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Ich fahre durch das Ries, das einst in vorgeschichtlicher Zeit ein See gewesen sein soll; man will einmal am Hang eine Seejungfrau gesehen haben, einsam unter dem lichten Himmel sich sonnend, wie sie es vor Tausenden von Jahren getan haben mochte. Wenn der Sommerwind über die grüne Ebene streicht und die Halme biegt, daß eine silberne Welle darüber hinläuft, könnte man sie auch heute für eine Wasserfläche ansehen und den Turm, der sich tannenschlank und gerade daraus erhebt, für den Mast eines versteinerten Schiffes oder für eine vereinzelte Basaltsäule. Entdecken wir näherkommend, daß sie in Stockwerke geteilt, aus dem Viereck ins Achteck umgestellt und endlich mit einer grünen Kappe und Laterne vollendet ist, so erkennen wir edles Menschenwerk: es ist der Daniel, der Turm der Georgskirche von Nördlingen, König im Ries.
Im späteren Mittelalter gab es im Ries sechzehn Landes- und Grundherren: Kurbayern, Pfalz-Neuburg, Brandenburg-Ansbach, die Grafen von Oettingen-Spielberg und die von Oettingen-Wallerstein, die Abtei Deggingen, die Propstei Ellwangen, der Deutsche Orden, der Johanniter-Orden, verschiedene Klöster und Stifter und die Reichsstadt Nördlingen. Der Stadt voll arbeitssamer, reicher, waffengeübter Bürger wurde viel nachgestellt, und sie hat sich ihre Freiheit Blut und Schweiß kosten lassen, am meisten, als sie sie gegen den Kaiser selbst, der ihr Quell war, verteidigen mußte.
Ich denke etwa dreihundert Jahre zurück und lasse die Nacht sinken auf einen Sommertag wie heute. Jene Anhöhe, der Breitwang, ist ein einziges großes Lager schwedischer und deutscher Soldaten; vor seinem Zelt steht Herzog Bernhard von Weimar und sieht nach dem Daniel hinüber, einem festen dunklen Schatten in ruheloser Nacht. Sorgenvoll bedenkt er die nächsten Kriegsereignisse: ist es geraten, sich hier auf eine Schlacht einzulassen, angesichts eines Feindes, der an Zahl und durch seine Stellung weit überlegen ist? Wagnis lockt; aber wagen, was nicht gelingen kann, ist das eines Feldherren und Staatsmannes würdig? Soll er es darauf ankommen lassen, daß Gustav Adolfs siegreiches Heer seine Reputation einbüßt, ohne daß Nördlingen gerettet wird? Er sieht es klar, daß er sich entschließen muß aufzubrechen, um an einem besseren Ort Schwaben zu decken. Ja, hätte Horn ihm nachgegeben und sofort angegriffen, ehe die Spanier zu den Kaiserlichen stießen, dann hätte er das Spiel gewinnen können; aber Horns Wille war immer des seinigen Gegensatz. Nun muß er schmählich abziehen, seine Ohnmacht eingestehen, um nur die Hauptsache zu erreichen und Schwaben zu decken. Da geschah in der nächtlichen Tiefe, die ihn umgab, etwas, das ihn aufschreckte: ein trübe glühendes Aufflammen, die Pechpfanne am Daniel, das Zeichen, durch welches die Stadt in äußerster Not seine Hilfe anrufen wollte. Beide Hände schlug er unwillkürlich vors Gesicht, um den Feuerschein nicht zu sehen; als er sie wieder sinken ließ, flog es langsam wie lodernde Zungen abwärts vom Turm: sie warfen Pechkränze, damit ja das Winken der Verzweiflung nicht übersehen werde. Er ging ins Zelt, warf sich auf sein Lager und grub sein Gesicht in die Kissen. Nein, er konnte, er konnte der Stadt das Wort nicht brechen, das er gegeben hatte, sie zu entsetzen. Seine Ehre war verpfändet, er mußte sie einlösen, mochte das Heer und sein Leben und alles darüber zugrunde gehen. Auch als Bettler konnte er noch Kavalier sein; einen Flecken auf der Ehre wusch ihm kein Glück ab. Er dachte des armen Mannes, der viermal, einem schmählichen Tode trotzend, aus der umzingelten Stadt zu ihm ins Lager geschlichen war, um ihm die Not der Bürger zu schildern, und wie er wieder und wieder versprochen hatte, sie zu entsetzen. So mußte er die Schlacht wagen, hoffend auf den Gott, der Wunder tun kann.
