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Stadtwappen

Hameln

Wer kennt nicht die geheimnisvolle, traurige Sage vom Rattenfänger von Hameln? Der im buntscheckigen Kleide eines Tages vor dem hohen Rate der Stadt erschien und sich erbot, gegen einen ziemlichen Lohn die Mäuse, die zur Landplage geworden waren, zu entfernen; der von Haus zu Haus durch alle Straßen ging und auf einer Pfeife spielte, worauf aus Kellern, Türen und Fenstern das Mäusevolk gelaufen kam und folgte aus dem Tor hinaus und in den Fluß hinein, der es verschlang. Wie dann die tückischen Ratsherren ihn um den ausbedungenen Lohn betrogen, und wie er an einem fröhlichen Sonntag vormittag, als alle Erwachsenen in der Kirche waren, wiedererschien und mit seiner Flöte nicht Ratten und Mäuse, sondern diesmal die Kinder bezauberte, große und kleine, daß sie ihm nach zum Ostertor hinaus die Stadt verließen und im Koppenberg verschwanden. Nie sahen die verzweifelten Eltern sie wieder; aber nach langer Zeit tauchten in Siebenbürgen fremdsprechende Kinder auf, die dortblieben und von denen die Deutschen in Siebenbürgen abstammen; das wären, meint man, die verführten Kinder von Hameln gewesen.

Im siebzehnten Jahrhundert gab es am Koppen, dort, wo die Kinder im Berge verschwunden sein sollen, noch zwei steinerne Kreuze, stark verwittert, an denen nichts mehr als ein paar eingegrabene Rosen zu sehen waren, und von denen man annahm, daß sie zum Gedächtnis der Kinder errichtet worden wären. Schon damals kamen zuweilen Reisende und schlugen sich als Erinnerungszeichen an die wunderbare Begebenheit Stücke von den Kreuzen ab. Verschiedene Inschriften in der Stadt verzeichnen das Ereignis und das Darum, wann es vorfiel. An der Mauer des Rattenfängerhauses, die auf die Bungellosenstraße geht, steht folgendes: Anno 1284 Am Dage Johanni et Pauli War der 26. Juni Durch einen Piper mit allerley Farbe bekledet Gewesen XXX Kinder verledet – Binnen Hameln geboren – To Calvarie bi den Koppen verlorn. Eine ähnliche Inschrift befindet sich am Hochzeitshause, eine dritte auf einem Stein, der am Neuen Tore stand und jetzt in der Krypta des Münsters aufbewahrt wird. Der Name der Bungellosenstraße soll darauf hindeuten, daß in dieser Straße, auf welcher die Kinder zum Ostertor aus der Stadt hinausliefen, zum Zeichen der Trauer keine Bongel, das heißt Trommel, mehr gerührt werden durfte. Trotz ausdrücklicher Angaben zweifelten die Gebildeten schon im 18. Jahrhundert an der Tatsächlichkeit des Ereignisses und suchten und fanden darin einen historischen Kern, mit dem es sich folgendermaßen verhält:

