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Die Bischöfe, die im frühen Mittelalter in den neugegründeten geistlichen Sprengeln des Römischen Reiches deutscher Nation regierten, waren nicht, was ein Bischof von heute ist. Eine Art von Konquistadoren zogen sie aus mit Kreuz und Schwert, um zu bekehren, zu beschützen und zu beherrschen, mehr oder weniger kriegerisch, mehr oder weniger milde und gewissenhaft, immer darauf bedacht, den Umfang ihres Bistums zu erhalten oder zu erweitern und es zu bereichern. War doch auch der Christengott jener Zeit nicht der unsrige, der einen oberlehrerhaften Zug hat: seine Haare loderten im Sturm, und von seinem Dichtermunde gingen unergründliche Zauberworte aus. Er sprach zu seinem Volke: weil du jung bist, habe ich dich lieb! ging ihm voran in die Schlacht, verzieh ihm seine Wildheit, seine Rachsucht, seine Blutschuld und zog es an sein Herz, wenn es reuig zu seinen Füßen lag. Es geschahen Untaten, auch von Geistlichen begangen, denen keine Strafe folgte, und deren Täter keine Missetäter waren. Leben und Tod standen in anderer Schätzung als heute, gingen mehr ineinander über und ebenso Sünde und Heiligkeit; wo Dämonen sind, sind auch Götter.
Einst verlor ein Begleiter Ludwigs des Frommen auf der Jagd ein kostbares Reliquiengefäß des Königs. Im Walde danach suchend, fand er es so in einem Rosenbusch verstrickt, daß es ihm nicht gelang, es loszumachen. Der fromme König gründete an der durch ein Wunder geweihten Stelle eine Kapelle und erhob sie zum Mittelpunkt eines Sprengels, der vorher Elze gewesen war. Die Grenzen des Bistums bildeten die Diözesen von Mainz, Paderborn, Minden, Verden und Halberstadt. Als ihren eigentlichen Gründer jedoch verehrt Hildesheim, Kirche wie Stadt, den dreizehnten Bischof, den heiligen Bernward, einen genialen Mann, der als Verwalter des Bistums, als Kriegsmann, als Künstler, als Gelehrter hervorragte. Er war ein Sachse von edler Geburt und von Vermögen, im Jahre 960 geboren, wurde in der Hildesheimer Domschule unterrichtet und kam an den Hof der kaiserlichen Witwe Theophano als Lehrer und Erzieher Otto III., ihres Sohnes. Ihm verdankte der junge Kaiser seine Gelehrsamkeit, wegen welcher die Zeitgenossen ihn das Wunder der Welt nannten, an ihm hing er mit dankbarer Liebe. Als Bischof von Hildesheim entfaltete Bernward alle seine Kräfte: er bekämpfte die Normannen und Slawen, die damals Sachsen verwüsteten, er verteilte Almosen, gründete Burgen, stiftete Klöster, er umgab den Dom und das angrenzende Gebiet mit Mauern, er erwirkte seinem Reiche Privilegien von den Kaisern, er verwertete seine Kenntnisse in der Medizin, er verschönerte seine Kirche durch Kunstwerke, die er teils aus Italien mitbrachte, teils herstellen ließ, teils selbst verfertigte. Unter den Reliquien, die er bei seinem Aufenthalte in Italien zum Geschenk erhielt, war ein Stückchen Holz vom Kreuze des Erlösers. Um dies unschätzbare Heiligtum an einer würdigen Stätte niederlegen zu können, baute er eine Kirche, die er dem Erzengel Michael weihte, daneben ein Kloster, welches vor seinem Tode unter so ungeheurem Zudrang eingeweiht wurde, daß einer der Gäste, der Bischof von Aldenburg, dabei erdrückt wurde. Die Krypta der Michaelskirche erwählte er sich selbst zur Grabstätte.
Als Zeugen von Bernwards Kunstliebe und Kunstfertigkeit sind übriggeblieben die berühmten Erztüren und die eherne Christussäule im Dom, beide von ihm für die Michaelskirche bestimmt, aber von seinen Nachfolgern in den Dom übertragen. Beide mögen auf römische Vorbilder zurückgehen, die Christussäule sicher auf die Trajanssäule. Mit eigener Hand hat Bernward nur das Kreuz verfertigt, das aus der Michaelskirche in die Magdalenenkirche gekommen ist. Das mit Goldblech überzogene hölzerne Kreuz ist auf der Vorderseite ganz und gar mit Bergkristallen, Edel- und Halbedelsteinen, Perlen und Gemmen besetzt, durch den mittelsten Kristall sieht man das Stückchen vom heiligen Kreuz, das dem Bischof Anlaß zur Gründung der Michaelskirche gab. Auch ein Evangelienbuch des Heiligen ist vorhanden; er war selbst Meister im Schönschreiben und ließ Schüler in dieser Kunst ausbilden, die sich später der Herstellung von Büchern widmen konnten.
Der weltberühmte Radleuchter im Dom soll auf Bernward zurückgehen, wenn er auch von Hezilo vollendet wurde. Von den dreien dieser Art, die es in Deutschland gibt, ist er der größte; der zweitgrößte befindet sich in Komburg bei Schwäbisch-Hall, der kleinste in Aachen. Noch ein anderer, von Bernward für die Michaelskirche gestiftet, ist in der Reformationszeit zugrunde gegangen. Der große, feuervergoldete Kupferreifen stellt das himmlische Jerusalem dar, wie es die Offenbarung Johannis schildert, mit Türmen, Toren und Zinnen, kunstvoll gearbeitet und ehemals mit silbernen Figuren von Engeln, Aposteln und Propheten geschmückt.