Auch die Stadt hatte gezaudert, eine kleine schwedische Besatzung unter dem Befehl des Eberhard Daubitz, eines Pfälzers, einzunehmen; denn ungern löste man die Beziehung zu dem kaiserlichen Herrn, auf der das Glück reichsstädtischer Unabhängigkeit begründet war. Es war die Zeit, wo der Glaube, eigentlich der germanische Gedanke, die deutschen Reichsglieder von den Kaisern losriß, in denen nur der römische Gedanke des Weltreichs noch lebendig war, nicht mehr der der deutschen Nation. Eberhard Daubitz war ein beherzter Mann, dessen Nähe den Bürgern, wenn sie verzagten, Mut und Vertrauen einflößte, und unter dessen Leitung sie einen siebenmaligen Ansturm des mächtigen Feindes siebenmal abschlugen. Als sie eine Verbindung mit dem Herzog von Weimar herzustellen wünschten, um ihn an sein Versprechen zu mahnen, meldete sich ein Mann aus dem Dorfe Goldburghausen, Adam Jäckle, genannt Weckerle und sagte, Kinder habe er nicht und sein Weib sei alt, er wolle sein Leben um das Heil der Stadt wagen. Nachts um 4 Uhr wurde er beim Baldinger Tor an einem Seil in den Graben hinabgelassen, wußte sich schlau und keck durch die kaiserlichen Wachen durchzuschleichen und gelangte bis zum Herzog. Abends um 10 Uhr kehrte er mit einer vertröstenden Antwort in die harrende Stadt zurück. Das traurige Kennwort an der Mauer war: mich hungert. Einige Tage später, als die Bedrängnis wuchs, schickte man Adam Jäckle wieder aus mit flehender Bitte um Hilfe; da der Herzog in seiner Verlegenheit ihn vier Tage zurückhielt, glaubte man in Nördlingen den Braven verloren und sandte einen andern, der sich dazu bereit erklärte, einen armen Mann, der krumme Schneider genannt; den sah man am andern Morgen vor der Mauer gehängt mit ausgeschnittener Zunge: er hatte nicht die Geistesgegenwart und das Glück des andern gehabt. In der Nacht des 23. August kam der Totgeglaubte wieder und brachte die Botschaft, daß der Herzog binnen zwei Tagen Entsatz schaffen werde. Zum Zeichen, daß Weckerle angelangt sei, hängte man der Verabredung gemäß eine Pechpfanne zum Daniel hinaus, worauf zwei Kanonenschüsse aus dem schwedischen Lager antworteten. Käme die Stadt in äußerste Not, so war ferner verabredet, sollte sie Feuerzeichen vom Turme geben. Die Not kam am folgenden Tage, einem Sonntage, als das spanische Heer unter dem Kardinal-Infanten zur Verstärkung der kaiserlichen Armee eintraf. Zu Ehren des fürstlichen Helfers wurde, nachdem die habsburgischen Vettern sich begrüßt hatten, nicht nur große Parade abgehalten, sondern auch vom frühen Morgen bis zum Mittag die Stadt beschossen. In der Nacht ließ Daubitz vom Turme höchste Not melden; sieben Kanonenschüsse vom Breitwang her gaben Antwort. Es folgte ein Tag heldenhafter und siegreicher Verteidigung, und wieder züngelte das Signal der äußersten Not durch die Nacht. Am Vormittage des 26. August ließ König Ferdinand der Stadt nochmals Pardon anbieten; aber schon hatte sich das schwedische Heer in Bewegung gesetzt und dadurch jede Verhandlung abgeschnitten. Trotz der bedeutenden Übermacht der Kaiserlichen machten die Gegner ihnen so zu schaffen, daß am zweiten Schlachttage die beiden Habsburger den Oberbefehl an Gallas abtraten, der einen entscheidenden Sieg davontrug.
Die Schlacht bei Nördlingen bedeutete einen Wendepunkt im Kriege, wie vorher die Schlacht bei Leipzig im anderen Sinne. Die Verluste der schwedischen Armee waren furchtbar, Horn gefangen, Herzog Bernhard verschwunden. Er wurde für tot gehalten, weil sein Schlachtpferd gefallen war, aber er entkam mit einer leichten Wunde, der Überlieferung nach durch einen Dragoner aus dem Regiment Taupadel gerettet. Sein gesamtes Gepäck im Schlosse von Neeresheim fiel dem Führer der gefürchteten Kroaten, Isolani, der es erstürmte, in die Hände. Es war nicht nur die Kriegskasse, sondern des Herzogs Gold, Silber und Juwelen, zwölf reichgestickte Gewänder, kostbare Sättel, ein mit Diamanten besetztes Degengefäß, eine schwere goldene Kette mit Schmelzwerk, eine goldene Agraffe mit einem großen Diamanten, eine massive goldene Hand mit Smaragden, Diamanten und Rubinen besetzt. Das wertvollste Stück waren zwei große Diamanten in einem goldenen Kästchen mit den Porträts des Königs und der Königin von Schweden, einem Geschenk der letzteren im Werte von 60 000 Talern; dies rettete die tapfere Frau des Kommandanten von der Greene, der hatte kapitulieren müssen, und gab es dem Herzog später in Frankfurt wieder. Er hat die unheilvolle Niederlage nur um fünf Jahre überlebt.
Niemand ahnte in Nördlingen das Unglück, so groß war das Vertrauen in das bisher nie besiegte schwedische Heer und seine Führer. Von Hoffnung beschwingt, wagten die Bürger noch einen Ausfall und erbeuteten Lebensmittel; sie fühlten sich schon befreit. Um so erschreckender wirkte die Nachricht von der Niederlage; aber die Freude des jungen Siegers bewahrte die Reichsstadt vor dem Untergange. »Der Kaiser, mein Herr, hat mich nicht gesandt, seine Städte zu zerstören, sondern sie zu ihrer Schuldigkeit zurückzuführen«, so soll der König von Ungarn zu den Ratsdeputierten und dem Kommandanten gesagt haben, die in sein Hauptquartier kamen, um Gnade zu erbitten. Sogar im Genuß des Religionsfriedens sollte Nördlingen bleiben; Ferdinand wollte, als er im silbernen Kleide seinen Einzug hielt, kein Jammergeschrei, sondern dankbaren Zuruf hören. Alle Glocken läuteten und scheinbar herrschte Festfreude; aber es war nicht so wie einst, als Kaiser Friedrich III. unter dem vom berühmten Stadtmaler Friedrich Herlin bemalten Baldachin seinen Einzug hielt, oder als Kaiser Maximilian vor der Trinkstube die freudig geleistete Huldigung empfing. Das war um 1634 schon gute alte Zeit.
Ein besonderer Freudentag war der Palmsonntag des Jahres 1474 gewesen, als Friedrich III. mit seinem Sohne, dem blonden Maximilian, zusammen einzog. Obwohl es zwischen 8 und 9 Uhr abends war, begab man sich zuerst in die Hauptkirche, um ein Tedeum zu hören. Die dunkle Stadt war mit Fackeln und Lichtern erhellt, auf vielen Plätzen brannten Feuerpfannen. Den mit Adler und Sternen bemalten blauen Himmel, der von vier vornehmen Bürgern über dem Kaiser schwebend getragen wurde, verlangte hernach, sowie das Bett, in dem der Kaiser geschlafen hatte, Philipp, Herr zu Weinsperg, als des Reiches Erbkämmerer für sich; die Stadt überließ ihm den Baldachin und kaufte ihm das Bett ab. Der Kaiser wohnte damals bei dem Patrizier Melchior Müller, Maximilian gegenüber bei Wilhelm Protzer in der jetzigen Polizeistraße. Im Jahre 1634 stieg Ferdinand in der Höllwirtschaft im Höllengäßchen, der jetzigen Pfarrgasse, ab.
