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Meerstadt ist Stralsund, vom Meer erzeugt, dem Meere ähnlich. Auf das Meer ist sie bezogen in ihrer Erscheinung und in ihrer Geschichte. Ihre stillen grauen Straßen durchwandernd, hört man plötzlich seine Löwenstimme, sieht man seine Schlangenhaut blitzen. Hier wohnten Menschen voll Abenteuerlust und Behutsamkeit, prächtig, stolz, abgehärtet, furchtlos, grausam, trotzig, fromm. Es waren Niederdeutsche, die hier einwanderten, aus Flandern, Braunschweig, Westfalen, seit hundert Jahren etwa Christen; doch mag es sein, daß von den Altären der Slawengötter, die sie zerstörten, ein Hauch fremden Heidentums in ihre Seelen drang. Ein Wendenfürst war es, Jaromar I., Fürst von Rügen, der die westlichen Ansiedler rief, überzeugt, daß sie tüchtiger und kräftiger als die Slawen wären und der Kultivierung des Landes besser dienen würden. Am Strande, wo wendische Fischer sich niedergelassen hatten, um mittels Kähnen den Verkehr zwischen dem Festlande und Rügen zu besorgen, siedelten sich die Ankömmlinge an und verdrängten allmählich die alten Bewohner. Jaromars Nachfolger Wizlav erhob das neue Gemeinwesen zur Stadt, indem er ihm urkundlich diejenigen Gerechtigkeiten und Freiheiten verlieh, die vorher Rostock erhalten hatte. Der Name des wendischen Dorfes Stralow ging auf die deutsche Ansiedlung über; Strela, das heißt Strahl, Pfeil, hieß die später Dänholm genannte Insel, die wie ein Pfeil in das Meer hinein schießt, und der Pfeil wurde und blieb auch das Wahrzeichen der Stadt im Wappen. In einer Urkunde jedoch, durch welche im Jahre 1240 Herzog Wizlav I. von Rügen der Stadt einen Wald, die Feldmark des alten Dorfes und der Insel Strela schenkte, nannte er sie mit deutschem Namen »zum Stralesund«. Neun Jahre später hatte die Stadt die Feuerprobe zu bestehen, Überfall und Zerstörung durch die Lübecker unter ihrem Admiral Alexander von Soltwedel, welche den Stralsundern vorwarfen, sie hätten den Erbfeind der Küstenstädte, Dänemark, unterstützt. Erstaunlich schnell überwand der jugendliche Organismus den zugefügten Schaden, überwand auch die zuerst an Zahl überlegenen slawischen Bewohner des Landes, wobei ihnen die Gunst der Fürsten zustatten kam. Das war kein Kampf, den Schlachten entschieden, sondern ein allmähliges, trauriges, leidensvolles Zurückweichen der Schwächeren. Von der Stadt nicht geduldet, drängten sich die Wenden an die Mauer oder verzogen sich ins Land hinein, mit den Bauern wohl auch sich vermischend. Im Jahre 1404 starb das letzte wendisch sprechende Ehepaar in Jasmund auf Rügen.
Mit der Kraft der Kolonisten war das Glück im Bunde; 60 Jahre nach dem Bestehen der Stadt als solche hatte sie den Umfang erreicht, den sie jetzt noch hat. Um drei Kirchen herum gruppierte sie sich, von denen die älteste die Nikolaikirche am Markte der Altstadt ist, dem Heiligen der Fischer geweiht. Sie hat keine Vorgängerin, erhebt sich nicht über den Trümmern römischer Tempel oder über den Andachtsstätten heidnischer Germanen, ungeweiht rauchte die feuchte Erde in dem gewaltigen Kirchturm empor. Es war hier nicht wie in der Heimat, wo zwischen den Hütten und Feldern der Bauern und den Marktbuden der Krämer ein bescheidenes Heiligtum sich erhob, zuerst aus Holz, dann, nach einem Brande vielleicht, teilweise aus Stein, allmählich verschönert durch die Prachtliebe eines Bischofs und die Opferfreudigkeit der Gläubigen; hier galt es, eilig dem heimischen Gott ein würdiges Haus zu bauen. Die Stralsunder richteten sich auf der Insel ein wie auf einem Schiff, dessen Masten die Kirchtürme waren, überragend hoch, weit sichtbar in der Wildnis des Meeres. Da die Küste keinen Haustein lieferte, baute man mit Backsteinen, deren rötlich-violette Glutfarbe für den fehlenden Zierat aufkommt. Den schönsten Schmuck der Mauern bilden die breiten und hohen Fenster, gigantischen Harfen gleichend, die die Finger des Meersturms zu erwarten scheinen, um den heiligen Raum mit schauerlichen Akkorden zu erfüllen.