Bernwards Nachfolger Godehard war bayrischer Abkunft und wurde im Kloster Niederaltaich unterrichtet. Als er die Legenden von Eremiten und Anachoreten kennenlernte, wirkte das auf ihn wie etwa Robinsons Geschichte auf Knaben unserer Zeit; er verließ mit einem Mitschüler heimlich das Kloster, um sich dem Einsiedlerleben zu widmen. Es wurde den beiden Flüchtlingen nicht schwer, eine abgelegene Gegend aufzufinden, wo sie ihr Wald- und Höhlenleben betrieben, bis die geängstigten Eltern sie auffanden und in das Kloster zurückbrachten. Einen Hang zum mönchischen Leben behielt er, wurde selbst Mönch und hat sich häufig bemüht, strenge Zucht in den Klöstern herzustellen. Heinrich II., der ihn schon als Herzog von Bayern begünstigt hatte, machte ihn zum Bischof von Hildesheim. Als solcher gründete Godehard in seinem Sprengel Kirchen und Klöster in Menge und bereicherte die schon bestehenden; daneben war er klassisch gebildet, las Horaz und Cicero und beschäftigte sich auch mit Malerei. Aus den uns überlieferten Tatsachen schließend einen Blick in dieses Bischofs Seele zu tun, ist nicht leicht. Als er auf den Tod erkrankte und sich zu Bett legen mußte, veranlaßte er einen jungen Diener, der ein tüchtiger Maler war, und der sehr an ihm hing, ein soeben von ihm abgelegtes Kleidungsstück anzuziehen, und weissagte ihm dann, daß er krank werden und sterben werde, was auch geschah, so daß der Jüngling gleichzeitig mit ihm selbst begraben wurde. Liebte Godehard ihn so sehr, daß er im Tode mit ihm vereint sein wollte? Wollte er wie ein heidnischer Häuptling von einem Sklaven ins Jenseits geleitet werden? Wollte er etwa gar über die Übertragbarkeit von Krankheiten experimentieren? Oder schlug er das Leben auf dieser blutigen Erde gering an und begnadete seinen Liebling mit frühem Tode? Die Äbtissin von Gandersheim, die, früher mit ihm im Streit, nun aber ausgesöhnt ihn auf seinem Sterbebette besuchte, entsetzte er durch die Abschiedsworte, sie würden sich am Marienfeste wieder treffen. Sie soll im folgenden Jahre am Tage vor Mariä Reinigung gestorben sein. Vielleicht besaß er wirklich die Gabe, die vom Tode Bezeichneten zu wittern. Dieser sonderbare Heilige wurde eher kanonisiert als Bernward, und seine Verehrung verbreitete sich schnell. Godehard und nicht Bernward ist in das Siegel der Stadt Hildesheim aufgenommen; Bernward indessen soll der Heilige sein, der im Wappen der Goldschmiedezunft mit einem Hämmerlein einen Kelch bearbeitet.
Bischof Hezilo, der die Kunst nicht weniger liebte als seine Vorgänger, stritt bei Gelegenheit einer kirchlichen Feier im Dome von Goslar mit dem Abt von Fulda um das Recht, neben dem Erzbischof von Mainz zu sitzen. In Gegenwart des jungen Königs Heinrich IV. bekämpften sich die Gefolgsleute beider Kirchenfürsten mit den Waffen, und während das Blut floß und Verwundete und Tote fielen, ermahnte Hezilo die Seinen, sich nicht etwa durch die Heiligkeit des Ortes vom Kampfe abschrecken zu lassen, vielmehr den Ablaß zu nützen, den er ihnen kraft seines Amtes erteile. Als Heinrich IV. den Papst Gregor verurteilte und absetzte, unterschrieb Hezilo das Dokument, sicherte sich aber dem Papst gegenüber dadurch, daß er durch Zeichen seine Unterschrift wieder zurücknahm. Heilig gesprochen wurde Hezilo nicht, nur wegen seiner Schlauheit und als Erbauer des Domes hoch gepriesen. Alle diese Vertreter einer Kultur, in der sich erhabener Schwung, nordische Wildheit, römische Gewiegtheit, kirchliche Herrschsucht, kindliche Gläubigkeit, der großherzige Drang eines jungen, zukunftreichen Volkes mischten, haben in Hildesheim bewundernswerte Zeugnisse ihres Daseins hinterlassen. Da ist zunächst der Dom, einst die Mitte der ummauerten Domfreiheit, den die wechselnde Zeit manches Schmuckes beraubte, so leider des eigenartigen stumpfen Turmes der Westfront, der mit den beiden kürzeren Seitentürmen so mächtig und malerisch wirkte. Den Eintretenden, der einen dem Äußeren entsprechenden Innenraum erwartet, erschreckt der leere Pomp des barocken Stucküberzuges, der der alten Basilika im 18. Jahrhundert aufgezwungen wurde; aber die Erztüren des heiligen Bernward schließen das Paradies gegen den Chor ab, die Christussäule und das Taufbecken stehen als ernste Fremdlinge in der theatralischen Umgebung, und im Friedhof rankt an der Apsis die wilde Rose hinauf, deren die Sage gedenkt. In der Außenwand des Chores befindet sich der Grabstein des Presbyters Bruno, auf dem die einfache Geschichte eines frommen Menschen in drei Reliefbildern ergreifend dargestellt ist. Unten bestatten arme Leute dankbar den Leichnam dessen, der ihnen wohlgetan hat; darüber tragen zwei Engel seine Seele zu Christus empor, der sie oben segnend erwartet. Der schöne Vierungsturm, den der geniale Dompropst Benno errichtet hatte, ist nicht mehr vorhanden, aber auch der neue schimmert golden und erinnert an den herrlichen Sieg, den im 14. Jahrhundert Bischof Gerhard über drei kriegsmächtige Herren, Herzog Magnus von Braunschweig, Erzbischof Dietrich von Magdeburg und Bischof Albert von Halberstadt davontrug.