Nördlingens große Zeit begann unter Kaiser Friedrich II., der die Stadt durch Tausch mit dem Bischof von Regensburg für das Reich gewann. Sie lag damals auf dem Totenberge, wo jetzt der Friedhof ist, vor dem Bergertor und blickte auf einige Jahrhunderte bescheidenen Lebens zurück, als im Jahre 1238 eine große Feuersbrunst sie verheerte und den Gedanken anregte, da doch einmal wieder aufgebaut werden mußte, es in der Ebene zu tun, vielleicht in der Meinung, dort besser vor dem Winde geschützt zu sein. Es scheint, daß der Wind, der mit ungehemmter Schwinge über das Ries bläst, in Nördlingen besonders gefürchtet wurde; denn unter den Angestellten der Stadt war ein Windreiter, der bei starkem Windgange, vor fallenden Ziegeln durch eine Sturmhaube geschützt, durch die Straßen reiten und etwa ausbrechendes Feuer ansagen mußte. Der letzte städtische Windreiter hieß Alexander Lunte und starb im Jahre 1866. Am Johannistage des Jahres 1517 erhob sich des Abends zwischen 7 und 8 Uhr eine Windsbraut, die nicht nur Bäume ausriß, sondern auch die Emmeranskirche umwarf, die als Zeuge der verlassenen Stadt noch auf dem Berge stand und als Grabkirche dient. Was noch von ihr übrig war, rissen die Nördlinger im Jahre 1634 ein, damit es nicht vom Feinde als Stützpunkt benutzt werden könne.
Etwa hundert Jahre nachdem Nördlingen in der Ebene neu angelegt worden war, ordnete Ludwig der Bayer eine Erweiterung der Stadt an, wozu er eine Abgabe gestattete, die acht Jahre lang erhoben werden durfte. Diese Befestigung, an der bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts gebaut wurde, hat sich in der Hauptsache bis heute erhalten und bildet mit der Georgskirche und dem Rathaus den Stolz Nördlingens. Das Mittelalter liebte die geschlossene Form, die dem Auge so wohltut, wie alte Musik dem Ohr; der gemauerte Gürtel ist ein Rahmen, der die Stadt, indem er sie vom Lande trennt, zusammenfaßt und zum Bilde macht. Schöpfer des Werks war vornehmlich Wolfgang Waldberger. Er entstammte einer Baumeisterfamilie, die seit 1432 in Nördlingen genannt wird, und arbeitete teilweise mit seinem Vater zusammen an der Befestigung. Zuerst war er Barlier und wurde dann Werkmeister; so hing das Handwerk mit der Kunst zusammen. Seine Tätigkeit, die sich über Jahrzehnte erstreckte, hat wesentlich der Stadt Nördlingen ihr eigentümliches Gepräge gegeben; errichtete er doch auch viele andere öffentliche Gebäude, wie das durch Umbau des alten Barfüßerklosters entstandene und deswegen Klösterle genannte Kornhaus, auf dessen gediegen schönem steinernen Portal des Meisters Bildnis angebracht ist. Der Charakter der Befestigung ist derb und kräftig, wenig, aber wirkungsvoll geschmückt; allein der Zweck des Schutzes kommt in massiven, gemütlichen Formen zum Ausdruck.
Vom Bahnhofe kommend, trifft man zuerst den Deininger Torturm, eine stattliche, runde, mit einer Haube gekrönte Säule auf viereckigem Unterbau. In diesem Turm hatte sich bei der Belagerung des Jahres 1634 zum Entsetzen der Bevölkerung der Feind festgesetzt. In der Verzweiflung, da er anders nicht zu vertreiben war, verfiel der Gerber Hans Eiferlin auf den Gedanken, ihn anzuzünden; man sah die von der Flamme gehetzten Soldaten einen Augenblick in die Mauer festgeklammert schweben und dann, halbverbrannt, in den Graben stürzen, wo ausgehungerte Frauen sich über die Leichen warfen, um sie zu verzehren. An der Deininger Mauer stand das durch zwei gekreuzte Schwerter über der Tür bezeichnete Scharfrichterhäuschen. Der letzte Nördlinger Scharfrichter, Georg Andreas Edelhäuser, wurde im Jahre 1809 mit einer Pension abgedankt; sein Richtschwert wird auf dem Rathause aufbewahrt. Am originellen Reisturm vorüber kommt man zum Reimlinger Tor, das durch seinen Vorbau und einen seltsamen, schirmartigen Hut auffällt. Es ist ausgezeichnet durch das herrliche Stadtwappen: auf Goldgrund ein schwarzer Adler mit ausgebreiteten Flügeln, rechtsgewendetem gekrönten Kopf, gelben, raublustig gespreizten Fängen und roter, drohend aus geöffnetem Schnabel ausgereckter Zunge. Eine Tafel erinnert an Wolfgang Waldberger. Vor dem Reimlinger Tore lag die Richtstätte, jetzt versöhnlich Marienhöhe genannt, wo Galgen und Rad die Rechtsgewalt des Magistrats verkündeten. Im Jahre 1777 wurde dort zum letzten Male eine Hinrichtung vollzogen.