Die äußere Erscheinung der Nikolaikirche wird dadurch mitbestimmt, daß sie mit dem Rathaus und einigen Häusern zusammengewachsen ist und mit Dach und Türmen über sie hinausragend um so gewaltiger sich darstellt. So wächst der mittelalterliche große Mensch aus dem Schoß seines ihm nahgesellten Volkes, von ihm gestützt und zugleich es führend und beherrschend, desto mächtiger, weil es eins ist mit vielen Brüdern, und nicht weniger einzigartig.
Rechtwinklig zu den Türmen, die Querwand des Marktes bildend, der wie ein geschlossener Saal wirkt, zieht sich die Front des Rathauses hin, das schon gleichzeitig mit der Nikolaikirche entstanden ist. Über dem ersten Stockwerk, das von einem spitzbogigen Gewölbe getragen wird, erhebt sich eine hohe Bekrönung, die nur der Augenweide dient, ein Überschwang des Stolzes und der Lust, welcher für die regierende Aristokratie charakteristisch ist. Sechs hohe Ziergiebel, von sechs spitzen Türmchen getrennt und umgeben, steigen über dem eigentlichen Gebäude auf, gegliedert durch drei Reihen schmaler gotischer Fenster, von denen je zwei durch einen Rundbogen verbunden sind. Dies durchbrochene Diadem gibt nicht nur dem Rathause, sondern dem ganzen Platz einen phantastischen Reiz. Seine Unbeweglichkeit steht im Gegensatz zum Licht, das hindurchflimmert, seine Zwecklosigkeit an einer Stelle, wo man mehr Zweck erwartet, gibt ihm etwas Traumhaftes. Aus dem Gewölbe des Rathauses führt ein Durchgang zum Hauptportal der Nikolaikirche. Ihr Inneres wirkt weniger schwer, als das Äußere erwarten läßt, aber einheitlich mächtig. Es ist der übermenschliche, gerechte, allweise Gottvater, dessen Dasein wir hier spüren, in dessen Bezirk sich die Menschen zur ewigen Ruhe legten, die ihr Lebenlang mit den heillosen Elementen gekämpft hatten. Ein Gekreuzigter mit ernstem, nordischen Antlitz hing wohl einst am Triumphkreuz über dem Lettner; eine zarte Madonna beugt ihr Haupt unter der schweren Krone; geschnitzte Altäre voll dramatisch bewegter Figuren, eine feierliche Anna selbdritt, das sind die Wächter des toten Volkes, über deren Grabplatten die Lebenden, betend oder betrachtend, hinschreiten.
Die Jakobikirche, deren Wirkung von ihrem einen imposanten Turm ausgeht, schließt die innere Böttcherstraße ab. Breit im Viereck aufsteigend wie die Türme der Nikolaikirche, geht er mit dem letzten Stockwerk in ein achteckiges über, das zwei Türmchen flankieren, und das eine schnurrige Kupferkappe bedeckt. Ihr metallisches Grün flammt gegen den grauen Himmel und die rötlichen Ziegel. Den Mittelpunkt der Neustadt bildet die grandiose Marienkirche, der die Neuzeit ihre architektonische Umgebung, gleichsam den Mantel, der sie mit malerischem Faltenwurf umgab, abgerissen hat, so daß sie nun von allen Seiten zugänglich auf leerem Platze daliegt, während sie sonst dem Auge nie ganz faßbar war wie alles ganz Große. Die zierliche Apolloniakapelle neben dem Thor verdankt einer charakteristischen Begebenheit ihre Entstehung.