Gerhard, ein edler Herr von Berge, häßlich und unansehnlich, aber fromm und furchtlos, hatte nur seine Dienstmannen und Bauern und die Bürger der Stadt Hildesheim auf seiner Seite, vor allem aber vertraute er auf den Beistand der Patronin von Hildesheim, der Jungfrau Maria. Bevor er auszog, gelobte er ihr ein goldenes Dach für den Fall seines Sieges, sonst müsse sie, sagte er, mit einem Strohdach vorliebnehmen. Überdies steckte er Reliquien in seinen Ärmel und rief seiner kleinen Schar zu, als er sie erschrocken glaubte angesichts der dreifachen Überzahl des Feindes: »Leve Kerel, truret nich, hie hebbe ek dusend Mann in miner Mawen!« Auch der Abt von Sankt Michael kämpfte tapfer, von Kopf bis zu den Füßen gerüstet, das Skapulier auf dem Helm, das lang hinter ihm her flatterte, und der Bischof wies auf ihn als auf ein Beispiel: »Je Männer, wat staet je da so, seiht mal, wy de Mönik dort fechtet.« Der Sieg der Bürger und Bauern über die Ritter war vollständig: auf seiten der Verbündeten fielen Waldemar von Anhalt, Graf Volrad von Querfurt, Johann von Hadmersleben, Johann von Saldern, Heinrich von Grybe und andere, und gefangen wurden unter anderen zwei der Häupter: der Bischof von Halberstadt und der Herzog von Braunschweig, dazu Meinhard von Schierstedt, Nikolaus von Bismarck, zwei von Wantzleben, zwei von Alvensleben, Busso von Asseburg, der Graf von Wernigerode. Seines Gelübdes eingedenk, ließ der Bischof, weil es die Jungfrau so wohl um ihn verdient hatte, das Dach des östlichen Domturmes vergolden, dankbar noch eine kleine Glocke hinzufügend, die er Maria nannte.
Von der Michaelskirche stürzte ein Teil im 17. Jahrhundert ein und ist erst in neuer Zeit wieder errichtet worden, trotz dieser Schädigung hat die Kirche ihren ursprünglichen Charakter besser bewahrt als der Dom. Der alte Teil des Innenraumes macht sich sofort als heiliger Bezirk geltend. Die Säulen und Pfeiler tragen die unvergleichliche gemalte Decke wie erhabene Gedanken ehrfürchtig das unlösbare Mysterium des Himmels; fühlbar weht ein Göttliches aus dem Zusammenklang der Bauglieder. Ein überaus reizendes Gebilde ist die nördliche Schranke des Westchors, bestehend aus drei übereinanderliegenden Säulengalerien, von denen die unterste und kleinste mit einer Reihe von Engelsfiguren auf den Rundbögen verziert ist. Es ist eine Arbeit in Stuck, in der Art, wie sich eine in der Liebfrauenkirche von Halberstadt findet. Die ausgestreckten Flügel der lieblich bewegten Engel berühren sich fast mit den Spitzen, so daß die zarten Gestalten zu einem einzigen Akkord fröhlicher Anbetung gesellt werden. Der Schwung der überirdischen Wesen scheint die zierlichen Arkaden mir der Kraft zu durchströmen, deren sie bedürfen, um die doppelte und höhere Säulenstellung zu tragen, mit der sie sonst überlastet wären. Die Krypta, mit dem Kreuzgang den Katholiken zugeteilt, während die Kirche evangelisch ist, birgt den Sarkophag Bernwards, den er selbst gearbeitet haben soll. Er ist aus Sandstein und reich mit symbolischen Darstellungen geschmückt; den Deckel umrandet in lateinischer Sprache das Bibelwort: »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt, und daß ich am jüngsten Tage aus der Erde auferstehen werde.«
Sehr reich im Umriß ist die Godehardskirche im Süden der Stadt mit drei Türmen und zwei Chören und der Fortsetzung der Seitenschiffe um die östliche Apsis herum, welchem Umgang noch einmal drei kleine Apsiden angegliedert sind. Von den drei großen romanischen Kirchen ist der Dom mit seinen gotischen Ansätzen die malerischste, die Michaelskirche die gewaltigste, die Godehardskirche die reifste und reichste. Allen dreien hat Unverstand und Ungeschmack der Zeit viel geraubt; die beiden letztgenannten wären ohne Bedenken niedergelegt worden, wenn nicht ein einziger Mann, Senator Dr. Hermann Roemer, aus Liebe zu seiner Vaterstadt und ihren Altertümern sich für ihre Erhaltung eingesetzt hatte.
