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Ich hatte in der Folgezeit mit meinen Jungen manchen harten Strauß zu bestehen. Sie bäumten sich gegen mich auf wie junge Vollbluthengste; oft mußte ich gegen sie hart und grausam sein, um ihnen den Herrn und Meister zu zeigen. Der Älteste war ein undurchsichtiges Kind, das mir mit herbem Mißtrauen entgegentrat – viel später erkannte ich erst, daß er aus einem guten Grunde einen leidenschaftlichen Zorn gegen mich nährte. Während die beiden Jüngeren allmählich gut Freund mit mir wurden und mit jener knabenhaften Zärtlichkeit, die so bestrickend ist, an mir hingen, nahm Knut eine finstere Miene an und trotzte auf eine hinterhältige Art, der schwer beizukommen war. Stirn an Stirn standen wir uns gegenüber. Dieser kleine Bursche hatte eine besondere Methode, mich bis aufs Blut zu reizen. Wenn ich ihn ausschalt, verschränkte er die Arme, sah mich mit einem bösen Lächeln an und schwieg beharrlich auf alle meine Fragen.
Es war ein seltsames Haus. Herr Holmsen war stets auf Reisen, und Madame lag matt und träge den ganzen Nachmittag auf dem Sofa und las französische Romane. Am Abend machte sie grande toilette für Herrn Nielsson, den Kompagnon ihres Gatten.
Holmsen und Nielsson hatten ein bedeutendes Exportgeschäft, und Holmsen und Nielsson waren immer schlecht bei Kasse. Woran das lag – wer will es sagen!
Frau Holmsen ließ in Paris arbeiten, ihre Roben und Hüte waren die reinen Gedichte, wie der elegante Herr Nielsson zu bemerken pflegte.
Wenn der Erste eines jeden Monats nahte, geriet ich in gelinde Ängste. Die Frage war: würde ich mein Gehalt bekommen oder nicht? Herr und Frau Holmsen hatten in puncto Zahlen ein verdammt schlechtes Gedächtnis, und ich armer Teufel war auf die paar Kröten angewiesen.
Seit dieser Zeit datiert mein Haß gegen Gevatter Schuster und Schneider. Die sandten Herrn Holmsen ein-, zwei- bis dreimal ihre Rechnung und drohten mit dem Gericht, bis sie zu guter Letzt zu ihrem Gelde kamen. Ein Hauslehrer darf nicht mucksen und liefe übel an, wollte er den Mahner machen.
Aber das Hirn wird, wenn Gott es segnet, erfinderisch. In meiner ärgsten Not kam ich auf folgenden Ausweg.
Eines Tages kommandierte ich: Hefte vorgeholt, wir schreiben Diktat. Also aufgepaßt: »In jedem wirtschaftlichen Betriebe ist genau wie im Staats- und Familienhaushalte der Erste der wichtigste Tag im Monat. Denn am Ersten eines jeden Monats werden die Löhne, Gehälter, Gagen oder wie man es sonst nennen will, ausgezahlt. An jeden Familienvater tritt die gleiche Notwendigkeit heran. Da sind die Leute im Kontor, die Dienstboten – und nicht zu vergessen der Hauslehrer. Alle Menschen warten sehnsüchtig auf den Gehaltstag. Auch euer Vater muß am Ersten tief in seinen Säckel greifen. – Kinder vermögen sich nicht vorzustellen, in welche Nöte ein Mensch gerät, der am Ersten nicht sein Monatsgehalt empfängt.« Nach dieser Einleitung spickte ich die weiteren Sätze des Diktats mit möglichst schwierigen, den Kindern fremden Ausdrücken, als da sind Nationalökonomie, wirtschaftliche Komplikationen und so weiter. Die Jungen gerieten in Verzweiflung – ich blieb hart wie Stein. Die Korrektur ergab, daß Knut elf, Tuften siebzehn und mein kleiner Freund Arne neunundzwanzig Fehler sich geleistet hatten.
Ich zog die Stirn in bedenklich viel Falten. »Hm,« machte ich, »das Diktat ist böse ausgefallen, viel schlimmer als ich annehmen konnte. Ihr werdet alle drei von Papa oder von der Mama die Arbeit unterschreiben lassen – und zwar noch heute abend.«
In der nächsten Unterrichtsstunde legten mir die Jungen prompt ihre Diktate vor. Frau Holmsen hatte unter Knuts Arbeit geschrieben: »Mit Verstimmung gelesen.« Unter Tuftens Arbeit stand: »Ein Witz wird schal, sobald er wiederholt wird.« Unter Arnes neunundzwanzig Fehlern war als Randbemerkung hinzugesetzt: »Für das nächste Mal schlage ich als Thema vor: ›Das Fell des Elefanten‹.«
Ich lachte bitter auf. Frau Holmsen konnte leicht Spott üben und die Beleidigte spielen. Daß ich zu diesem Verzweiflungsmittel erst gegriffen hatte, als der Dreizehnte vor der Tür stand – dafür hatte die edle Seele kein Verständnis.