Das stralsundische Kirchenwesen stand unter der Leitung des Archidiakonen von Triebsees, der Stellvertreter des Bischofs von Schwerin war. Mit solchen Posten pflegte der Adel versorgt zu werden, der seine ritterlich-weltlichen Gewohnheiten deswegen nicht ablegte. Im Anfang des 15. Jahrhunderts hatte die Würde Kord Bonow inne, aus einer alten rügen-pommerischen Adelsfamilie, der am Hofe Herzog Wratislaws VIII. sehr gern gesehen war, am meisten von der Herzogin Agnes, einer geborenen Prinzessin von Sachsen-Lauenburg. Er war zugleich erster Geistlicher an St. Nikolaus und Kirchherr zum Sunde. Wegen einer Münzverschlechterung, die damals eingerissen war, geriet Kord Bonow mit der Stadt in Streit, und da er mit Worten und Drohungen nichts erreichte, überfiel er sie mit seinem adligen Anhang, etwa dreihundert Berittenen. Nach der Art, wie damals Fehden geführt wurden, fügten sie den Bürgern und Bauern allen erdenklichen Schaden zu, führten das Vieh fort, brannten, plünderten und mordeten. Das zur Wut gereizte Volk ergriff, um sich zu rächen, 16 Priester und schleppte sie zur Aburteilung vor den Rat; da dieser sich auf nichts einließ, übte die Menge selbst Gericht, zündete auf dem Markt ein Feuer an, las aus den gefangenen Priestern drei aus und stieß sie in die Flammen. Man nannte dies Ereignis den Pfaffenbrand am Sunde. Der Bischof von Schwerin verhängte Bann und Interdikt über Stralsund; allein der Papst nahm für die Stadt Partei und hob das Interdikt unter Exkommunikation des eigenmächtigen Bischofs auf. Zur Sühne mußte jedoch auf dem Platz, wo die Geistlichen verbrannt worden waren, eine Kapelle errichtet werden, und dies ist eben die Apolloniakapelle neben der Marienkirche.
Dem eigentlich Schuldigen, Kord Bonow, der frei ausging, war von ganz anderer Seite ein gewaltsames Ende bestimmt. Nach dem Tode des Herzogs führte seine Witwe die vormundschaftliche Regierung für ihre beiden unmündigen Söhne, wobei ihr ein Regentschaftsrat zur Seite stand. Mitglieder desselben waren außer Kord Bonow und anderen Geistlichen der Marschall des Landes Wolgast Degener Buggenhagen, Raven Barnekow, der Vogt zu Wolgast und zwei Herren des Rats von Stralsund; keiner von ihnen hatte soviel Einfluß wie Kord Bonow, der Geliebte der Herzogin. Sein willkürliches Regiment machte ihm Feinde, unter denen Buggenhagen der erbittertste war. Haßte er ihn vielleicht als Nebenbuhler in der Gunst der Herzogin? Oder wollte er ihre Ehre rächen? In dem Dorfe Groß-Kiesow bei Greifswald, sei es daß er ihn zufällig dort traf oder ihn dahin gelockt hatte, stieß er ihn nieder und entfloh nach Stralsund. Dort konnte ihn die Rache der Herzogin nicht erreichen; aber in unbegreiflicher Sorglosigkeit begab er sich selbst in Gefahr. Vielleicht gehörte er zu jenen Menschen, denen gesunde Kraft ein Gefühl unantastbarer Sicherheit gibt, vielleicht glaubte er das gewohnte Hofleben nicht länger entbehren zu können, vielleicht zog ihn heimliche Leidenschaft in die Nähe seiner fürstlichen Feindin; er gab dem inzwischen zur Regierung gekommenen Herzog Wratislaw IX. seinen Wunsch nach Versöhnung zu erkennen. Der junge Herzog erklärte sich bereit, soviel an ihm sei, das Vorgefallene zu verzeihen und versprach, auch bei seiner Mutter Fürbitte für den Marschall einzulegen; vor den Toren Stralsunds bei einer Mühle in der Triebsees-Vorstadt sollte eine Zusammenkunft stattfinden, wozu der Herzog dem Marschall freies Geleit zusicherte.
