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Einige Tage nach meinem bestandenen Examen, das in unserem Hause mit wahrem Jubel begrüßt wurde, war mein Vater gerade im Begriff, zu seiner gewohnten Schachpartie in den Kaiserhof zu gehen, als es draußen läutete.
In der Wohnung breitete sich die Dämmerung aus, denn der Abend begann heraufzudunkeln.
Die alte Terese meldete einen Herrn.
Mein Vater zog sich seufzend den Überzieher wieder aus, und gleich darauf erschien ein untersetzter, kleiner Mann mit breitem Rücken in seinem Sprechzimmer.
Er stand erst eine Weile stumm da, als erwartete er seitens meines Vaters eine Anrede. Dann sagte er leise – halb knurrend: »Guten Abend, Benjamin!«
Mein Vater stieß einen jähen Schrei der Überraschung aus. Es war Onkel Jakob.
Unmittelbar danach eilten wir Geschwister und die Mutter ins Zimmer.
Herr du meine Güte – wie sah der Mann aus! Zerstörte, trostlose Züge, in die Enttäuschung und Elend ihre tiefen Furchen gezogen hatten. Dabei zeigte Onkel Jakobs zerrissenes Gesicht ein verschmitztes, schüchternes und verschämtes Lächeln, das mich erschütterte. Nie werde ich das Wiedersehen zwischen Onkel Jakob und meinem Vater vergessen.
Mein Vater tat, als ob sie sich erst gestern das letztemal gesehen hätten.
»Heißen Kaffee!« sagte er kurz zu meiner Mutter.
Dann wandte er sich wieder an seinen Bruder: »Jakob, wir wollen eine Partie Schach spielen!«
Der Onkel nickte stumm, und mein Vater stellte die Schachfiguren auf.
Das Abendbrot stand bereits auf dem Tische. Die beiden alten Männer saßen noch bei ihrer Schachpartie und rührten sich nicht vom Flecke.
»Benjamin, die Kartoffeln und Würstchen werden kalt!« rief meine Mutter.
Der Vater gab keine Antwort. Es war, als ob sie ein letztes Mal im königlichen Spiele ihre Kräfte messen wollten.
Oder leitete meinen Vater ein anderer Gedanke? … Hatte er Angst, irgendeine Frage an den Onkel zu stellen? … Hatte er Furcht, seine jammervolle Geschichte zu hören? … Wollte er dem armen, geschundenen Leibe – der gehetzten Seele eine Henkersfrist gewähren, um für ein paar Stunden wenigstens all das Leid zu vergessen … Nachts um elf Uhr erklärten sie die Partie für remis, und der Vater aß mit dem Onkel allein zu Abend. Sie sprachen nur vom Schach, und der Onkel bewies meinem Vater, daß er durch einen falschen Zug sich um den Gewinn gebracht hatte.
Mein Vater lächelte seltsam.
Dann trat er zu meiner Mutter ins Schlafzimmer, fuhr mit der Hand über seine hohe Stirn und sagte mehr für sich: »Was muß der Mensch durchgemacht haben!«
Er setzte sich auf den Sorgenstuhl, der in der Nähe seines Bettes stand, stützte die Ellbogen auf die Knie und barg das Gesicht in den Händen.
»Was hat dieses ganze närrische Dasein für einen Sinn,« meinte er vor sich hin grübelnd. »Erinnerst du dich noch, wie Jakob einem kleinen König gleich in Breslau einfuhr, wie er oben auf der Liebighöhe stand, die Hände in den Taschen – mit Wohlbehagen die Luft einsog, über die Stadt blickte und schmunzelnd zu mir sagte: ›Was meinst du, Benjamin – kostet Breslau?‹ Und als ich ihm lachend ins Auge sah, rief er – auf seine Taschen klopfend: ›Ich hätte nicht übel Lust – Breslau zu kaufen.‹
Und nun schau dir den Mann an in seinem Elend. Und wenn ich mein eigenes Leben übersehe – was ist aus mir geworden – was habe ich erreicht!«
Meine Mutter richtete sich in ihren Kissen auf: »Es ist wahr, Benjamin – Schätze hast du nicht gesammelt. Aber wenn du fragst, was du erreicht hast, will ich dir Antwort stehen: deine Kinder hast du zu braven, guten Menschen erzogen, und wenn du einmal die Augen schließt, was Gott lange noch verhüten möge, so hinterläßt du ihnen eine Erbschaft, die ihnen niemand nehmen kann. Den Keim zum Guten hast du in ihnen gepflanzt – ihre Anlagen und ihre Tüchtigkeit herausgeholt und sie Ehrfurcht vor allem Großen und Schönen gelehrt. Ich denke, Benjamin, das ist schon etwas.«
»Und dann,« fuhr sie fort und blickte ihn dabei voll Liebe und Treue an, »viel Kummer und Sorgen haben wir all die Jahre gemeinsam durchgemacht. Und trotzdem liebe ich das Leben, denn du hast mich glücklich gemacht. Gewiß – man hat zuweilen an diesem Dasein hart zu knabbern gehabt – besonders,« setzte sie lächelnd hinzu, »wenn die Pensionäre mit solchem Heißhunger nach Hause kamen, und die vollen Schüsseln nicht hin und her langen wollten. – Was tat's? – Wenn du mir am Abend aus dem Homer oder Shakespeare oder lieber noch aus dem Fontane vorlast, war alle Sorge vergessen.«
Der Vater setzte sich auf den Rand ihres Bettes und nahm ihre Hand.