Ich schloß aus diesem Vorfall: Hüte dich vor reichen Leuten. Selbst wenn du dein Recht forderst, bist du ihnen gegenüber im Unrecht, denn ihre Bosheit hat kein Maß.
Trotz solcher dummen Zwischenfälle, die wohl angetan waren, einem die gute Laune zu trüben, ging ich voll leidenschaftlicher Freude jeden Tag, den Gott werden ließ, in das Holmsensche Haus. Ich liebte das Fräulein Ulrike von Horst mit der ganzen Kraft meines jungen Herzens. Ein Aufleuchten ihres Auges, ein schelmischer Blick, ein herzhaftes Lachen von ihr konnten mich entzücken. Nie werde ich unsere Spaziergänge durch die sommerliche Pracht des Tiergartens vergessen, wir tollten mit den Kindern und waren ausgelassen und fröhlich wie sie. Erdfrisch und gesund war Ulrike von Horst, und die Unmittelbarkeit ihrer Natur, ihre blutvolle Energie, mit der sie kühn das Leben anpackte, teilten sich mir grüblerischem Menschen mit. Dabei war ihr Wesen mädchenhaft und zart und von einer lutherischen Frömmigkeit durchdrungen, die ihr tapferes Gesicht in Stunden der Andacht wunderbar verklärte. Ich habe sie an einem Sonntagmorgen in die Kirche begleitet und neben ihr gesessen. Da fühlte ich, wie ihre Seele, abgezogen von allem Irdischen, nur ihrem Gott gehörte. Es kam niemals zwischen uns zu ausgesprochenen Zärtlichkeiten, kaum, daß sie mir beim Kommen oder Gehen leise die Hand drückte. Seit jenem ersten Tage, an dem ich sie im Spiel erhaschte, mied sie jede nähere Berührung mit mir. Und trotzdem ich meine Seele dem Teufel verschrieben hätte, wenn ich sie hätte an mich ziehen dürfen, zügelte ich mein leidenschaftliches Verlangen. Sie war die Stärkere von uns beiden. Ihre adlige Reinheit, ein großer Blick aus ihren klaren, ernsten Augen lenkten mich bedingungslos. Ich spürte wohl auch, ich würde sie in dem Augenblick verlieren, in dem ich ihr Gefühl beleidigte. Denn weder Koketterie noch Zimperlichkeit hielten sie von mir fern.
»Wir wollen Kameraden sein,« sagte sie mit jener Bestimmtheit, hinter der ein eiserner Wille, das fühlte ich wohl, sich barg.
Knut Holmsen haßte mich. Der kleine Bursche, das war des Rätsels Lösung, war auf mich eifersüchtig. Wie eine Bombe platzte er während eines Spazierganges mit dem Geständnis heraus. »Wenn Sie das Fräulein nicht in Frieden lassen, steche ich Sie tot.«
Sein Gesicht war bei diesen Worten feuerrot, und aus seinen hellblauen Augen brannte leidenschaftlicher Haß.
»Junge, Junge,« sagte ich bestürzt und fühlte ein tiefes Erbarmen mit seinem gequälten Herzen. Und dann fügte ich hinzu, indem ich ihn für einen vollwertigen Nebenbuhler nahm und ihm gerade dadurch absolutes Vertrauen einflößte, »merkst du denn nicht, Knut, daß wir beide Leidensgenossen sind – mir geht es genau so schlecht wie dir?«
Der Ton meiner Stimme traf ihn mitten ins Herz – er kehrte sich stumm ab; ich sollte seine aufsteigenden Tränen nicht bemerken.
Von dem Tage an gab er seinen Widerstand gegen mich auf, und wir beide hatten ein gemeinsames Geheimnis: unsere Liebe zu Ulrike von Horst.
Die Sommertage gingen dahin, wir kamen in einen klaren, wundervollen Herbst, dessen bunte, leuchtende Farben die Schwermut unserer Herzen steigerte. Gegen Abend stiegen die Dämpfe aus dem Tiergarten, und die Nebel hüllten wie mit silbergrauen Decken Bäume und Sträucher ein.
Wir schritten auf einsamen Wegen und lernten das Schweigen. Einmal sagte sie ganz unvermittelt zu mir, und ein gequältes Lächeln beherrschte ihr Gesicht: »Nehmen Sie sich in acht, Sie werden sich noch in mich verlieben.«
»Das Warnsignal kommt zu spät, der Zug ist bereits aus dem Geleise,« gab ich zur Antwort – und versuchte einen scherzhaften Ton anzuschlagen.