Der Herzog, der mit Gefolge erschien, lud den Marschall zur Tafel; da der sich setzen wollte, hörte er im Garten Schritte und Waffen klirren, stutzte und wollte, plötzlich Verdacht schöpfend, entfliehen. Das aber verhinderten die Begleiter des Herzogs, von denen einer dem Überraschten einen Hieb auf den Kopf versetzte; die Ankommenden brachten ihn vollends um. Ob der Herzog mit dem Morde einverstanden war, wurde nicht klar; an der Spitze der Verschworenen stand Henneke Behr von vornehmstem rügenschem Adel, auch zwei Zepelin waren dabei, ein von Wengelin, ein Bockholt, ein von dem Berge. Die Städte Stralsund und Greifswald, nicht der Herzog verfolgten die Mörder und fingen sie nach viel Kampf und Mühe; Behr wurde auf dem Schauplatz seiner Tat gerädert.
Alle Begebenheiten nahmen in Stralsund etwas heidnisch Wildes, Übermäßiges an. Ihre Geschichte war für Sänger, deren Balladen das Grollen der Brandung begleitete. Sie hatten weit weniger Klugheit und Besonnenheit als Lübeck und mehr ungebändigte Leidenschaft, dementsprechend hatten sie wohl einzelne Erfolge, aber nicht die regelmäßige Ernte einer folgerichtig zusammenhängenden Politik.
An Feinden fehlte es nicht: Da war Dänemark und später Schweden, dann die Landesherren, die Herzöge von Pommern, Erben der Fürsten von Rügen, und schließlich die Kurfürsten von Brandenburg, die sich als Erben der Herzöge von Pommern betrachteten. Solchen Mächten gegenüber hatte Stralsund keinen Schutz als das Bündnis mit anderen in ähnlicher Lage sich befindenden Städten. Im Jahre 1278 kam die Einigung zwischen fünf Städten, Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund und Greifswald zustande, aus dem die macht- und ruhmvolle Hanse hervorging. Etwa dreihundert Jahre lang vermochte diese Städteverbrüderung nicht nur dem Neid und der Herrschsucht der fürstlichen Nachbarn zu widerstehen, sondern ihren Einfluß über den ganzen Norden und den Glanz ihrer Freiheit, ihres Reichtums, ihrer Siege über das Abendland zu verbreiten.
Nachdem die Hanse im Jahre 1370 den mächtigen Dänenkönig Waldemar, den letzten Sprossen des alten dänischen Königsgeschlechts in neunjährigem Kriege besiegt hatte, wurde in Stralsund der Friede abgeschlossen, der die Übermacht der Hanse über Skandinavien feststellte. An der Friedensurkunde, die noch im Ratsarchiv zu Stralsund verwahrt ist, hängen 31 Siegel verbündeter Städte. Der dänische Reichsrat durfte danach keinen König ohne Einwilligung der Hanse wählen.
In dieser Zeit der Machtfülle war Bürgermeister von Stralsund Bertram Wulflam, dessen Haus mit dem zackigen Außengiebel noch jetzt, wenn auch durch Umbau entstellt, dem Rathause gegenübersteht. Er war der vollendetste Repräsentant jener Stadtkönige, die an der Spitze des Rats ihr Reich mit unumschränkter Gewalt beherrschten. Die Großkaufleute des Mittelalters in den bedeutenderen Stadtrepubliken waren oft weitblickende und welterfahrene Männer. Die Reisen, die sie zu diplomatischen Zwecken machten, waren gefährliche Wagnisse, dazu verantwortungsvoll, kostspielig und anstrengend, keine Vergnügungen, sondern Aufgaben. Die Bürgermeister und Ratsherrn waren Anführer im Kriege, mußten also in den Waffen geübt sein. Ihre Interessen fielen so durchaus mit den Interessen der Stadt zusammen, daß darin eine Bürgschaft für die Gesamtheit zu liegen schien, es werde für aller Wohl aufs beste gesorgt. Allein die menschliche Natur ist so beschaffen, daß sie unverantwortliche Macht auf die Dauer nicht erträgt, sondern den Versuchungen erliegt, die sie mit sich bringt. Die Herren begannen ihre bevorzugte Stellung zu mißbrauchen, die Gemeinde nicht mehr zu befragen, ihre Wünsche nicht mehr zu berücksichtigen; gleichzeitig erstarkten die Handwerker, deren Arbeit die Blüte der Stadt befördern half, begannen sich zu fühlen und verlangten einen Ausdruck ihrer gesteigerten Kraft im Regiment. Anlaß dazu gaben gewöhnlich vermehrte Ausgaben, wie sie in Stralsund allein schon die kriegerische Politik mitbringen mußte.