Es folgt im Süden die Alte Bastei und der jetzt zur Erdbebenwarte eingerichtete Feilturm. Er barg in sich ein Verließ, in welches diejenigen, die sich verfehlt hatten – daher kommt der Name –, an einem Seil heruntergehaspelt wurden. Wo einst die Neue Bastei stand, ist jetzt eine Lücke im Wehrgang. Sie war reichgeschmückt durch steinernes Figurenwerk, einen geharnischten Ritter, Türmchen mit Löwen, Wappen und den Brustbildern der Baumeister Wolfgang Waldberger und Hans Hämmerlein. Im Dreißigjährigen Kriege stark beschossen, wurde sie wegen Baufälligkeit im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts abgetragen. Vor dem Berger Tor, einem viereckigen Turm mit niedrigem Vorbau, liegt der Totenberg, wo vor fast tausend Jahren Alt-Nördlingen entstand, und wohin jetzt die neue Stadt ihre Toten führt. Nach Norden zu folgen der Löwenturm, der Obere Wasserturm, durch welchen die Eger in die Stadt hineinfließt, und der Backofenturm, dann sehr verkümmert das denkwürdige Baldinger Tor. Am Mittag eines Sommertages, im Jahre 1703 bei windstillem Wetter stürzte der schlanke Hauptturm über dem Tore plötzlich in sich zusammen, fünf Personen im Fall erschlagend: den Torkorporal, den Torwart, den Turmwächter mit Frau und Kind. Er ist nicht wieder aufgebaut worden. Durch das Baldinger Tor zog im September 1632 Gustav Adolf ein, nachdem er seiner Gewohnheit nach die Stadt umritten hatte, um die Befestigungswerke zu prüfen. Er ritt auf einem Schimmel und trug zum Habit eines gemeinen Soldaten sein weißgraues Schwedenhütlein mit weißen Federn, das er abnahm, wenn er die im Gewehr stehende Bürgerschaft grüßte. Im Oktober kam er noch einmal wieder kurz vor der letzten Schlacht und dem Tode. Vom Baldinger Tor aus trat Adam Jäckle seinen verwegenen Gang durch die kaiserliche Zernierung ins schwedische Lager an; hierher wagte sich General Horn nach einem glücklichen Gefecht, führte über die Mauer hinweg ein kurzes Gespräch mit dem Stadthauptmann Weber und dem Kommandanten Daubitz und empfing einen Trunk Wein zur Labe. Draußen vor dem Baldinger Tore liegt die Kaiserwiese, wo im Mittelalter um die Frühlingszeit Turniere, Waffenspiele und andere Belustigungen gefeiert wurden. Unter diesen war das Scharlachrennen am beliebtesten, ein Wettreiten um den Preis eines scharlachroten Tuches, das Bürgermeister und Rat stifteten. Von dem Stabe, an dem der Herold das Tuch trug, schrieb sich der Name Stabenfest. Die Gesellen und Mädchen liefen zu Fuß um ein Barchenttuch. Als der Rat am Ende des 15. Jahrhunderts das Scharlachrennen abschaffen wollte, befahl Kaiser Maximilian, der ritterliches Spiel liebte, man solle es weiterführen, er habe genug Fürsten, Grafen, Herren, Ritter und Knechte an seinem Hof, die Lust und Freude dazu hätten. Der Rat gehorchte bereitwillig, aber nur bis zum Tode des Kaisers; dann verlief sich das Herrenfest in ein Frühlingsfest für Kinder.
Am Spitztor und Unterem Wassertor vorüber, wo die Eger aus der Stadt hinausschleicht, führt der Rundgang endlich zum Löpsinger Tor, das dem Deininger Tor ähnlich ist. In die Zeit des alten viereckigen Turms, an dessen Stelle die beiden Waldberger in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts den neuen errichteten, fällt ein Ereignis, das die Phantasie der Nördlinger lebhaft und lange beschäftigt hat, nämlich der geplante und vereitelte Überfall durch die Oettinger Grafen.
Die Grafen von Oettingen waren die nächsten Nachbaren der Stadt und sahen den Aufstieg der Bürgerschaft mit scheelem Auge. Sie führten ihren Stammbaum bis auf das Jahr 1007 und behaupteten, einst Gaugrafen im Ries gewesen zu sein, woraus sie ein Recht über Nördlingen ableiteten, das erst im 13. Jahrhundert, und wie sie meinten, mit Unrecht und zu ihrem Schaden reichsunmittelbar geworden war. Tatsächlich kreuzten sich die Rechte verschiedentlich; so hatte z. B. Oettingen-Wallerstein das Lehnsrecht über die Nördlinger Stadtflur und zahlte Nördlingen ihm die Stadtsteuer, die die Kaiser diesem Hause verpfändet hatten. Dazu besaß es noch das Geleitsrecht, was von den Städten immer ungern ertragen wurde, da es zu Eingriffen Anlaß gab. Nur in zweien seiner Dörfer war Nördlingen zugleich Grund- und Landesherr, nicht ohne daß ihm auch diese beiden Fälle von Oettingen bestritten wurden.
Im Jahre 1440 nun wollte einmal Graf Hans von Oettingen seinen lange gehegten Widerwillen gegen die Stadt austoben und sie nachts überfallen, um, wie man sich damals ausdrückte, im Blute der Bürger zu baden. Er gewann durch Vermittlung zweier Diener für seine Mordbrennerei den Türmer des Löpsinger Tores, Hans Lederer, und sein Weib, sowie den Torwart Hans Bös und seine Frau Els Klarerin. Außerdem wurden der Torwart des Reimlinger Tores, der Dütt von Erlingen und das »bös Cleuslein« des Einverständnisses verdächtigt. Zum Glück für die Stadt kam der Plan so zeitig auf, daß der Rat Gegenmaßregeln treffen und die beiden Oettinger Diener fangen konnte; sie gestanden es und wurden nebst Hans Bös, Hans Lederer und Els Klarerin hingerichtet. Die Oettinger Grafen ließen es sich sehr angelegen sein, ihre Untertanen zu retten, indem Graf Albrecht, die Frau des Grafen Ludwig und dazu noch eine verwandte Äbtissin persönlich Fürbitte einlegten, ohne aber den Rat dadurch zu rühren. Die anderen Schuldigen, darunter der Dütt von Erlingen und das bös Cleuslein wurden der Stadt verwiesen.
Die Händel zwischen Nördlingen und Oettingen wurden zuweilen durch kurze Perioden nachbarlicher Vertraulichkeit unterbrochen. Einmal begab es sich, daß die Frau des Grafen Ludwig eine Tochter zur Welt brachte, als gerade der regierende und der Altbürgermeister zu Besuch im Schloß waren, worauf sie zu Gevatter gebeten wurden. Als sie das daheim berichteten, äußerte der Rat die Meinung, da die beiden im Auftrage des Rats in Oettingen gewesen wären, müßte auch der Rat Gevatter sein, und kaufte als Patengeschenk »ein trinkgeschirrlin mit aim deckelin, alles inwendig und auswendig vergult, kost neun Gulden.« Dergleichen Aufmerksamkeiten zu erwidern, schenkten die Grafen wohl ein schweinernes oder anderes selbsterlegtes wild.