Die Stadt, in deren Schoß diese ehrwürdigen Gebäude gebettet sind, hat einen ganz anderen Charakter. Neben und unterhalb der Domfreiheit und ihrem in römisch-kirchlichen, wenn auch oft durchbrochenen Formen sich abspielenden Leben erwuchs in der Stille das deutsche Volk. Hier erinnert nichts mehr an Italien und Rom. Die Vorliebe für die vertikale Linie führt die Mauern, Pfosten, Tore und Fenster höher und höher, das Unendliche stürmend, während die romanische Kirche das geformte Symbol an die Erde bindet. Schon daß des Volkes liebstes Material das Holz war, bedingt einen tiefgreifenden Unterschied: lebendiges, wohlriechendes, braunes Holz, in dem die schweifende germanische Phantasie sich mit dem Schnitzmesser ergehen konnte. Das in seiner Regellosigkeit anziehende Rathaus ist zum Teil Steinbau, und grade die Vermischung macht es reizvoll. Der älteste Teil war ursprünglich ein Turm der alten Stadtbefestigung, Lilie genannt, der wichtige Mittelbau stammt aus dem Ende des 16. Jahrhunderts und am Ende des 19. fand ein schonender Umbau statt. Scheinbar ist das Rathaus Mittelpunkt des Marktes, aber beherrschen tut ihn das herrliche Knochenhauer-Amthaus. In acht Stockwerken, von denen fünf vorkragen und zwei im beschieferten höchsten Giebelfelde verborgen sind, türmt sich der Bau auf, dicht ineinanderverschränkt, ernst und sicher wie eine Fuge. Die ganze gegliederte Schauseite ist ein einziger Bilderbogen, angefüllt mit dem kurzweiligen Figurenspiel, das den Sinn des späten Mittelalters erfüllte. Da sieht man Palmetten, Fächer und Laubgewinde, musizierende und schwerttragende Engel, Nymphen und Drachen und wunderlich glotzende Masken, eine ergötzliche und entzückende Bilderwelt; über dem monumentalen Rundbogentore im Erdgeschoß steht: Anno dei vyffhundert twintigh unde negen. Schräg gegenüber dem Amthause steht das Tempelhaus, neben der Choralei, einem eindrucksvollen romanischen Gebäude, der einzige Steinbau Hildesheims. Es hat seinen Namen davon, daß es auf dem Platz des jüdischen Tempels erbaut worden ist. Die Juden, die im allgemeinen Kammerknechte des Kaisers waren, gehörten in Hildesheim dem Bischof, der im Jahre 1426, um sich Geld zu verschaffen »de ganze samening der joden to Hildensen«, das heißt den Judenschutz, an eine Bürgerin namens Remenschneider verpfändete, von der ihn der Rat erwarb. Man weiß nicht warum, aber im Jahre 1457 zog die gesamte Judenschaft plötzlich aus Hildesheim ab, worauf die Ratsfamilie von Harlessem an der Stelle der abgerissenen Synagoge das sogenannte Tempelhaus errichtete. Seine ritterliche Art ist unwiederholt in der bürgerlichen Stadt Hildesheim. Das sechs Stockwerke hohe Haus hat einen rechtwinkligen Giebel, den vier in Lilien auslaufende Fialen krönen, und dessen Schwere durch zierliche Ecktürme und Fensterpaare aufgehoben wird. Trotz ihrer Schönheit zerstückeln diese beiden und das dreigiebelige Wedekindhaus den Platz nicht, da sich die anderen, bescheideneren Häuser würdig anschließen. Den von ebenso vorzüglichen und interessanten Bauten begrenzten Platz um die Andreaskirche, die gotische Pfarrkirche der Altstadt, haben ein paar Neubauten häßlich zugerichtet.
Es gibt dreihundert alte Fachwerkhäuser in Hildesheim; wenig deutsche Städte haben aus Feuersbrünsten und französischer und moderner Zerstörungswut einen so großen Teil ihres überlieferten Reichtums gerettet. Wie gemütlich, treuherzig, ehrlich, malerisch wirken diese Häuser! Eine überschwängliche Phantasie hat sie spielend geschaffen, von denen keines dem anderen gleicht, und von denen jedes durch irgendeinen Einfall besonders charakterisiert ist. Der umgestülpte Fingerhut, dessen Stockwerke auf allen Seiten vorkragen, steht wie ein Pilz auf einem Fuße da, das Altdeutsche Haus in der Osterstraße fällt durch zwei ineinandergreifende Giebel auf, das Rolandshospital durch einen über vier Stockwerke gebauten Erker, ein anderes ist auf Pfeiler gestützt. Mütterlich wollen diese Häuser nicht nur beherbergen und beschützen und wärmen, sondern auch erzählen und belehren. Sie führen uns Vorgänge aus dem Alten und Neuen Testament vor, die Elemente, die Jahreszeiten, kämpfende Tiere, die fünf Sinne, die Musen mit Harfe, Geige und Flöte; auch den sogenannten neun guten Helden begegnen wir, nämlich Hektor, Alexander und Caesar als drei heidnischen, David, Gideon und Judas Makkabäus als drei biblischen, Artus, Karl dem Großen und Gottfried von Bouillon als drei christlichen. Dazwischen hin ziehen sich mannigfaltig anmutige Ornamente, die Namen der Erbauer, des Mannes und der Frau, und Sprüche der Lebensweisheit: es ist keine Stelle, der nicht menschlicher Atem Seele eingeblasen hätte. Die neuerdings wieder eingeführte Bemalung der Häuser hebt die Konstruktion glücklich hervor und vergegenwärtigt die Lust des mittelalterlichen Menschen am Schauen und sein Gefühl für die Magie der Farbe.
Zum ersten Male erscheint die Stadt Hildesheim in der Geschichte, als die Kämpfe für und gegen Heinrich IV. in Sachsen wüteten. Es gelang damals dem Grafen Ekbert von Thüringen, der Hildesheim belagerte, sich des Bischofs zu bemächtigen und ihm das Versprechen abzudingen, er wolle die Stadt übergeben. Obwohl er Geiseln aus der Bürgerschaft stellen mußte, ging die Stadt doch nicht über, auch dann nicht, als der Markgraf die Geiseln im Angesicht der Stadt enthaupten ließ; sie harrte aus, bis der Kaiser sie entsetzte. Diese Standhaftigkeit haben die Bürger Hildesheims bei manchen Anlässen gezeigt bis zur Hartnäckigkeit, zum Starrsinn, zur Größe. Durchaus nicht immer standen sie auf seiten der Bischöfe, mit denen vielmehr sie in ihrem Trachten nach Selbständigkeit oft feindlich zusammenstießen; aber sie leisteten ihm auch Hilfe in der Not. Die Lage des Bischofs wurde dadurch erschwert, daß die Domherren sich unter einem Propst mehr und mehr zu einer Korporation zusammenschlossen, die ihre eigenen, oft dem Bischof entgegengesetzten Interessen verfolgte. So bildeten sich für jede Kraft Gegenkräfte aus, die dafür sorgten, daß nirgends durch allzu großes Übergewicht einer einzigen Erstarren, Erlahmen oder Ersticken eintrat.
Der berühmteste unter den Hildesheimer Dompröpsten war Rainald, Graf von Dassel, der spätere Erzbischof von Köln und Reichserzkanzler, zart und blond von Erscheinung, heiter und geistvoll. Der Mann, der groß als Staatsmann und Feldherr war, schenkte seine Gunst einem liederlichen Dichter, dessen lateinische, wundervoll melodische Verse noch heute entzücken. Wie schön, daß der mächtige Kirchenfürst ein vagabundierendes Genie zu würdigen wußte und neben sich litt, ohne daß es seiner Würde Abbruch getan hätte. Die Freiheit, die nur der Renaissance zugeschrieben wird, war auch dem Mittelalter eigentümlich.
