu dem jungen Geschöpfe eine tiefe Neigung faßte. An jedem ihrer Geburtstage machten sich die Beiden die artigsten Gedichte, und zwar in der Form des Akrostichons, das damals sehr beliebt war. Las man die Anfangsbuchstaben der Zeilen von oben nach unten, so ergab sich der Name der angesungenen Person.

Mit einem verzwickten Lächeln pflegte mein Vater einige Tage vor dem Geburtstage des Fräulein Himmel jedesmal Klage zu führen, daß er nicht zustande käme, da ihm die Anfangszeile besondere Schwierigkeiten bereite.

Das Fräulein Himmel entgegnete dann auf eine sehr delikate Weise: »Mein verehrter Herr Doktor, Sie sind in dieser Dichtungsart ein solcher Meister, daß ich ganz sicher bin, Sie kommen über das Dilemma hinweg. Übrigens bin ich im Januar in der gleichen Lage und muß mir dann meinerseits den Kopf zerbrechen …«

Es darf berichtet werden, daß das Gedicht trotz zunehmender Schwierigkeit in jedem Jahre gelang und in Schönschrift als Zierde auf dem Geburtstagstisch lag.

Und weil gerade vom Dichten die Rede ist, so soll auch nicht verschwiegen werden, daß das fünfaktige Trauerspiel »Spartacus« von Hugo Rubinstein, an dem er Jahr und Tag gearbeitet hatte, glücklich beendet war. Er las es uns in der Laube vor, und die Mutter Gottes mit dem Jesusknaben sowie die singenden Engel hielten Wacht.

Else Senz weinte heftig. Grete Senz und meine Schwester Helene hatten das Taschentuch nicht aus den Händen gelassen, während Walter, Luzie und ich eine kühle, reservierte Haltung annahmen. Die Großen behaupteten, wir hätten den Sinn der Dichtung nicht verstanden. Dieses war jedoch eine gelinde Übertreibung. Jedes Wort hatten wir begriffen. Aber wir fanden es einstimmig geschwollen, und Walter behauptete sogar steif und fest, er könnte nachweisen, daß Hugo die Historie gefälscht habe. Da ich in der Geschichte nicht so taktfest war wie er, glitt ich über diesen Einwand rasch hinweg. Wozu sollte ich mir auch eine Blöße geben.

»So,« sagte Hugo Rubinstein und wies auf ein großes, säuberlich adressiertes Kuvert. »Jetzt wird es an den Generalintendanten Graf Botho von Hülsen gesandt – der soll es im Königlichen Schauspielhaus aufführen.«

»Und wenn er es Ihnen zurückschickt?« fragte vorlaut Luzie Herterich.

Wir Jüngeren redeten nämlich Rubinstein mit »Sie« an, nicht etwa aus Ehrfurcht, sondern um unser etwas gespanntes Verhältnis zu ihm zu betonen.

Die Mädchen sahen Luzie empört an. Else Senz kehrte ihr verächtlich und demonstrativ den Rücken.

Aber Hugo erwiderte mit vollkommener Ruhe: »In diesem Falle lasse ich es bei l'Arronge im Deutschen Theater spielen, und Joseph Kainz gibt den Spartacus, was mir im Grunde noch lieber ist.«

Auf eine so verblüffende und siegessichere Antwort war niemand von uns gefaßt gewesen. Selbst unsere Partei sah mit einer gewissen Bewunderung zu ihm empor.

Luzie Herterich erholte sich zuerst.

»Wenn es aufgeführt wird, sitzen wir zusammen, Walter,« sagte sie. »Ich ziehe mein weißes Musselinkleid an.«

Solch schöne Aussicht erfüllte Walter Senz mit heftiger Freude. Er gab alle seine kritischen Bedenken auf und versprach sogar, Hugo Rubinstein herauszuklatschen.

Ich aber setzte der allgemeinen Hoffnungsseligkeit einen kleinen Dämpfer auf.

»Hülsen wird es zurückschicken,« erklärte ich, »und l'Arronge ebenfalls – darauf gehe ich jede Wette ein.«

Mir scheint, ich habe in der Sache recht behalten.


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