Dauerhafter waren die Händel; sie drehten sich zuweilen um den Lerchen- oder Wachtelfang, den die Nördlinger ausübten, während die Oettinger wie gewöhnlich ihnen das Recht dazu abstritten. Ein Prozeß, der dadurch entstand, daß die Oettinger den Bürgern auf ihrem altgewohnten Lerchenplätzlein ihr Garn zerrissen und wegnahmen, wurde vom Kammergericht zugunsten der Nördlinger entschieden; die Oettinger gaben es, wenn auch nicht ohne Protest, zurück. Im sogenannten vierten Lerchenkrieg im Jahre 1614 wurde Graf Marx Wilhelm, dessen siegesgewisses Lächeln herausforderte, von den erzürnten Bürgern erschossen. Die Streitigkeiten und Prozesse nahmen erst ein Ende, als beide feindliche Nachbaren, zuerst Nördlingen, dann das Fürstentum Oettingen von Bayern verschlungen wurden.
Von Bayern sagten die Nördlinger gelegentlich, es habe sie von jeher gehaßt. Herzog Georg von Bayern-Landshut drohte am Ende des 15. Jahrhunderts mit Krieg, weil er, wie er sagte, den Tod eines bayrischen Herzogs rächen müßte, der im Jahre 1289 bei einem Turnier erstochen sei. Solange das Reich dauerte, fand die alte Schwabenstadt gerade Bayern gegenüber bereitwilligen Schutz bei den Kaisern.
Der Wohlstand Nördlingens beruhte auf Gewerbe und Handel, und zwar wurden hauptsächlich mit Erfolg betrieben die Färberei, die Gerberei, die Lodweberei und Teppichweberei. Der fertige Loden wurde nach der Schweiz, nach Italien und Spanien versendet; auch Flanell und Fries wurden hergestellt. Rohstoffe kamen aus Franken und Böhmen und über Triest aus Mazedonien. Rot und schwarz wurde damals nur in Hamburg ebenso gut gefärbt. Beträchtlich war auch die Gänsezucht und der Handel mir Gänsefedern.
Durch Färberei war die angesehene Familie der Gundelfinger reich geworden, aus der eine Reihe von Bürgermeistern hervorging. Ein eigentliches Patriziat gab es in Nördlingen nicht; aber daß gewisse, durch Vermögen und Geschäftskenntnis geeignete Familien bei der Ratswahl berücksichtigt wurden, bildete sich naturgemäß als Gewohnheit aus. Die beiden Bürgermeister, die beiden geheimen Räte und die acht Senatoren, welche den Magistrat bildeten, übten eine fast absolute Herrschaft aus, da der große oder äußere Rat, den es daneben gab, nur auf Berufung zusammentrat und auch nicht Beschluß fassen durfte. Im allgemeinen aber, wenigstens bis ins 18. Jahrhundert, scheint der Magistrat die öffentliche Meinung berücksichtigt und das Wohl der Bürgerschaft nicht über die Sorge für das eigene vernachlässigt zu haben. Das Gemeinwesen war so verknüpft mit der Existenz eines jeden und die Anhänglichkeit an dasselbe so groß, daß so ziemlich ein jeder, und vornehmlich die Führenden, ihre Kraft und ihr Leben an seine Erhaltung und Förderung setzte. Politik im großartigen Stile wurde von der Stadt, wo es keinen Adel gab und wo die geographische Lage nicht beherrschend war, nicht getrieben, auch gehörte Nördlingen mit etwa 10 000 Einwohnern nicht zu den großen Städten; doch wußte es sich ansehnlich und achtbar zu behaupten. Noch zeugen eine Anzahl ausdrucksvoller, origineller Wohngebäude von der Wohlhabenheit der Bürgerschaft, zeugen die Georgskirche und das Rathaus von dem Bedürfnis würdiger Repräsentation. Zwei tüchtige Maler, Hans Schäufelin aus Nürnberg und Friedrich Herlin aus Rothenburg, fanden in Nördlingen Beschäftigung und Anerkennung.
Schäufelins Vorfahren sollen in Nördlingen ansässig gewesen und erst sein Vater soll nach Nürnberg ausgewandert sein. Der Sohn kehrte nach der Stadt seiner Ahnen zurück, nachdem er im Auftrage des Rats das große Freskogemälde, die Belagerung Bethuliens mit der Geschichte von Judith und Holofernes, geschaffen hatte, das ihm außer der Geldzahlung das Bürgerrecht eintrug, vom Rat ihm »ferner Kunst halb« geschenkt. Sein berühmtestes Werk ist die Beweinung Christi, die er als Epitaph für die Familie Ziegler malte. Es stellt in schöner Anordnung die heiligen Männer und Frauen dar, die den die Mitte des Vordergrundes einnehmenden Leichnam des Herrn beweinen. Einige unter den weiblichen Gestalten sind von rührender Lieblichkeit. Überhaupt ist der Schmerz auf diesem Bilde mehr durch Anmut gemildert, als in seiner zerreißenden Gewalt dargestellt. Sehr eindrucksvoll ist der Bergvorsprung im Hintergründe mit den drei Kreuzen; von dem leeren mittleren weht das Lendentuch des gemarterten Gottessohnes schaurig klagend gegen den stürmischen Himmel.