Hameln hat, wie noch heute auf dem Plan leicht zu erkennen ist, zwei Mittelpunkte; der eine ist die Bonifaziuskirche, das Münster, der andere die Marktkirche mit dem Rathaus, um die herum die aus mehreren uralten Dörfern zusammengewachsene Stadt sich gruppiert. Der Name des großen Bekehrers und Missionars Bonifazius, den die Stiftskirche trägt, läßt auf seine Anwesenheit in dieser Gegend schließen; gewiß ist, daß in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts Mönche vom Kloster Fulda die Kirche gründeten, die rasch erblühte, und von der die Bekehrung der heidnischen Sachsen dieser Gegend ausging. Das Kloster Fulda als Besitzer von Grund und Boden wurde dann auch als Grundherr anerkannt vom Stift sowie von der Stadt, die sich allmählich aus den Hörigen des Stifts, den Kämmerlingen und Litonen und den freien Bauern des Dorfes Hameln und verschiedener anderer Dörfer, den Erben und Erefexen, zu einer Einheit entwickelte. Mit der Zeit stellte sich aber heraus, daß Fulda zu entfernt von Hameln war, um seine Hoheitsrechte wahrnehmen zu können, und es verkaufte dieselben im Jahre 1259 an das nähergelegene Bistum Minden ohne Vorwissen der Stadt und der Grafen von Everstein, welche die Vogtei über Hameln besaßen. Beide, Hameln und die Eversteiner, ein damals reich begütertes Rittergeschlecht, waren mit dem Wechsel nicht einverstanden und sagten dem Bischof Wittekind von Minden, einem Grafen von Hoya, Fehde an, die jedoch unglücklich für sie ausging. Es kam zu einer Schlacht bei Sedemünden, einem jetzt verschwundenen Ort, an den nur noch die Sedemünder Papiermühle erinnert, in der der Bischof siegte und die Jungmannschaft aus Hameln teils getötet, teils in die Gefangenschaft geführt wurde. In der Nikolaikirche wurden jährlich am Tage der Schlacht Seelenmessen für die Gefallenen gelesen.

Man meint nun, daß, als infolge der Reformation die Seelenmessen nicht mehr gehalten worden wären und dadurch die Erinnerung an die vor Jahrhunderten geschlagene Schlacht sich verloren hatte, die sagenhafte Umwandlung des alten Verlustes und der alten Trauer vor sich gegangen sei, wofür spricht, daß die Inschriften aus der Mitte des 16. Jahrhunderts stammen. Daß aber nun die Sage sich grade so ausbildete, hänge damit zusammen, meint man, daß das Bild des Todes, der als Seelenführer die Abgeschiedenen in das dunkle Land hinüberleitet, im Vorstellungskreise der arischen Völker heimisch sei, wie denn ähnliche Sagen in verschiedenen Gegenden wiederkehren. Den seltsam bestimmten Zug vom Wiederauftauchen der entführten Kinder in Siebenbürgen erklärt man sich so, daß die Wiederbegegnung der Bürgerschaft mit den zurückkehrenden Gefangenen beim Siebenberge, einem Vorberge des Süntel, stattgefunden habe, was sich nach dem Schwinden genauer Erinnerungen in dem ähnlichklingenden Namen widerspiegele.

Diese Erklärung der Sage ist einleuchtender als eine andere, nach welcher die Kämpfe der Zünfte gegen den Rat darin anklingen. Andere führen sie auf die merkwürdigen Anfälle von Tanzwut zurück, die zu einer gewissen Zeit im Mittelalter viele junge Menschen befiel und aus der Heimat lockte; ebensogut könnte man an die Kreuzzüge oder an eine wirklich stattgehabte Entführung denken.

Glückliche Zeit, in welcher die Phantasie, noch nicht erdrückt durch die Masse emsig registrierter Tatsachen, Sagen bildete und glaubte. Denn die wirklichen Tatsachen allein sind Blätter, die rasch verwelken, Fleisch, das verwest. Wie trocken wäre die Geschichte, wenn nicht Herzen darin klopften und Träume sie durchglühten, wie dürr das Leben, wenn nicht zuweilen ein Schein aus dem Geisterreich hineinleuchtete. Gut, daß es Gassen und Giebel in Hameln gibt, unter denen hin schlendernd, wenn der Sommermittag brütet, man den süßen Ton des Zauberers aus der Ferne mag flöten hören, der die Kette der Sitte, der Arbeit und des Gewissens löst und hinauslockt in Abenteuer und Tod. Uns allerdings erscheint schon das Leben innerhalb der Mauern wie es einst war als ein steter Kampf und ein tolles Wagnis. Das Abendland des Mittelalters stand unter einem apokalyptischen Himmel, Göttern und Dämonen nah, gierig fegten Pest und Krieg, rasten Feuer und Wasser durch die Länder. Dennoch erhoben sich Dome und Türme und kunstreiche Dächer in den Städten, wogten draußen bestellte Acker und summten alte Linden über dem Kreuz am Wege.