»Und für Sie, Fräulein von Horst, ist natürlich keine Gefahr?«
»Der Herr Dichter haben es getroffen,« erwiderte sie und lachte, schriller, als es ihre Art war, auf.
Als sie mir an diesem Abend die Hand zum Abschied reichte, nahm ich wahr, daß es sie fröstelte.
»Ist Ihnen nicht wohl, gnädiges Fräulein?«
»O doch … doch, mein Freund.«
Ich sah in ihre schimmernden Augen, und dieses »o doch, mein Freund« erfüllte mich mit einem unsagbaren Gefühl der Rührung und Freude.
Nur einmal als Kind hatte ich eine Stimme gehört, deren tiefer, sonorer Klang der ihrigen ähnlich gewesen war. Diese Stimme hatte einer einzigen Sängerin gehört, der berühmten Altistin Hermine Spieß, die so früh aus dem Leben scheiden mußte. Ich konnte in der Nacht keinen Schlaf finden, ihr Bild verließ mich nicht. Hand in Hand gingen wir Kindern gleich über die Wiese und bauten das herrlichste Schloß in die Luft – und ihre tiefe Stimme hob sich vom Gesange der Lerche ab, die hoch über unseren Häuptern ihr sehnsüchtiges Lied erschallen ließ.
Ach, wie rasch zerfallen die verwegenen Träume unserer Jugend – und was uns bleibt, ist eine armselige Erinnerung an die Zeit, in der unsere Seelen, vollgesogen mit Schönheit, Anmut und Zartheit, den höchsten Flug erstrebten.
Schon der folgende Tag sollte tiefes Leid über mich bringen. Ulrike von Horst erschien nicht zu unserem gewohnten Spaziergang, und auch am folgenden Tage blieb sie aus. Die erste Besorgnis, sie sei ernstlich erkrankt und müsse das Bett hüten, hatte sich als irrig herausgestellt. Knut, der wie ein verheulter Hund auf der Lauer lag, hatte sie am zweiten Tage mit dem Oberstleutnant ausreiten sehen. Der Respekt vor der Uniform des Oberst hatte ihn nur ein leises »Pst« riskieren lassen. Trotzdem war sein Laut den feinen Ohren Ulrikes nicht entgangen. Sie hatte sich sofort umgedreht und ihm flüchtig zugenickt. Anders, ganz anders als sonst, hatte der Junge mit bekümmerter Miene berichtet und hinzugefügt: »Ganz blaß hat sie ausgesehen in ihrem schwarzen Reitkleid mit dem steifen Hütchen auf dem Kopf.«
Was war geschehen? fragten wir uns ängstlich, als sie uns auch am dritten Tag im Stich ließ. Nicht einmal einen armseligen Gruß hoch vom Rosse herab hatte Knut erhaschen können.
Wir beschlossen einen gemeinsamen Brief, der also lautete:
»Liebes, liebes Fräulein, was haben wir Ihnen getan? Wir sind furchtbar traurig, viel trauriger, als Sie sich vorstellen können, weil Sie es über das Herz bringen, uns allein spazieren gehen zu lassen. Es macht uns ohne Sie keinen Spaß; wir frieren, wenn Sie nicht dabei sind. Bitte, bitte, bitte, lassen Sie uns morgen nicht umsonst warten. Vier arme Seelen, die Sie lieb haben.«
Am anderen Tage kam Ulrike von Horst, ein wenig gedrückt, wie es mir schien, jedoch herzensgütig wie je zuvor. Ich stellte keine Frage, und weder ich noch die Jungen machten ihr den leisesten Vorwurf. Wir waren ja so namenlos glücklich, daß sie wieder bei uns war.
»Mama fand diese Spaziergänge unschicklich,« sagte sie plötzlich – »und den Papa hat sie aufgeputscht. Ich habe ihr ein paar Tage den Willen getan, aber ich wäre auch ohne Ihren Brief gekommen. Ich hätte es nicht länger ausgehalten, es war ja wie in einem Gefängnis.«
»Und was fand Ihre Frau Mutter an unserem Beisammensein so unpassend?«
»Mama meint, ein altes Mädchen wie ich und ein Kandidat der Philosophie dürften nicht wie Kinder durch den Tiergarten tollen. Mamas Schwester, Frau von Witzleben, hat uns beim Jagen erwischt. Ach Gott, lassen wir das dumme Zeug – Mama wird so leicht hitzig, und der Papa hat um des lieben Friedens willen sich auf ihre Seite geschlagen, obwohl – nein, ich will nicht mehr davon reden – basta – punktum – Streusand drauf!«
»Der Oberstleutnant muß also im Hause auch ein klein wenig beigeben,« warf ich etwas spöttisch ein.