Auf Herlins schönfarbigen Bildern prägt sich so recht aus, was dem mittelalterlichen Stadtbürger teuer war. Der Engel der Verkündigung, die thronende Maria, die heilige Margarete auf demselben Bilde vereinigen Lieblichkeit, Ernst und Hoheit mit bürgerlicher Zurückhaltung und Schamhaftigkeit, mit gesunder Festigkeit der Erscheinung; in der Art und Weise, wie der Boden auf dem Verkündigungsbilde mit Maiblümchen bestreut ist, wie die Tiere behandelt sind, zeigt kindlich-inniges Einleben in die Natur. Christus erscheint mehr verantwortungsbewußt und vertrauenerweckend als majestätisch oder übermenschlich, Herlin selbst mit den Seinigen so aufrecht, wohlgebildet, treu und sympathisch, wie man sich eine bürgerliche Familie des 15. oder 16. Jahrhunderts gern vorstellen mag. Die den Baldachin über der Maria tragenden Engel, die jüngste Tochter des Meisters, der zwölfjährige Jesus im Tempel sind umhaucht von dem Ernst und der Süßigkeit früher Jugend. Herlin faßte die heilige Geschichte auf wie der Künstler, der zugleich Handwerker ist, und dessen Vorstellungen, von Überschwenglichkeit fern, nie der Ehrbarkeit, Gründlichkeit, Handfestigkeit und Gewissenhaftigkeit ermangeln. Der Maler der heiligen Mysterien strich den Ofen für die Ratsstube und einen Tisch im Rechenstäblein an, bemalte für den Rat sechs Schildlein am Leuchter auf der Trinkstube, vergoldete die Zeiger der Uhr ebenda und bemalte den Adler am Baldinger Tor und den Kaiserhimmel; für die letztgenannte Arbeit erhielt er die bedeutende Summe von 40 Pfund. Er starb im Jahre oder 1500. Sein Enkel bemalte einen Teil der Außenwände des Rathauses mit figürlichen Darstellungen, von denen in der Mitte des vorigen Jahrhunderts noch einige Spuren zu sehen waren. Unter einem Erker waren noch die Worte lesbar: Ih guck, Ih gaff, Jhe länger Ih gaff, bin Ih ein Aff. Auch zwei Söhne Herlins wurden Maler, vermutlich mehr nach der handwerklichen als nach der künstlerischen Seite.
Daß es nicht nur schön und gut in Nördlingen zuging, beweist die Zeit der Hexenverfolgungen; man würde sagen, daß sie ein sehr schlechtes Licht auf den Nördlinger Magistrat werfen, wenn man nicht wüßte, wie verbreitet diese Raserei war. Die Verfolgung wurde in Nördlingen eingeleitet durch die persönliche Anregung des Bürgermeisters und geschickten Schreiners Pferinger, der dem Hexenglauben besonders ergeben war. Unter seinem Vorsitz wurde der Beschluß gefaßt, die Hexen mit Stumpf und Stiel auszurotten. Anfangs wurden mehrere bezichtigte Frauen wieder entlassen, im folgenden Jahre aber drei verbrannt und im nächsten Jahre wieder drei, darunter die 68jährige Engelwirtin Anna Roch. Lebhaft unterstützt wurde das Verfahren durch die Ratskonsulenten Dr. Röttinger und Dr. Graf und den Stadtsekretär Paulus Mejer, der in einem Gutachten entschied, daß man bei Hexen auch auf allgemeines Gerücht hin die Tortur anwenden dürfe. Sobald man dazu schritt, waren die Unglücklichen verloren, denn man wiederholte die Quälerei so lange, bis sie gestanden und das Geständnis nicht mehr zurücknahmen. Aus den Akten geht hervor, daß nicht etwa, wie zuweilen behauptet wird, die Opfer sich selbst für schuldig hielten, wenigstens in Nördlingen tat das kaum eine; der Hexenglaube bestand nur, solange er andere anging und nicht einen selbst oder Nahestehende. Die Frauen waren gewöhnlich anfangs voll Zuversicht im Vertrauen auf ihre Unschuld und den Beistand Gottes, der, wie sie meinten, Schuldlosen zuteil werden müsse; sie verzweifelten, sobald sie die Tortur und die Unmenschlichkeit ihrer Richter kennengelernt hatten. Diesen kam es darauf an, daß die einmal Beschuldigten und der Tortur Unterworfenen verbrannt wurden, was ohne Geständnis nicht geschehen konnte; sie wollten sich nicht geirrt haben und wollten auch von ihrem Verfahren nichts in die Öffentlichkeit dringen lassen. Mitleid oder Gewissenhaftigkeit erschwerte ihnen die Ausübung dieser Grundsätze nicht. Auch wurden nicht nur solche Frauen eingezogen, die sich auf irgendeine Art verdächtig gemacht hatten, sondern man zwang eine jede durch die Tortur andere anzugeben, die sie beim Hexentanz gesehen hätten, und drei erpreßte Zeugnisse genügten, um gegen die genannten einzuschreiten. Jede neue Gefangene empörte sich über die Schlechtigkeit der Hexen, die Unschuldige durch falsches Zeugnis ins Unglück stürzten, jede aber tat unter der Tortur dasselbe, um von der unerträglichen Marter frei zu werden. Die, welche schon längere Zeit litten, rieten den neu Eingelieferten, wenn sie mit ihnen konfrontiert wurden, lieber sofort alles, was verlangt wurde, zu gestehen, da es hier nicht auf Gerechtigkeit ankomme, sondern darauf, daß man verbrannt werde. Die Angst vor dem Feuertode erwies sich als weniger stark als die Angst vor der immer wiederholten Tortur. Die Familie des Zahlmeisters Peter Lemp, dessen Frau Rebekka als Hexe verklagt wurde, zeigt sich in dem Briefwechsel, der zwischen ihr und den Ihrigen hin und her ging, in jeder Hinsicht gutgeartet; reizend äußerte sich die naive Zärtlichkeit der Kinder, ergreifend die gegenseitige Liebe der Eheleute. Eine Bittschrift, die Lemp beim Magistrat einreichte, um seine Frau zu retten, schildert ein glückliches Haus, in dem die fromme Frau für Mann und Kinder liebend und pflichttreu sorgt, ohne dadurch die hartnäckigen Richter zu überzeugen. Unter der Tortur büßte die warmherzige Frau ihr fröhliches Vertrauen auf ihren Mann und Gott ein und starb mit ihren Unglücksgefährtinnen in den Flammen.
Wagte Peter Lemp nur behutsam, Zweifel an der Zulässigkeit des gerichtlichen Verfahrens zu äußern, so trat öffentlich auf der Kanzel der Superintendent und Stadtpfarrer Friedrich Wilhelm Lutz dagegen auf. Über zwei scharfe Predigten, die er gegen das Hexenverbrennen hielt, wurde er im April 1590 zur Rede gestellt, beharrte aber unbeugsam bei seiner Überzeugung, trotzdem Dr. Röttinger warnte, der Magistrat sehe die Einmischung der Geistlichkeit ungern. Auch führte Lutz an, daß vor fünfzig Jahren sehr berühmte Kanzelredner dasselbe wie er gesagt hätten. Seine Bemerkung, man verfolge die hilflosen armen Weiber, hatte einzig den Erfolg, daß man nun auch nach den vornehmen griff: so starben auf dem Scheiterhaufen eine Frickhinger, eine Saugenfinger und zwei Gundelfinger, Walburga, die Witwe des Bürgermeisters Karl, und Dorothea, die ihr siebzehnjähriges Leben unter der Tortur endete.
