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15

Mein Vater erwartete mich, hatte seinen Mantel angezogen, den Hut aufgesetzt und trug unter dem linken Arm die kleine Elektrisiermaschine, während seine Rechte den Stock mit der elfenbeinernen Krücke hielt.

»Komm, folge mir,« sagte er kurz.

Es war kein langer Weg, den wir zurücklegten. Nicht einmal das Haus verließen wir. Denn mein Vater war zum Restaurateur Lemke gerufen worden, dessen Wirtschaft im Erdgeschoß lag.

Frau Lemke war im ganzen Haus berühmt. Sie stand – man kann sagen von früh bis abends – an dem Kochherd und bereitete in einer mächtigen Bratpfanne die leckersten Dinge. Solche knusperigen Bratkartoffeln gab es auf der ganzen Welt nicht mehr – ganz zu schweigen von den deutschen Beefsteaks und den Käseklößen. Der Duft dieser herrlichen Speisen breitete sich über den Hof aus und stieg uns Kindern in die Nasen. Und zuweilen geschah es, daß Frau Lemke, die eine große, hagere Frau mit hervortretenden Backenknochen war, uns in die Küche winkte und regalierte.

Nun lag Restaurateur Lemke auf dem Totenbett. Der Schlag hatte ihn getroffen und jäh dahingerafft. Frau Lemke stand mit tränenlosen, starren Augen an seinem Lager.

»Herr Doktor, es kann nicht sein,« sagte sie. »Mein Mann kann nicht tot sein.«

Mein Vater beugte sich über das Bett und legte, um die Frau zu beruhigen, sein Ohr an das Herz des Toten. Als er wieder aufblickte, las die Frau in seinen Augen ihr Schicksal.

»Nein, nein, Herr Doktor, Sie irren sich, er ist nur scheintot.«

Mein Vater tat ein übriges. Er setzte die kleine Elektrisiermaschine in Bewegung, die ich ihm halten mußte.

Restaurateur Lemke lag unbeweglich da.

Mich überlief es heiß und kalt. Zum ersten Male sah ich einen Toten.

»Setz' die Maschine nieder,« befahl mein Vater.

Ich gehorchte zitternd seinem Worte und stellte sie auf das alte, kleine Spinett aus gelbem Kirschbaumholz.

Die Frau packte verzweiflungsvoll meinen Vater an der Schulter.

»Ich lasse ihn nicht unter die Erde, Herr Doktor!« schrie sie in ihrem Jammer. – »Sehen Sie mich nicht so starr an, ich weiß, mein Mann lebt.«

»Bringen Sie mal ein Licht, Frau Lemke.«

Die Frau tat, wie ihr geheißen.

Mein Vater nahm aus seiner Tasche eine Stange roten Siegellack, hielt sie über die Flamme und ließ dann die glühend heißen Tropfen auf die rechte Brustwarze des Toten fallen.

Als auch jetzt Restaurateur Lemke regungslos verharrte, löste sich der dumpfe Schmerz der Frau in einem erschütternden Weinen. Nun gab es für sie keinen Zweifel mehr. Das letzte Experiment hatte sie überzeugt.

Mein Vater winkte mir stumm.

Lautlos verließen wir den Keller.

Draußen sagte er zu mir: »Wir werden geboren, um zu sterben, und es kommt nur darauf an, daß der Mensch sich auf einen anständigen Tod vorbereitet.«

In der Nacht tat ich kein Auge zu.

Am andern Morgen kam aus Grieneisens Beerdigungsinstitut der gelbe Sarg. Fabrikant Grieneisen wohnte in der Schützenstraße und lieferte für die ganze Umgegend die Särge. Wenn ich in der Folgezeit seinem Laden mich näherte, der nur ein paar Minuten von unserem Hause entfernt lag, wandte ich mit einer jähen Bewegung den Kopf zur Seite. Um keinen Preis wollte ich das Schild lesen, durch das er seine Dienste anpries. Der Mann mit dem fürchterlichen Namen Grieneisen blieb für mich seitdem die Verkörperung des Todes. Hart wie Eisen war der Tod und griente über die Lebenden …


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