Hameln war eine reiche Stadt, das schließt man nicht nur aus vielen herrlichen Gebäuden, sondern auch aus den Verordnungen, die der Rat dann und wann, offenbar vergeblich, gegen den zunehmenden Luxus der Bürger erließ. Daß diejenigen, die den gesamten Rat vladenoreter, das heißt Kuchenfresser, schimpfen, streng bestraft wurden, zeigt uns besonders die Ratspersonen als Leute, die sich etwas erlauben konnten und beneidet wurden. Wenn die Dienstboten sich ausbedangen, daß sie nicht öfter als zweimal in der Woche Lachs zu essen bekämen, so beweist das, wie ergiebig der Lachsfang in Hameln war. Später, als in Bremen ein Wehr errichtet und der Lachs dadurch abgefangen wurde, änderte sich das, und der Gaumen der Angestellten wurde nicht mehr durch das Übermaß an Leckerbissen angewidert. Eine andere Quelle des Reichtums war die Bierbrauerei und der damit verbundene Hopfenbau; wenn es auch nicht so berühmt war wie das Einbecker, scheint doch das Hamelenser Bier geschätzt gewesen zu sein. Große Bedeutung hatten für Hameln die Mühlen: im Stadtwappen ist ein Mühleisen, darüber auf dem Helm die Bonifaziuskirche abgebildet, wodurch sinnvoll das Symbol des Erwerbs in den Mittelpunkt gerückt ist, über dem das Ideal sich krönend erhebt. Einst waren Wind- und Wassermühlen Zierden der Landschaft, Werke des erfinderischen Menschengeistes, deren trauliche Gestalt die Naturgeister lockte, sich ihnen hilfreich zu gesellen. Die 1886 erbaute Handelsmühle auf dem Werder ist leider ebenso häßlich wie groß; dennoch ist es schön, von der Brücke aus die breite Weser aus blauer Ferne heranströmen, das Münster mit seinen Türmen grüßen und ihren unerschöpflichen Erguß jenseits im Dunste verschwinden zu sehen. Das Pochen und Zittern der Mühle mischt sich mit dem Brausen des Wehrs zu einem donnernden Marsch, dem Lebensliede der Stadt, das noch ungestüm tönt, nachdem der Rhythmus ihrer Herzen längst zu einem regelmäßigen Uhrenticken geworden ist. Das Wehr wurde angelegt, damit das gestaute Wasser sich in den Wallgraben, der die Stadt umgab, ergösse. Durch die Schleuse wurde das berüchtigte Hameler Loch überwunden, eine Stromschnelle, welche die Schiffer zwang, ihre Ware umzuladen und zu diesem Zweck einen Aufenthalt in der Stadt zu nehmen; das Loch wurde deswegen von der Einwohnerschaft Hamelns sehr geschätzt.