Vertrat die Aristokratie Bertram Wulflam, so fand die Bürgerschaft einen ausgezeichneten Vertreter in Carsten Sarnow, der auch an Kriegsruhm mit jenem wetteifern konnte. Wie oft nach Kriegen gewitterte es nach dem letzten großen Seekriege noch fort; Kampf- und Raublustige machten auf eigene Faust das Meer unsicher und wurden von den Stralsundern als Seeräuber betrachtet. Dabei war der hohe dänische Adel und auch die rügensche Ritterschaft beteiligt. Waldemar I. von Dänemark hatte vor 200 Jahren die Insel Rügen unterworfen; seitdem verhielt sich ein Teil des dortigen Adels neutral, aber viele andere, zum Beispiel die Moltke, die Rittmann von der Lanken, die von der Osten, verschmähten es nicht, Dienst und einträgliche Ämter von Dänemark anzunehmen. Die Putbus stellten sich im allgemeinen gut zu Stralsund; auch war die gerüstete Seestadt so gefürchtet, daß, als Henning Putbus, der Günstling Waldemars IV. Atterdag, in Abwesenheit des Königs Reichsverweser wurde, sein Vater Barante Stralsund gegenüber jede Gemeinschaft mit seinem Sohne ableugnete. Bertram Wulflams Sohn, der stolze und übermütige Wulf Wulflam, zog vergeblich mit einer Flotte gegen die Seeräuber aus, um so größeren Beifall errang der Sieg, den Carsten Barnow über sie davontrug. Im Frühling des Jahres 1391 zog der junge Ratsherr im Triumph ein mit dem bizarren Gefolge von hundert rollenden Tonnen, aus denen die Köpfe der darin eingesperrten Piraten hervorstarrten. Man hatte diese Art, Gefangene zu verwahren, von den Seeräubern selbst gelernt. Liebling des Volkes und Träger seiner Ansprüche, trat Carsten Sarnow als Bürgermeister dem alten Wulflam entgegen; es handelte sich hauptsächlich darum, Einblick in die Führung der Finanzen zu gewinnen; aber der Patrizier betrachtete es als eine Erniedrigung, dem Volke Rechenschaft abzulegen, und bestand auf seiner Unverantwortlichkeit. Seine Unbeugsamkeit erbitterte die Menge; sie hätte sich an ihm vergriffen, wenn nicht Carsten Sarnow den fast Achtzigjährigen beschützt hätte. Bertram Wulflam starb in der Verbannung, aber seine Familie erzwang sich die Rückkehr und die Rache. Der tote Bürgermeister, so erzählt man, wurde auf seinen Stuhl im Rathause gesetzt, damit dem Leichnam die Ehre zurückgegeben würde. Carsten Sarnow hatte keine »Gefrunden« und stützte sich mehr auf die Gemeinde als auf die Ämter, wie hier die Zünfte genannt wurden; so konnte es kommen, daß er ein Opfer der Wulflamschen Partei wurde. Er wurde auf dem Markte enthauptet, nur zwei Jahre nachdem er auf derselben Stelle als Sieger umjubelt war. Die veränderte Verfassung, durch welche die Handwerker Anteil an der Regierung bekommen hatten, wurde aufgehoben, und das unumschränkte Regiment der Patrizier wiederhergestellt.