Was dem Pfarrer nicht gelang, dem fürchterlichen Morden Einhalt zu tun, das bewirkte eine Frau durch ihre bewundernswürdige Dulderkraft. Die aus Ulm gebürtige Kronenwirtin Maria Holl ließ sich kein endgültiges Geständnis entreißen, obwohl sie mehr als fünfzigmal grausamster Tortur unterworfen wurde. Die Gerichtsherren wurden stutzig und stellten zunächst einmal das Verfahren ein, ohne jedoch an Entlassung des Opfers zu denken. Da schritt, durch die Familie veranlaßt, der Magistrat von Ulm mit einem nachdrücklichen Schreiben ein, das Eindruck machte, zumal auch in der Bürgerschaft eine den Hexenprozessen feindliche Stimmung um sich zu greifen anfing. So wurde Maria Holl endlich ihrem Manne zurückgegeben, mußte aber vorher eine Erklärung unterschreiben, in der sich die Engherzigkeit und Herrschsucht des Magistrats offenbarte; sie mußte nämlich hervorheben, wie gnädig und väterlich sie behandelt worden war, und daß sie gutwillig verschiedenes gestanden hätte, wodurch der gegen sie gehegte Verdacht bestätigt worden sei. Nach ihrer Entlassung im Jahre 1594 hörten die Hexenprozesse in Nördlingen auf. Bedenkt man, wie es in anderen Ländern und Orten zuging, so kommt man dazu, Nördlingen zu loben, wo sich Menschen fanden, die die Ungerechtigkeit und den Unsinn bekämpften, und wo die Epidemie immerhin nicht länger als vier Jahre dauerte.
Während die bei der Tortur Gestorbenen unter dem Galgen begraben wurden, die Asche der Verbrannten der Wind verwehte, erhielten die Richter ehrenvolle Grabstätten in der Hauptkirche. Seit dem Jahre 1521 wurde niemand mehr dort begraben mit Ausnahme sehr angesehener Personen.
Nachdem die Stadt aus der Höhe in die Ebene verlegt worden war, wurde zunächst noch die Bergkirche benutzt, aber allmählich zog man die kleine, dem heiligen Georg geweihte Kirche unten vor. Da sie sich jedoch für die wachsende Bevölkerung ungenügend erwies, entschloß man sich im Jahre 1427 zum Bau einer neuen, die erst im Jahre 1505 vollendet wurde. Sankt Georg wurde auch dieser Kirche Patron und zugleich Patron der Stadt, der »liebe Hausherr«, der »liebe Herr und Ritter« genannt. Die von Stephan Weyrer überwölbte, von schlanken Pfeilern herrlich getragene Halle birgt als edelsten Schatz neben der Beweinung von Schäufelin das aus Holz geschnitzte Bild des Gekreuzigten am barocken Hochaltar. Das dornengekrönte, sterbende Haupt des Erlösers ist von ergreifender Schönheit, so daß die Sage sich bildete, die Herren, die Nördlingen zum kaiserlichen Geleit abschickte, als Kaiser Friedrich III., um seine Braut, Eleonore von Portugal, zu empfangen, nach Italien zog, ein Laninger, ein Frickhinger, ein Ainkürn, ein Strauß hätten es von dort mitgebracht; ein rührendes Zeichen der deutschen Sehnsucht, die sich einbildete, alles Schöne komme aus dem Süden. Man schreibt das Kunstwerk jetzt der Werkstatt des Veit Stoß zu. Das Sakramentshäuschen, an dem besonders die jubilierenden Engel entzücken, die wie zwitschernde Vögel in den Verzweigungen eines Wunderbaumes sitzen, ist von Stephan Weyrer, demselben, der das Bild Kaiser Maximilians am Brothause anfertigte.
Zum Bau des Sakramentshäuschens stiftete der Bürger und Ratsmann Claus Berger ein Pferd, das er im Städtekrieg gegen den Markgrafen von Brandenburg gebraucht hatte, woraus 28 Gulden gelöst wurden. Unter denen, die für den Kirchenbau Gaben opferten, wird »eyn armes frewlein von Behem« erwähnt, das in Nördlingen starb und »eyn plöven Mantel und eyn sleygerlin« gab, die für 4 Gulden verkauft wurden.
Im heiligen Säulenhain der Kirche wurden einst die Häupter der Stadt und Tote, die man ehren wollte, bestattet; die Lebenden, die sich hier zum Gottesdienst versammelten, empfingen die Namen und Bilder der Toten, die einst hier gebetet hatten und nach beendigter Predigt wieder hinaus ins Licht gegangen waren. Bis zur Restauration des Jahres 1887 gab es 230 Epitaphien und Totenschilder in der Kirche; dann glaubte man die Säulen freilegen zu müssen und behielt noch etwa die Hälfte an den Wandflächen.