»Bei dem allmächtigen Gott, man hört nie etwas Schlechtes von Hildesheim,« rief einst ein Bürgermeister von Magdeburg in einer Sitzung aus, als grade der Bericht von einer Hildesheimer Waffentat eintraf. Es waren wirklich brave Leute, die Hildesheimer, bedächtig ratend, kräftig und ausdauernd in der Tat, und auch eine gewisse ruhige Gutmütigkeit zeichnete sie aus, die die Ausbrüche der Roheit ein wenig mäßigte. Einmal begingen sie allerdings eine Greueltat. Neben der Altstadt hatten sich am Ende des 12. Jahrhunderts gewerbstüchtige Flamländer angesiedelt und unter der Hoheit des Bischofs die Dammstadt begründet, deren Flor den Neid der Hildesheimer erregte. In der Weihnachtszeit des Jahres 1332, während die meisten Dammstädter feierlich gestimmt in der Kirche beteten, drangen die Hildesheimer in den Nachbarort ein, erschlugen Priester, Laien, Mann, Weib und Kind und brannten die blühende Stadt zu Schutt und Asche. Ihre inneren Kämpfe jedoch verliefen gemütlicher als anderswo und wurden dadurch weniger verhängnisvoll für die äußere Politik. Anfänglich war das Regiment bei der Gesamtheit der Bürger, allmählich aber sonderte sich ein von den Geschlechtern besetzter Rat aus, und es fanden zuweilen aufrührerische Bewegungen von seiten der Handwerker statt, die namentlich eine Kontrolle der Finanzen verlangten. Waren die Wünsche befriedigt worden, so wiederholten sich die Unruhen doch, sei es, daß die erlangten Vergünstigungen nicht innegehalten wurden, sei es, daß die zugelassenen Handwerker, sowie sie ratsfähig waren, sich in Patrizier verwandelten, und die Interessen der Handwerker wieder unvertreten blieben. Nach langem Experimentieren wurde eine Verfassung herausgearbeitet, die ein ziemliches Gleichgewicht herstellte, und die sich bis zum Übergang der Stadt an Preußen erhielt. Man unterschied in Hildesheim drei Arten handwerklicher Verbindungen: Ämter, Zünfte und Gilden. Der Ämter gab es vier: Gerber, Schuster, Knochenhauer und Bäcker, und diese hatten am meisten Ansehen und Einfluß.
Ihre ersten Schritte zur Selbständigkeit tat die bischöfliche Stadt unvermerkt: eines Tages steht sie da mit einem Rat, mit weitgehender Selbstverwaltung, mit allerhand Rechten. Zwar wurde das bischöfliche Gericht als höchstes anerkannt, »dar he mit sinem vanenlene von deme hilgen Romeschen rike to lene hefft«; aber das Urteil, das die städtischen Schöffen fanden, konnte der bischöfliche Vogt nicht beeinflussen.
Schon im Jahre 1281 versprach der Bischof, die Rechte der Stadt zu schützen und sich bei entstehenden Streitigkeiten einem Schiedsspruch von zwölf Ratsmannen zu unterwerfen. Je reicher die Stadt und je ärmer der Bischof wurde, desto mehr Privilegien erwirkte sie, desto bereitwilliger drückte er bei ihren Übergriffen ein Auge zu. Es kam vor, daß die Stadt als Patron den Bischof vertrat und sich beim Papst für ihn verwendete. Als nach dem Sturze der Hohenstaufen der Reichsschutz so gut wie ganz aufhörte, suchten die Städte überall sich selbst zu schützen, indem sie sich verbündeten. Zuerst verbündete sich Hildesheim mit Braunschweig und Goslar, und nicht unwürdig stand Hildesheim, obwohl nur eine bischöfliche Landstadt, zwischen der mächtigen Hansestadt und der freiheitgewohnten Reichsstadt. Auch Hildesheim trat der Hanse bei und bekundete schon dadurch und durch ihre anderen Bündnisse weitgehende Unabhängigkeit, die allgemein anerkannt wurde. Wenn Kaiser Friedrich III. um die Mitte des 15. Jahrhunderts die Stadt zur Beschickung eines Reichstages aufforderte, so mochte sie von dem Gefühl gehoben werden, als sei sie dem höchsten Ziel, der Reichsunmittelbarkeit, nah. Die kaiserliche Forderung eilender Hilfe gegen den Herzog von Burgund wurde begründet »bei der Pflicht, damit ihr Uns und dem heiligen Reiche verbunden seid und bei Verlust aller Lehen, Gnaden, Freiheiten, Privilegien und Gerechtigkeiten, so ihr von Uns und dem heiligen Reiche habt«. Es schien nur noch eines glücklichen Augenblicks und eines kühnen Zugreifens zu bedürfen, daß der tiefhängende Kranz ergriffen werden könnte.
Mehrmals hatten die befreundeten Städte Gelegenheit, sich Hilfe in höchster Not zu leisten. Bischof Barthold von Verden, ein Mann streitbarer Natur, wollte das verkümmerte Bistum wieder hochbringen und legte deshalb eine Steuer auf das Hildesheimer Bier, woraus, da der Rat sich das nicht gefallen lassen wollte, ein Krieg, die sogenannte Bierfehde, entstand. Nachdem die Stadt dem Bischof, der ihr die Straßen sperrte, »Huld und Eid« abgesagt hatte, schritt er mit überlegener Macht zur Belagerung. Bald gingen die Nahrungsmittel aus und die Bürgerschaft sah sich trotz ihres Mutes verloren: da erblickte man von Braunschweig her einen unabsehbar langen Zug von Wagen, die Lebensmittel und Waffen herbeiführten. Ein Hilfsheer erstritt den Eintritt in die Stadt, für die dieser Augenblick einen glücklichen Wendepunkt bedeutete; beim Friedensschluß war von der Biersteuer nicht mehr die Rede.