In Bertrams Sohne Wulf, auf den sein Einfluß und seine Stellung sich vererbten, waren die Eigenschaften des Vaters ins Schadenstiftende und Verbrecherische gesteigert. Auch sein Reichtum überstieg den des Alten und sein fürstlich verschwenderisches Aufsehen ging über das Herkömmliche hinaus. Bei seiner Hochzeit mit Katharine von Gildehusen war vom wulflamschen Hause aus ein Läufer von feinstem englischem Tuch quer über den Markt bis zur Nikolaikirche gelegt. Zu seinen Freunden gehörte Starke Suhm aus rügenschem Adelsgeschlecht, mit dem er sich aus unbekanntem Grunde entzweite. In seinem Auftrage wurde Starke Suhm, als er mit seinem Sohne Thorkel über die alte Fähre setzte, von Mitfahrenden ermordet. Dem Mitleid des Fährmanns soll der Sohn zu verdanken gehabt haben, daß er am Leben blieb. Wulf Wulflam verfiel der Blutrache, indem Thorkel Suhm ihn auf dem Kirchhof zu Bergen auf Rügen am 1. November 1409 ermordete. Die Stadt Stralsund führte deswegen eine Fehde mit dem ganzen Geschlecht der Suhm, bis im Jahre 1414 durch Vermittelung des Herzogs Wratislaw VIII. ein Vergleich zustande kam, von dem aber Thorkel ausgeschlossen war. Die Suhm mußten zur Sühne die Hand des ermordeten Wulf mit 200 Rittern und Knappen und 200 Frauen und Jungfrauen nach St. Nikolai zu Grabe tragen. Mit dem Geschlecht der Wulflam ging es schnell bergab, das Stammhaus wurde schon ein Jahr nach seinem Tode durch den Vormund der Kinder verkauft, sein ältester Sohn aus erster Ehe starb durch Henkershand.
Noch einmal hatte Stralsund einen Bürgermeister wie Bertram Wulflam in der Person des Otto Voge aus alter Patrizierfamilie. Er wußte sich und Stralsund in langen, wechselvollen Kämpfen und Ränken mit den pommerschen Herzögen zu behaupten. Unter ihm wurde der rügensche Landvogt Landarzt Raven Barnekow beschuldigt, er habe die Stadt durch Verrat dem Herzog überliefern wollen, und obwohl er bis zuletzt seine Unschuld behauptete, von Pferden durch die Stadt geschleift und vor dem Tore gerädert.
Es kam die Zeit, wo vielfach veränderte Lebensbedingungen, der Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft, vermehrter Steuerdruck und wachsende Macht der Fürsten sich mit der protestantischen Bewegung verbanden, die in ihren Anfängen als der letzte große Aufschwung des germanischen Freiheitsgedankens anmutet. Die Stralsunder waren niemals sehr kirchlich gewesen, sie waren geborene Protestanten und betrachteten das Wesen und Unwesen der Geistlichkeit mit Unwillen. Mit der Annahme des Evangeliums ist der Name eines Mannes verknüpft, in dem sich mittelalterliche Kraftüberfülle mit der Nachdenklichkeit und dem nach innen gewendeten Blick des modernen Menschen verband. Franz Wessel, später Bürgermeister, begab sich mit zwölf Jahren, nachdem er sich die damals erreichbare Schulbildung angeeignet hatte, auf Reisen; so unbegreiflich schnell reifte die ganz aufs praktische gerichtete Zeit ihre Söhne. Einundzwanzigjährig erlebte er bei Gelegenheit einer Pilgerreise in Spanien die Krönung Philipps des Schönen, des Vaters Karls V. Der Stärke seines religiösen Triebs entsprach die Kraft und Sinnenfreude seines Körpers, den er in verschiedenen schweren Krankheiten, die ihn als Kind befielen, erprobt hatte. Er war Meister in allerlei verblüffenden Künsten: leerte volle Humpen in einem Zuge, zerbiß und verschluckte Glas, sprang aus einer leeren Tonne in eine andere und prunkte damit vor seinen Freunden bei Festen und Gelagen. Dazwischen unternahm er wieder Wallfahrten; aus ähnlichem Stoff gemacht sind manche Heilige, die sich aus leidenschaftlichem Genuß heraus plötzlich mit Leib und Seele dem Göttlichen ergaben. Bei Wessel war der Verlauf maßvoller, so daß der Jugendübermut sich legte und die Pflichten gegen Stadt und Familie seine Fähigkeit und seine Seele ganz in Anspruch nahmen. Mit der neuen Lehre nahm er es sehr ernst, durch das Studium der Bibel überzeugte er sich von ihrer Wahrheit.