Mein Ton mißfiel ihr.
»Der Oberstleutnant«, erwiderte sie ernst, »gibt bei, ohne sich das mindeste zu vergeben. Übrigens, Sie dürfen es getrost wissen, Papa hat sich zuletzt zu mir bekannt. Ich könnte tun und lassen, was ich wollte, hat er gesagt – er wüßte, ich würde niemals sein Vertrauen täuschen.«
»Was versteht der Flügeladjutant unter einem Vertrauensbruch?«
»Das, was jeder rechtliche Mensch darunter versteht.«
»Die Anschauungen darüber könnten sehr auseinandergehen, der point d'honneur eines Leutnants ist unter Umständen ein ganz anderer, als der eines Professors. Der Leutnant sagt, ich stelle dich vor die Mündung meiner Pistole – und der Professor zuckt in dem gleichen Falle die Achseln mit der Begründung, mein Leben gehört wissenschaftlicher Arbeit, nicht törichter Spielerei.«
»Ich weiß zwar nicht, was dieses Beispiel im Falle meines Vaters soll – aber davon ganz abgesehen, so wie Sie glauben, liegen die Dinge nicht. Es gibt bekanntlich einen Ehrenrat. der die Vorgänge, die zu einem Duelle führen, ernsthaft untersucht und –«
»Das Duell fordert,« ergänzte ich. »Ach, Fräulein von Horst, über Klassenmoral werden wir uns nie einigen. Wir wollen auch nicht darüber streiten. Ich fühle, wie mir das Blut zu Kopf steigt. Ich weiß, daß bei Ihnen ein Leutnant hoch im Kurse steht, und ein Dichter ein armseliger Tropf ist, der eigentlich immer um Entschuldigung bitten müßte, daß er überhaupt geboren ist. Es ist nicht lächerlich – im Gegenteil, es ist unsagbar traurig. Ein Leutnant zieht einen bunten Rock an, schnallt sich, wenn er Kavallerist ist, die Sporen an die Stiefel und geht in diesem Maskenaufzug durchs Leben. ›Mit klingendem Spiel‹, so heißt es doch in Ihrer Sprache. Dabei ist er ein großer Herr, wird Major, Oberst, General, was weiß ich. Und wenn sie ihn dann einscharren, welche Spur bleibt von seinem leeren Dasein? Und ein Dichter wird ausgelacht, verhöhnt, vom letzten Zeitungsschreiber noch besudelt, kämpft um seinen Bissen Brot – und dennoch – gepufft, gestoßen, mißhandelt wird er mit niemandem sein elendes Hungerdasein vertauschen. Denn, liebes Fräulein, der Dichter erlebt Stunden der Weihe, die kein Kirchgang schafft, der Dichter erlebt unter süßen Schauern Gott, wie ihn kein Priester – er müßte denn ein Dichter sein – erlebt. Und seine Worte klingen und singen in den Herzen. Und wenn man von dem bißchen Tand und Flitter absieht, ist letzten Grundes der Dichter der General und der General nur ein armer Soldat auf dem Schlachtfeld des Lebens.«
»Aber jeder Soldat«, entgegnete sie mit freudigem Ernst, »kann ein Dichter sein, und ohne die Armee der Soldaten würden die Worte der Dichter nicht in den Herzen widerklingen.«
»Nein, Fräulein, ohne die Armee gäbe es keinen Generalfeldmarschall, keinen Flügeladjutanten des Kaisers – und, was das Schlimmste von allem wäre, kein Fräulein Ulrike von Horst. Gott behüte uns davor.«
»Und daß wir unseren Halt verlieren und in Selbstliebe untertauchen,« setzte sie hinzu.
»Aber in Liebe zu einem anderen Wesen aufgehen, das ist Gottes Wille und Gebot, wenn wir schon bei dem Begriffe Gott bleiben, nicht wahr, Fräulein von Horst?«
Sie schwieg, und ein vergrübelter Zug beschattete ihr offenes, freies Gesicht.
»Wir wollen nach Hause,« sagte sie nach einer langen Weile. »Es dunkelt, und die Jungen frieren. Kommt, Jungens,« rief sie mit hellem Ton, »wir laufen uns warm. Wer zuerst am Schneckenberg ist, hat gewonnen.«
Und ohne eine Antwort abzuwarten, war sie davongestürmt. Sie lief nicht, sie tanzte über die Erde, der Hut war ihr in den Nacken gefallen, und der Wind zauste ihr Haar.