Ein paar Jahre später hatte Hildesheim Gelegenheit, der Stadt Braunschweig, der die Welfenherzöge nachstellten, den gleichen Dienst zu erwidern. Zufuhr von Lebensmitteln und Entsatz wurde notwendig, außer Hildesheim schickten auch Hannover, Göttingen und Einbeck Hilfstruppen; die Hildesheimer führte ihr Bürgermeister Henning Brandis. Mit den Braunschweigern zusammen, die den Freunden entgegenkamen, verfügten die Städte über 7000 Mann. Das welfische Heer hielt trotz seiner Überzahl der städtischen Artillerie nicht stand, und nach erfochtenem Siege konnten die Wagen mit der kostbaren Ladung in die belagerte Stadt geführt werden. Auch mit Geld unterstützten die Bundesgenossen Braunschweig, indem sie den mit den Welfenherzögen verbündeten Erzbischof von Magdeburg dahin brachten, auf ihre Seite überzugehen und sogar Braunschweig zu speisen.
Während die Stadt Hildesheim aufstieg, Freiheit und Ruhm gewann, ging es mit dem Bistum abwärts. Die Domherren, die des Bischofs Stütze hätten sein sollen, bildeten sich zu einer Adelskorporation aus, die ihm oft feindlich entgegentrat. Die Schenkungen, die in den ersten Jahrhunderten das Bistum bereichert hatten, so daß ein ansehnliches Gebiet entstanden war, hörten allmählich ganz auf; anstatt dessen verpfändeten die Bischöfe ihre Besitzungen, um nur Geld zu bekommen. Dieser Umstand veranlaßte im 16. Jahrhundert die sogenannte Stiftsfehde, welche den endgültigen Sturz der bischöflichen Macht herbeiführte.
Bischof Johann von Sachsen-Lauenburg dachte das Bistum dadurch zu heben, daß er die Güter, die er dem Stiftischen Adel, den Saldern, Cramme, Oberg, Steinberg, Schwickeldt, verpfändet hatte, wieder einlöste, was die Inhaber, die sich bereits als Besitzer fühlten, sich nicht gefallen lassen wollten. Die welfischen Herzöge, denen ein Wiedererstarken des Bistums unlieb gewesen wäre, unterstützten die adligen Pfandinhaber, und so stellte sich die Stadt Hildesheim natürlicherweise auf die Seite des Bischofs; seit Heinrich dem Löwen hatten die Welfenfürsten danach getrachtet, sowohl das reiche Bistum zu zertrümmern, wie später die reiche Stadt sich zu unterwerfen. Auf der Soltauer Heide brachten der Bischof und seine Verbündeten dem Feinde eine furchtbare Niederlage bei: zwei Herzöge von Braunschweig, 130 Adlige wurden gefangen, 3500 Mann waren getötet und gewaltige Beute, auch an Artillerie, fiel in die Hände der Sieger. Als der Bischof mit seinen Verbündeten durch das Ostertor in Hildesheim einzog, um dem Tedeum in der Kirche beizuwohnen, auch er in voller Rüstung wie die weltlichen Fürsten, konnte er hoffen, seine Gegner gänzlich vernichtet zu haben.
Nun zeigte sich aber, wie wunderbar alle Kräfte ineinander verflochten sind, und daß auch die glänzendsten Siege und die erfolgreichsten Anstrengungen nicht immer die Kriege entscheiden; denn maßgebend wurde die Wahl Karls V. zum Kaiser, der befreundet mit Heinrich dem Jüngeren von Braunschweig-Wolfenbüttel war, dem Gegner des Bischofs von Hildesheim, der auf der Soltauer Heide besiegt worden war. Der Kaiser befahl dem Bischof, die Gefangenen ihm auszuliefern und die Entscheidung seiner Angelegenheit in seine, des Kaisers Hand zu legen, und da Johann sich weigerte, tat er ihn und seinen Anhang in des Reiches Acht und Aberacht. Trotz der unerschütterten Anhänglichkeit und Tapferkeit der Hildesheimer Bürger konnte der Bischof der Menge der Achtsvollstrecker, die nun, durch kaiserlichen Befehl gestärkt, mit verdoppeltem Nachdruck über ihn herfielen, auf die Dauer nicht widerstehen und mußte die Friedensbedingungen annehmen, die das Stift dreier Viertel seines Gebietes beraubten. Als einzige Genugtuung mochte der Bischof es gelten lassen, daß auch die Stiftsjunker um den Erfolg betrogen wurden; denn sie verloren ihre Pfandgüter entschädigungslos an die Welfen.
Die Stadt Hildesheim hatte ihren alten Ruhm nicht eingebüßt; ausgezeichnet hatte sich vor allem Hans Wildefüer als unbesiegbarer Verteidiger zweier gefährdeter Vesten. Er ergriff nunmehr als Bürgermeister die Zügel des Gemeinwesens und suchte die Schäden des unglücklichen Krieges auszugleichen. Dem herabgekommenen Klerus stand er als Herr gegenüber, als wäre er an die Stelle des Bischofs getreten, und forderte, daß er sich an den Lasten der Stadt ebenso wie die Bürger beteilige. Ein Kloster nach dem andern, selbst Sankt Michael und Sankt Godehard, bequemte sich zu zahlen; die einstige bischöfliche Macht war auf die Stadt übergegangen. In der Hoffnung, eine Durchsicht und Verbesserung des beschwerlichen Friedens zu erlangen, reiste Wildefüer nach Spanien und dann nach Augsburg, um persönlich beim Kaiser vorstellig zu werden, der an dem mannhaften Bürgermeister, wie es scheint, Wohlgefallen hatte und ihn und die Stadt, die er vertrat, mit Ehren überhäufte. Er verbesserte das städtische Wappen, indem er ihm einen halben Adler und ein Jungfraubild hinzufügte; man nimmt an, daß damit die Frau Veye gemeint sei, eine sagenhafte Figur, in deren Namen seit alters Festspiele in Hildesheim gefeiert wurden, und die auch einen Giebel des Rathauses krönt. Spielte der halbe Adler auf die Reichsunmittelbarkeit an, so schien die kaiserliche Anrede »Unser und des Reichs liebe Getreue« vollends das Ziel nahezurücken. In Innsbruck erteilte Karl V. dem Bürgermeister Wildefüer den Ritterschlag, auf dem Reichstage zu Augsburg 1530 bestätigte er das vom Kaiser Sigismund erteilte Privileg de non evocondo sowie überhaupt alle der Stadt Hildesheim Rechte, Freiheiten und alte löbliche Gewohnheiten. Tatsächliche Erleichterungen wurden jedoch nicht erreicht, da der Kaiser die Anhänglichkeit der Welfen, namentlich Herzog Heinrichs des Jüngeren, nicht aufs Spiel setzen wollte.