Wie fast überall hielten sich die Geschlechter anfangs zurück, um so mehr als die Handwerker ihre alten Forderungen erneuerten. Im Verein mit den Neugläubigen drangen sie in den Rat und setzten es durch, daß ein Ausschuß von 48 Bürgern der Regierung angegliedert wurde, insbesondere zur Überwachung der Finanzen. Die Unzufriedenheit des alten Rats und seiner Anhänger mit der neuen Einrichtung führte beständig zu neuen Unruhen, bis endlich auf dem Markt ein blutiger Zusammenstoß drohte. In diesem gefährlichen Augenblick sprang Ludwig Fischer, ein Freund Wessels, auf eine von den Fischbänken indem er rief: »Wer bei dem Evangelium bleiben will, lebendig oder tot, der komme hierher auf diese Seite.« Entschlossenheit macht Entschlossene; die Mehrzahl erklärte sich für ihn, und der vollständige Sieg des Protestantismus war dadurch gesichert. Auf sozialem Gebiete jedoch gab es wie alle anderen Male eine Reaktion; der unglückliche Krieg Lübecks gegen Dänemark, an dem das Volk von Stralsund die Beteiligung erzwungen hatte, lieferte den Vorwand zur Wiederherstellung des alten Rats.
Franz Wessel empfing als Bürgermeister Herzog Philipp I. von Pommern, als er nach Stralsund kam, um die Huldigung entgegenzunehmen. Das sundische Gefolge trug rote Uniform mit schwarzem Samt verbrämt und die Buchstaben G. W. B. E. – Gottes Wort bleibt ewig – auf den Ärmeln. Die Kosten der Festlichkeit beliefen sich auf 3000 Gulden. Als Wessel als Taufpate des erstgeborenen herzoglichen Kindes den Besuch erwiderte, schenkte er wie ein König. Trotzdem ging es abwärts mit dem Edlen Sunde – so nannte man Stralsund – wie mit der Hanse. Es war ein bedenkliches Zeichen, daß sich Stralsund im Jahre 1563 an dem Kriege gegen Schweden nicht beteiligte, sondern vorzog, sich Vorteile zu verschaffen, indem es den alten Feind heimlich begünstigte. Die inneren Wirren zwischen Rat und Bürgerschaft hörten nicht auf; Herzog Philipp Julius wußte sie zu benutzen. Erbittert auf die reiche Stadt waren die hungrigen Herzöge von jeher gewesen; Philipp Julius spritzte seine Wut in Wort und Tat aus. Er fand einen überlegenen Gegner in dem letzten großen Staatsmann von Stralsund, Lambert Steinwich, einem geborenen Düsseldorfer, der mit etwa dreißig Jahren in den Dienst der Stadt getreten war. Als der Herzog stralsundische Güter überfiel und plünderte, veranlaßte Steinwich eine Klage wegen Landfriedensbruch beim Reichsgericht, die den gewünschten Erfolg hatte. Dadurch aufs äußerste gereizt, verband sich der Herzog mit den unzufriedenen Volksmassen, zog als Schiedsrichter in Stralsund ein, entsetzte den Bürgermeister, mehrere Ratsherren und den Syndikus, nachdem er sie Schelme, des Galgens wert, genannt hatte, ihrer Ämter und unterwarf die Stadt seiner Oberhoheit. Der von ihm eingesetzte neue Rat empfand diese bald als sehr lästig und vermißte Lambert Steinwich. Seinerseits erlaubte der Herzog dessen Wiederanstellung, weil er von ihm eine Besserung der Finanzlage erhoffte; es war ein Verhältnis, das an den Freiherrn von Stein erinnert, dessen Zurückberufung aus ähnlichen Gründen sowohl von seinen Freunden wie von Napoleon, seinem Feinde, betrieben wurde. Kaum wieder im Amte, wurde Steinwich zum Bürgermeister gewählt, gab aber seine Stelle als Syndikus nicht auf und übernahm noch dazu die des Syndikus