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Herrn Ludwig Senz' Prozeß hatte begonnen. Das waren Tage unseliger Erregungen. Die Familie ging uns scheu aus dem Wege, die armen Seelen verkrochen sich in ihre Wohnung wie der Fuchs in seinen Bau – was mochten sie in diesen Zeiten leiden, wenn am frühen Morgen die Blätter ausführliche Berichte brachten.
Grete Senz und Leutnant Dorn warteten nach jeder Sitzung auf den Advokaten und ließen sich über den Verlauf berichten. Es war der berühmteste Anwalt Berlins, der den Prozeß führte, und einer, der obendrein Herrn Senz' Leidenschaft nachzufühlen fähig war, denn er stand selber in dem Rufe, dem Kartenteufel verfallen zu sein.
Grete trug den Kopf hoch, wenn sie vor dem Moabiter Gericht auf Doktor Goldmann wartete, ihm zur Seite schritt und atemlos seinen Worten lauschte. Sie warf den Nacken stolz zurück, sie wollte sich vor niemandem ducken. Bis zu den Linden gingen sie gemeinsam, und die Leute sahen bewundernd dem schönen Mädchen nach. Leutnant Dorn bemerkte es und fühlte sich geschmeichelt – und wenn er auch, den Umständen angemessen, eine sachliche, ernste Miene zur Schau trug, so quittierte er doch mit einem heimlichen Lustgefühl über diese Anerkennung, als würde sie ihm persönlich dargebracht. Das Fräulein tat, als ob es von ihm nicht die geringste Notiz nähme.
Dem Leutnant erschien es, als ob sie über Gebühr dem jüdischen Advokaten Avancen machte. Und Grete hatte ungeachtet allen Leids ein diebisches Vergnügen daran, den Leutnant zu reizen. Sie selbst hat es meiner Schwester Helene eingestanden und hinzugefügt: »Augen habe ich geschmissen, daß es dem Doktor Goldmann heiß und kalt – und dem Leutnant angst und bange wurde.«
Wir verfolgten mit äußerster Spannung den Verlauf des Prozesses. Herr Senz, das mußte ihm der grüne Neid lassen, hatte mit der vornehmsten Gesellschaft gejeut. Blaublütige Kavaliere, ja sogar ein leiblicher Prinz, nahmen auf der Zeugenbank Platz. Ich muß sagen, in unseren Augen litt Herrn Senz' Ansehen durch diesen Prozeß in keiner Weise, zumal alle Bemühungen des Staatsanwalts, den Angeklagten des Falschspiels zu überführen, ins Wasser fielen.
Der kreißende Berg sollte ein Mäuslein gebären. Doktor Goldmann hielt eine fulminante Verteidigungsrede, die zwei volle Stunden währte, dann zog sich der Gerichtshof zurück, um am späten Abend das Urteil zu verkünden. Herr Ludwig Senz wurde wegen Glückspiels verurteilt – aber die Richter hatten von einer Gefängnisstrafe Abstand genommen und Herrn Senz nur eine verhältnismäßig geringe Geldsumme auferlegt.
Das war ein Jubel im Hause. Alle Flammen der goldenen Gaskrone im Senzschen Speisesaal brannten hell zur Feier des Abends – und Frau Senz weinte Freudentränen. Grete teilte meiner Schwester im Vertrauen mit, Doktor Goldmann habe gesagt, es sei eine Riesengemeinheit, daß man ihren Vater, wenn auch nur zu einer Geldstrafe, verurteilt habe – er werde sicher Berufung einlegen – es sei außer jedem Zweifel, daß der Prozeß mit einem glatten Freispruch enden würde. Überhaupt, habe Doktor Goldmann hinzugefügt, niemals sei ein Prozeß mit kläglicheren Mitteln in die Wege geleitet worden.
Diese Phrase, die sie offenbar auswendig gelernt, hatte sie mit einem so komischen Naserümpfen wiedergegeben, daß sich meine Schwester Helene vor Lachen krümmte. Da wurde aber Grete Senz fuchswild.
»Du bist manchmal wirklich recht eigentümlich,« sagte sie gereizt, »wenn ich nicht wüßte – – –« sie sprach den Satz nicht zu Ende, sondern fügte tiefsinnig hinzu: »Solche Ereignisse können einen um und um wandeln. Selbst ein bis auf die Knochen konservativer und königstreuer Mann wie Dorn meinte, es sei kein Wunder, wenn die Sozialdemokratie immer mehr anwächst.«
Es war das erste Mal, daß sie wieder in versöhnlicher Art von Dorn sprach, was meiner Schwester sogleich auffiel.
Im Senzschen Hause herrschte, wie gesagt, eitel Freude, nur Walter nahm an der allgemeinen Fröhlichkeit keinen Anteil – er ging am frühen Morgen in das Kontor seines Bankgeschäftes und hatte sich von aller Welt abgeschlossen – auch seinen Verkehr mit mir hatte er völlig unterbrochen. Er hatte mir einen kurzen Brief geschrieben, der den folgenden Wortlaut enthielt:
»Lieber Freund! Sei mir nicht böse, wenn ich Dich von nun ab meide. Von Deiner Freundschaft erwarte ich, daß Du keine Fragen stellst und nicht versuchst, mich umzustimmen. Besser als irgendein anderer Mensch wirst Du mich begreifen. Brauche ich Dir zu sagen, daß ich selbst darunter leide? Aber ich fühle in mir die Notwendigkeit, in den nächsten Jahren mein Dasein auf Arbeit und Einsamkeit zu stellen. Jedes freundliche Wort, jeder gute, teilnehmende Blick verwunden mich. Lebe wohl, mein lieber Kamerad, denke zuweilen freundlich an Deinen Walter Senz.«
Dieser einfache Brief, der kein Wort zu viel enthielt, war das letzte, persönliche Lebenszeichen, das er mir gab. In meiner Erinnerung lebt dieser reine, untadelige Mensch als ein Wesen besserer Art. Sein Stolz hatte etwas Granitenes und sein Charakter war von einer Schlichtheit und Keuschheit, wie sie nur Ausnahmenaturen eigen ist.