Infolge der schlechten Finanzlage wurde die Unzufriedenheit in den unteren Schichten, auf die sie hauptsächlich drückte, immer größer; sie vermischte sich mit den reformatorischen Neigungen, die seit dem Auftreten Luthers auch in Hildesheim eingedrungen waren.
Wildefüer mit dem Rat trat der neuen Lehre fest entgegen; es war in seinen Augen eine jener grundlosen Auftreibereien, mit denen gärende Köpfe Unruhe und Unfrieden säen, züngelnde Flämmchen, die frech um sich greifen, wenn man sie nicht sofort mit den Füßen austritt. Es wurde denn auch verboten, von dem »Martinischen Handel zu singen und zu sagen« und zu besserem Nachdruck Geistlichen der Tod durch Ersäufen, Laien der Tod durch Verbrennen angedroht. Wildefüer, dessen Herrschersinn jede von unten heraufdrängende Neuerung haßte, hielt am alten Glauben fest, eben weil es der alte war; das hinderte ihn nicht, den Klerus widerrechtlich zu besteuern mit der Begründung, daß er zur Zeit seiner Befreiung von allen Lasten »wenig und arm« gewesen, nun aber weltlicher sei als die Laien. Wie viele katholische Fürsten war er dem Klerus gegenüber Protestant; aber dem Volk gegenüber blieb er katholisch, überzeugt, daß eigenmächtiges Denken, abgesehen davon, daß er es für überflüssig hielt, auch zu eigenmächtigem Handeln führe. Die Stellung, die er dem Luthertum gegenüber einnahm, führte ihn zur Befreundung mit dem erzkatholischen Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, dem bittersten Feinde von Bischof und Stadt Hildesheim in der Stiftsfehde. Der Wunsch, sich die Freundschaft des Kaisers zu erhalten, war dabei wohl für beide maßgebend.
Auf unsichtbaren Flügeln jedoch, ungreifbar dem Büttel, flog der neue Glaube über die Grenze und nistete sich in die Herzen des Volkes ein; es waren die evangelischen Lieder und Gesänge, die auf einmal in aller Munde und nicht mehr auszutilgen waren. Wildefüer erließ neue Verbote; aber Luthers Lieder verstummten nicht und ertönten eines Tages sogar mitten im Dom. Als in Goslar und Braunschweig Umwälzungen erfolgten, die der Reformation zum Siege verhalfen, wurden auch die Freunde des Evangeliums in Hildesheim kühner; Wildefüer drohte nicht mehr mit Ersäufen und Verbrennen, sondern mit Geldbuße. Landgraf Philipps von Hessen höfliche Bitte, einen Prädikanten schicken zu dürfen, lehnte man nicht ab; er wurde allerdings ausgewiesen, als sein Versuch in St. Andreas zu predigen einen Tumult veranlaßte. Andererseits gelang es nicht, Wildefüer bei einer Untersuchung der Finanzwirtschaft des Rats einen Makel anzuhängen: er blieb unangetastet an der Spitze der neu zusammengesetzten Regierung und erließ abermals Verbote gegen die deutschen Psalmen. Nicht weniger standhaft als er trotzte das Volk fort mit Singen und Sagen. Inzwischen schwoll die große Revolution an, die benachbarten Staaten drängten, selbst Heinz von Wolfenbüttel, Hildesheims Verbündeter, wurde durch das schmalkaldische Heer, das Philipp von Hessen anführte, besiegt und vertrieben; aber Bürgermeister und Rat von Hildesheim blieben unerschütterlich. Frauen waren es, die den Entschluß faßten, zu dem die Männer sich nicht aufraffen konnten: eine Anzahl, unter denen die Ehefrau des Ewert Platen genannt wird, begaben sich in Philipps Lager vor Wolfenbüttel und baten ihn, das Evangelium nach Hildesheim zu bringen. Der Landgraf erwiderte vornehm, es liege ihm fern, die Wittenbergische Lehre aufdringen zu wollen; wenn es den Hildesheimern mit ihrem Wunsche ernst sei, möchten sie Männer zu ihm schicken. Das gab den Anlaß, daß schmalkaldische Abgeordnete zu einer Besprechung in Hildesheim erschienen.
Damals war Wildefüer schon ein halbes Jahr tot. Solange er lebte, blieb er Herr von Hildesheim und sicherte trotz aller Unzufriedenheit, die unten wühlte, die äußere Ruhe. Nur in der allerletzten Zeit wurde man an dem Bündnis mit Herzog Heinrich irre, das er geschlossen hatte. Vielleicht erbitterte ihn der Widerstand, den er im Rate fand, vielleicht auch fühlte er das unabwendbare Näherschreiten einer neuen Zeit: nach einem Wortwechsel kam er krank nach Hause und starb ein halbes Jahr später. Der Tod des alten Ritters war dem Einsturz von Mauern vergleichbar, über deren Trümmer eine bisher ferngehaltene Macht hereinbricht.