»Zuweilen, Alte, erleuchtet dich Gott,« sagte er. »Hast mit deinen Worten mitten ins Schwarze getroffen. Alles Reale ist Einbildung und Phantasie, und die Phantasie allein ist das Reale. Wenn Rothschild sich einbildet, hundert Millionen zu besitzen, so ist er ein Narr, denn die Millionen besitzen ihn. Mehr als sich satt essen und sich satt trinken kann er auch nicht. Im Gegenteil – nicht einmal das vermag er. Denn in der Regel haben die Rothschilds gerade wegen ihrer Millionen die kranken Magen. Demnach sind die Millionen ein leerer, eingebildeter Begriff, und du hast vollkommen recht, für uns andere wird das Dasein Gottes und die Schönheit des Lebens bewiesen durch Homer und Shakespeare und meinethalben auch durch Fontane. Und zuletzt taucht eben in einem die Erkenntnis auf, das scheinbar Überflüssige, das Phantastische ist das Notwendige oder – zum mindesten so notwendig wie das Notwendigste. Die Welt gedacht ohne Duft, Farbe und Phantasie – als ein einziger Kartoffelacker – es wäre, um den Verstand zu verlieren.«
Mein Vater stand auf, um sich langsam zu entkleiden. Als er in seinem Bette lag, nahm er vom Nachttisch den Homer und las meiner Mutter den »Tod des Patroklos« vor. Und als er zur Stelle des siebzehnten Gesanges kam, wo die Pferde des Patroklos über den Tod des Helden weinen, las er ganz langsam und auf das tiefste bewegt – jeden Vers gleichsam schlürfend.
Er klappte das Buch zu.
»Die Pferde des Patroklos weinen – wo,« rief er, »hat jemals ein Dichter für den Schmerz und die Klage einen tieferen Ausdruck gefunden …«
Meine Mutter antwortete nicht.
»Ach, Alte,« sagte er enttäuscht, »über den Tod des Patroklos bist du selig eingeschlummert.«
Und im stillen fügte er hinzu: »So seid ihr Weiber. Es langt nur bis zu einem bestimmten Punkte.«
Er löschte das Licht aus und legte sich auf die Seite, um dem Beispiel meiner Mutter zu folgen.
Aber der Schlaf floh ihn lange. Das Schicksal des Bruders ging ihm nicht aus dem Kopfe.
Am anderen Tage erfuhr er von Onkel Jakob, daß das Schiff, welches jene Ladung schwedischer Streichhölzer geborgen hatte (man erinnere sich, daß der Onkel mit dem Import schwedischer Streichhölzer noch einmal sein Glück in Amerika hatte machen wollen), während der Fahrt leck geworden war. Es kam noch glücklich in Neuyork an; aber die Ladung Streichhölzer, die der Onkel zum Unglück nicht versichert hatte, war feucht geworden und total verdorben. Nun stand der Onkel mit leeren Taschen in heller Verzweiflung da und fand keine Seele, die ihm in seiner Not beigestanden hätte. Vom Unglück verfolgt, mißlang alles, was er begann. Zu welch verzweifelten Mitteln der alte Mann gegriffen hatte, um wieder in die Höhe zu kommen, erzählte er mit beweglicher Miene, in eintöniger Sprache meinem Vater. Schließlich war er als Zwischendeckpassagier in die Heimat zurückgekehrt.
»Ich hatte gedacht,« schloß der Onkel, »euch mit Zinsen und Zinseszinsen die hundertfünfzig Taler zurückzuerstatten – und nun stehe ich vor dir, Benjamin, ärmer als eine Kirchenmaus. Vor Isaak lasse ich mich überhaupt nicht blicken. Denn was wird er zu meinem Troste vorbringen. Ich weiß sein Sprüchel auswendig. – So und nicht anders lautet es: Hab' ich nicht immer zu dir gesagt, du bist ein Schubiak und mußt so enden! – Du lachst, Benjamin, und gibst zu, daß es stimmt. Wozu also soll ich mich mit meinen weißen Haaren von Isaak wie ein Schuljunge abkanzeln lassen … Laß uns noch eine Partie Schach spielen, Benjamin. Ich wette hundert gegen eins – ich schlage dich heute …«
Nichts bezeichnender für meinen Onkel Jakob, als daß er in dem Augenblick noch, wenn auch nur im Scherze, von einer Wette sprach, in dem er eingestandenermaßen keinen roten Dreier mehr im Beutel hatte.