Da finden sich verschiedene Gundelfinger, auch jener Karl, gestorben im Jahre 1592, dessen Witwe bald hernach als Hexe verbrannt wurde; ein Wappenschild mit goldener Lilie und einem Arm mit emporgehobenem Zeigefinger deutet auf die Familie Saugefinger. »Anno Dm. 1575 am S. Martins Abend verschied der Ersam und weis Balthas. Saugefinger des Rats zu Nördlingen.« Er war Gerber und gehörte zwölf Jahre dem Rate an. Auch dessen Witwe wurde als Hexe verbrannt. Die Familie starb mit seinem Enkel aus. Die führenden Persönlichkeiten der Hexentragödie sind alle vorhanden: vor allen Dingen der Bürgermeister Johann Pferinger, der 1604 im 71. Jahre starb. Am 2. April 1597 verschied Wilh. Friedr. Lutz, »der hl. Schrift Doctor vnd Pfarrer alhier seins Alters 47 Jar. Des Seel Gott gnädig und barmherzig sein wolle. Amen.« Er starb ohne Erben. Prächtig ist das Epitaph des Ratskonsulenten Röttinger; auf seinem Wappen steht sein Motto: in silentio et spe. Die lateinische Inschrift lautet auf deutsch: Im Jahre 1608 ist fromm und ruhig entschlafen der edle und fürnehme Mann Dr. Sebastian Röttinger, beider Rechte Doktor, der freien Stadt Nördlingen 43jähriger und nicht minder der schwäb. und fränk. Ritterschaft treueifriger Konsulent. Seine Seele ruhe in Frieden. Er hatte mit zwei Frauen vier Söhne, von denen drei vor ihm starben. Im selben Jahre starb auch sein Kollege und Genosse Graf. Wir begegnen den Welsch, den Ostertag, den Frickhinger. Im Jahre 1648 starb Joh. Melchior Welsch, Bürgermeister und Stadthauptmann, der, als eine feindliche Partei das Stadtvieh forttrieb, an der Spitze der Bürger hinauseilte und erschossen wurde. Es sind da die während des Dreißigjährigen Krieges regierenden Bürgermeister Georg Bommeister und Joh. Bapt. Jörg und auch Marx Seefried, beider Rechte Doktor, der nach der Schlacht bei Nördlingen beim Sieger Fürbitte für seine unglückliche Vaterstadt einlegte; er starb 59 Jahre alt, die Katastrophe nur vier Jahre überlebend. »Dem Gott der Allmechtig an Jehnen großen Tag eine fröhliche Auferstehung in Gnaden erteilen wolle.« Ein Epitaph gedenkt des »ernsthaft und fürnem Friedrich Herlin, Stadtmaler allhie«; ein anderes des Enkels Jesse. Auf einem Grabstein im Chor ist die sogenannte »alte Gräfin« abgebildet, deren Wunsch es war, in der Georgskirche begraben zu werden. Die Gräfin Anna von Oettingen trennte sich von ihrem Manne, dem Grafen von Oettingen-Wallerstein, weil er ein Gegner der Reformation war, der sie anhing. Sie begab sich zunächst zu ihrer Schwester Christine, der Frau eines Grafen Wolfg. Karl zu Sternberg und lebte dann bis zu ihrem Tode in Nördlingen. In ganzer Figur auf rotem Sandstein dargestellt ist der junge Herzog Albrecht von Braunschweig, der im Dienste des Landgrafen Philipp von Hessen 1546 fiel. Im Kampfe stieß ihm ein Soldat den Spieß in den Mund, dessen eiserne Spitze steckenblieb; trotzdem tötete der tapfere Jüngling noch vier Spanier, bevor er ohnmächtig vom Pferde fiel. Er starb in Nördlingen nach schmerzhafter Operation. Sein lebensgroßes Bild zeigt ihn gerüstet, in der Rechten die Streitaxt, die Linke aufs Schwert gestützt. Von den sechsundfünfzig Offizieren, die in der Schlacht bei Höchstädt im spanischen Erbfolgekrieg 1704 fielen oder infolge der Wunden in Nördlingen starben, sind mehrere in der Kirche beigesetzt, darunter Joh. Wigand von Goor, General der Infanterie bei den holländischen Truppen, Joh. von dem Busch, Christ. Rud. von Haake und Karl Heinr. von Wilknitz bei preußischen Regimentern. Die vornehmen Begräbnisse fanden gewöhnlich nachts mit Windlichtern statt.
Aus dem Stil der Inschriften auf den Epitaphien kann man den wechselnden Charakter der Zeit ablesen, vom 15. bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts wird der Mitteilung des erfolgten Todes ein kurzer Segenswunsch beigefügt: »Des Seel Gott gnad« oder »Dem Gott genad« oder »Dem Gott barmherzig sy.« Allmählich werden sie weitschweifiger und aufgeblasener und posaunen schließlich das Lob des Verstorbenen aus, wie ein Scharlatan in einer Jahrmarktsbude seinen Kram anpreist.
Eine anmutige Geschichte erzählt die Chronik von dem Bürgermeister Wolfgang Grave, dessen Namen und Daten die Kirche bewahrt. Er war seinem Stande nach Säcklermeister und so tüchtig und angesehen, daß 72 Reichsstädte ihn zu ihrem Sprecher erwählten, damit er auf dem Reichstage zu Speier vor dem Kaiser die evangelische Religion bekenne. Nachdem er das in schöner, höflicher Rede getan habe, wie noch nie eine solche von einem Handwerker gehalten worden sei, habe Karl V. lachend zu ihm gesagt: »Säcklerle, Säcklerle, warum tust du Oration für meine Reichsstädte, haben sie doch genug Doktores unter ihnen?« Darauf habe Wolfgang Grave geantwortet: »Allergnädigster Herr, dieweil es an mich ist kommen, solches Ew. Majestät vorzutragen, habe ich mich geweigert; aber die Reichsstädt und Herren mich nit entlassen wollen; bitt Ew. Majestät wollt solches mir selbst nit zurechnen.« Darauf der Kaiser: »Ich laß mirs gefallen, daß ein ungelehrter Mann mehr soll reden können, denn die gelehrten; ich lob dich von Herzen deiner Relation halber für meine Reichsstädt; dir, ob Gott will, soll bald eine freundliche und gute Antwort werden.« Der Kaiser, so wird weiter berichtet, habe Wolfgang Grave zweimal malen lassen, ein Bild behalten und eines ihm geschenkt.
Mag auch die Forschung die Echtheit dieses Vorfalls bestreiten, deutlich spiegelt sich darin die Auffassung, die das deutsche Volk von seinem Kaiser hatte, und die Art, wie Kaiser und Volk miteinander verkehrten. Auch Karl V. hatte bei aller spanischen Grandezza so viel von seinem Großvater Maximilian geerbt und so viel durch Menschenkenntnis und Klugheit gelernt, daß er in späteren Jahren den Ton anschlagen konnte, der dem deutschen Bürger zu Herzen ging. Wahr ist schließlich die Gestalt des Säcklers und Bürgermeisters Wolfgang Grave; manche Bilder von Handwerksmeistern aus dem 15. und 16. Jahrhundert sind auf uns gekommen, deren Züge einen so tapferen, sicheren, treuherzigen und bescheidenen Mann vergegenwärtigen.