So wirklich war die Reformation in ihrer Grundidee eine Erneuerung des Urchristentums, daß hier wie in fast allen anderen Städten die Schwächeren im Volk, die Armen, die Frauen ihre Träger waren. Die der Liebe und des Mitleids bedürfen, verstehen das Wort der Liebe und geben Liebe; die die Welt nicht genießen können, erkennen den Himmel. Mit der Liebe aber und allen tiefsten aus ihr quellenden Regungen ist die Musik verwandt, darum entfaltete sich das Wort Gottes zugleich mit der Musik. Erwuchs sie doch aus dem Schoße des Protestantismus als die größte Offenbarung des deutschen Geistes, die die Welt durchdrang.
Die Höhe des Mittelalters war durch die städtische Kultur charakterisiert. Ihre materielle Grundlage war der Reichtum, den Kaufleute und Handwerker erarbeitet hatten; aber der Reichtum wurde auch die Ursache ihres Sturzes, nicht nur deshalb, weil Reichtum die Körper verweichlicht und die Seelen verhärtet, sondern auch des Neides wegen, den er erregt. Wie die Städte selbst die Juden als ihre Gläubiger verbrannten, so ähnlich trachtete der hohe und niedere Adel nach den Schätzen der Städte. Der Dreißigjährige Krieg war ein großer Raub- und Beutezug, der die einst so stolzen, mächtigen Städtestaaten ausgesogen, verschuldet, entkräftet zurückließ. Außerordentlich groß muß ihr Reichtum gewesen sein, das kann man aus den Summen schließen, die Feind und Freund ihnen auspreßten, und deren Verlust einige doch überstanden.
Beim Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges war die Bürgerschaft nicht mehr so kriegstüchtig wie einst; so war es gleichzeitig in allen Städten, vielleicht eine Folge des wachsenden Wohlstandes, vielleicht nur des Alterns. Die Notwendigkeit führte zwar dazu, daß die Regierung die alten Verordnungen zum Zweck der Bewachung und Verteidigung neu einschärfte; aber das konnte dem Volke die ehemalige Kampflust und Rüstigkeit nicht wiedergeben. Das entsetzliche Schicksal Magdeburgs lähmte, anstatt den Trotz zu verstärken; die Stadt ergab sich Pappenheim unter der Bedingung, daß gegen Zahlung von 150 000 Talern Religion und Privilegien nicht angetastet würden. Der ebenso fromme wie grausame Pappenheim begab sich sofort in die Michaelskirche, nicht ohne sich hernach zu entschuldigen, weil sie den Protestanten vorbehalten war. Sein Schicksal rief ihn bald darauf nach Thüringen in die Schlacht, wo er fiel. Die folgenden Kommandeure hielten sich nicht mehr an den Vertrag: die Bürger mußten Gold, Silber und Waffen abliefern, dem Bischof wurde ein Gebiet nach dem anderen abgetreten, eine Kirche, ein Kloster nach dem anderen eingeräumt. Durch unmenschliche Quälereien sollten die Bürger zum Katholizismus gezwungen werden; aber nur vier erlagen: zwei kleine Handwerker, ein angesehener Bürger und ein Ratsmitglied. Es wurde so gehaust, daß im Rat vorgeschlagen wurde, sie möchten sich allesamt das Leben nehmen, und daß die Bürger einmal, als bei Todesstrafe verboten wurde, sich auf der Straße zu versammeln, alle auf die Straße gingen und baten, man möge das Urteil vollstrecken und sie zusammenhauen. In allen Leiden blieb die Stadt so unbeugsam evangelisch wie früher katholisch.
Herzog Georg von Lüneburg, der endlich als Befreier einrückte, brachte zwar die Religionsfreiheit, betrachtete aber übrigens die Stadt als ihm untertänig und berücksichtigte nicht einmal die Privilegien, die selbst die Bischöfe respektiert hatten. Im Jahre 1640 fand in der Domschenke das berüchtigte Gastmahl statt, von dessen Teilnehmern mehrere kurz darauf starben: Herzog Georg von Lüneburg, Feldmarschall Banér, Prinz Christian von Hessen, der französische Marschall Guébriant, Graf Otto von Schaumburg, so daß das Gerücht entstand, ein katholischer Geistlicher habe ihnen Gift in den Wein gemischt. Beim Westfälischen Frieden traten zwei Bewerber um Stift und Stadt Hildesheim auf, neben dem alten Feinde, dem welfischen Hannover, jetzt auch Preußen; aber der Bürgermeister Dr. Mellinger, der sich auf eigene Kosten in Osnabrück aufhielt, erkämpfte mit diplomatischem Geschick und imponierender Festigkeit seiner Stadt die Unabhängigkeit, die sie sowie das Stift noch 150 Jahre erhalten konnten. Wenn Leben Wachsen und Schaffen ist, so war diese Frist kein Leben mehr. Wie sehr die Stadt herabgekommen war, die man als reich und mächtig beneidet hatte, und die so unerschrocken für ihre Selbständigkeit gekämpft hatte, beweist der Umstand, daß, als die Schweden vorschlugen, es solle Hildesheim mit Erfurt und Osnabrück die Reichsstandschaft verliehen werden, sie selbst die Ehre abgelehnt haben soll, weil sie sich den Anforderungen, die das mit sich bringen würde, nicht gewachsen fühle.
Wer durch die Hildesheimer Straßen wandert, dem fällt es auf, daß von 1630 an bis zum Ende des Jahrhunderts nicht gebaut wurde, und daß die wenigen im Barock errichteten Häuser ärmlich sind. Die große Zeit war mit dem Dreißigjährigen Kriege vorüber. Die Häßlichkeit der Neuzeit beschränkt sich glücklicherweise hauptsächlich auf die Bahnhofsgegend, wenn auch das moderne Leben, dessen äußere Bewegung zunimmt im Maße, wie es an innerer verliert, auch aus dem Kern der Stadt nicht ganz ausgeschaltet werden kann. Es schraubt und rasselt schnöde durch die altertümlich gekrümmten Straßen und vorüber an den alten Kirchen, die abseits auf den Kirchhöfen liegen, Grabmäler über toten Göttern.