der Hanse. Seine Arbeitskraft muß seiner Begabung gleich gewesen sein. Bald danach endete Herzog Philipp Julius schmählich; um seine Schulden loszuwerden, war er bereit, die Insel Rügen den Dänen zu verkaufen, als der Tod den Kinderlosen wegraffte. Sein Nachfolger, Bogislav XIV., hatte an Schuld oder Verdienst nur das, der letzte Herzog von Pommern zu sein; von allen Seiten drängten sich die Prätendenten an das Land am Meer, um es womöglich noch bei seinen Lebzeiten zu besetzen, Dänemark, Schweden, Brandenburg, Wallenstein im Namen des Kaisers. Wallenstein, damals Herzog von Mecklenburg und Admiral, meerbeherrschenden Träumen hingegeben, wollte die deutschen Nachbarländer und die skandinavischen in seiner Hand vereinen; im Besitz Stralsunds hätte er sich fast als Erbe der Hanse gefühlt. Die Umsicht und Tapferkeit Steinwichs rettete Stralsund vor der entsetzlichen Verwüstung, die Pommern durch die kaiserlichen Heere erlitt; indem sie Wallenstein widerstand, errang die untergehende Stadt sich die letzte Ruhmeskrone, in der sich alles Licht der Vergangenheit gesammelt hat. Ihre Unabhängigkeit zu bewahren war unmöglich; denn ohne Unterstützung wäre sie dem Wallensteinschen Heer nicht gewachsen gewesen, und der einzige selbstlose Freund, die Hanse, versagte; so wählte sie unter den sich zudrängenden gefährlichen Helfern Gustav Adolf von Schweden. Der großmütige König fiel und Stralsund blieb anderthalb Jahrhunderte schwedisch. Zur Zeit der französischen Fremdherrschaft trank der Edle Sund noch einmal das Blut eines deutschen Helden: Ferdinand von Schill, der sich der Stadt bemächtigt hatte, fiel im Straßenkampfe gegen die zurückkehrenden Franzosen. Lange blieb die Stelle in der Fährstraße, wo er starb, unbezeichnet; da Schill nicht auf Befehl des Königs, sondern aus eigenem Drange den Kampf gewagt hatte, getraute sich das deutsche Volk kaum ihn zu verehren, geschweige denn seiner Verehrung Ausdruck zu geben. Herrliche Denkmale jedoch alter, stolzerer Zeit umgeben den Schauplatz seines Todes: unfern ist das Knieper Tor, breit, klotzig, mit stumpfem Ziegeldach, das Johanniskloster, älter noch als die Stadtmauer, an die es angrenzt, ein Stück Vergangenheit am Wege, jetzt Armenhaus mit kleinen grünüberwachsenen Fachwerkhäusern, dem Kreuzgang und dem stillen Vorhof der schlichten Kirche. Einige Schritte weiter hinunter öffnet sich der blaue Glanz des Meeres; vielleicht vernahm der Sterbende die Stimme des freien Elements, das seine Seele empfing. Auf dem Friedhof St. Jürgen, dessen Name an das alte Kloster St. Jürgen am Strande erinnert, wo die Pestkranken verpflegt wurden, bis die Gebäude zur Zeit der Wallensteinschen Belagerung abgerissen werden mußten, auf diesem Friedhof ist der Rumpf Schills bestattet. Die Aufschrift des Grabsteins hat das lapidare Pathos, das die lateinische Sprache auszudrücken vermag.
Die neue Zeit hat Stralsund viel genommen, es aber nicht so entstellt wie viele andere Städte. In der Hauptsache ist das Stadtbild kaum verändert. Meer und Stürme umbrausen wie einst das Schiff mit den hohen roten Masten, die weithin leuchten, aber nicht wie einst schallt triumphierende Antwort vom Deck her … das Heldenlied ist aus.
Der Nachwelt erzählen es die Türme, Tore, Giebel, zu deren Füßen leidenschaftliche Geschlechter es erlebten.