Die Erwerbsmöglichkeit, die die Natur ihnen beschied, machte vielleicht die Bürger von Hameln etwas sicher und bequem. Von den Braunschweiger Fürsten, die sie als Schutz- und Oberherren angenommen hatten, um der aufgedrungenen Herrschaft der Bischöfe von Minden zu entgehen, wurden sie nicht behelligt, solange dieselben auf Ritterart, ohne planmäßig an eine Zusammenfassung ihrer Macht zu denken, dahinlebten. Die Söhne reicher Welfen teilten ihren Besitz wieder und wieder, wodurch sie, wie durch ihre Händel untereinander, ihre Kraft zum Vorteil der Städte schwächten. Indessen scheint es auch, als wären die Braunschweiger Herzöge und die Bürger von Hameln von gleicher Art gewesen und hätten sich infolgedessen gut verstanden. Das zeigte sich bei der Reformation. Es mag sein, daß die oberdeutsche Sprache Luthers ihr den Eingang erschwerte; allein davon abgesehen war es auch das beschauliche Temperament der Hamelenser, welches das Neue an sich herankommen ließ und ohne Überschwänglichkeit sich dafür interessierte. So war auch Herzog Erich I. von Kalenberg, ein tapferer, fröhlicher, herzlicher Mann, der, obwohl unerschütterlicher Anhänger des Kaisers und Katholik, so viel Sympathie für den kühnen Luther zu Worms fühlte, daß er ihm nach dem ersten Verhör eine Kanne Einbecker Bier reichen ließ, die Luther mit den Worten empfing: »So möge denn Gott der Herr einst Herzog Erich in seinem Sterbestündlein erquicken, wie Seine fürstliche Gnaden mich heute erquicken.« Bald danach starb dem Herzog seine erste Gemahlin, und er fühlte sich mit 55 Jahren frisch genug, ein um 40 Jahre jüngeres Mädchen, die brandenburgische Prinzessin Elisabeth, zur Frau zu nehmen. Diese war, anders als er, leidenschaftlich für das Evangelium entbrannt, willens für ihre Überzeugung einzustehen und sie zu verbreiten. Er mag ein väterliches Wohlgefallen an ihrer jugendlichen Tatkraft und Tüchtigkeit gehabt haben und ließ sie gewähren, ohne sich überreden zu lassen. Unter ihrer Führerschaft ging es in Hameln mit der neuen Lehre voran, so daß im Jahre 1540 der Magister Moller aus Hannover in der Bonifaziuskirche evangelisch und gewaltig predigen konnte über das Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen.

Wie großen Eindruck er auch machte, dachte man doch noch nicht an ein systematisches Verfahren, sondern ließ die katholischen Bräuche bestehen, soweit sie kein Ärgernis bereiteten, und Herzog Erich ließ seine Frau walten und starb in Frieden.

Seinem Sohne war die doppelte Erziehung nicht gut bekommen. Während sein Vater, einst Freund und Waffengefährte des großherzigen Maximilian, dem er in einer Schlacht das Leben gerettet hatte, ihm Anhängigkeit an den Kaiser und Lust an tapferen Rittertaten einzuflößen suchte, bearbeitete ihn die ernstgesinnte Mutter mit Psalmen und Katechismen ohne anderes Ergebnis, als ihm das protestantische Bekenntnis zu verleiden. Sowie er mündig war, trat er offen als Anhänger des Kaisers und der Kirche auf, verjagte die Prädikanten und trieb es so, daß Elisabeth, die sich inzwischen mit einem Grafen von Henneberg verheiratet hatte, ihrem Mann in seine Heimat folgte. Er hätte dem Fortgang des Protestantismus ernstlich schaden können, wenn er nicht ein fahriger Mensch gewesen wäre, dem es wichtiger war, mit Frauen zu reisen und Aufwand zu treiben. Auf einem Landtage zu Hameln beschuldigte er seine Frau, Sidonie von Sachsen, sie habe versucht, ihn durch Zaubermittel zu vergiften, worauf sie, um einem Hexenprozeß zu entgehen, in ihre Heimat entfloh und bald im Kloster Weißenfels starb. Während er zuerst mit einer Geliebten, dann mit einer zweiten Frau auf Reisen war, ließ er seine Mutter mit ihrem geistlichen Berater Anton Corvinus, mit ihrem Leibarzt und dem Kanzler die Regierung in ihrem tüchtigen Sinne führen und redete den vier großen Städten, Hannover, Hameln, Northeim und Göttingen, nicht in ihre Angelegenheiten, wenn sie nur seine Schulden bezahlten, wozu sich besonders Hameln nach anfänglichem Weigern fähig und bereit erwies.

Die Herzöge von Braun schweig-Wolfenbüttel, an welche Kalenberg nach dem kinderlosen Tode Erichs II. fiel, gehörten schon der modernen, staatenbildenden Art an. Der Kanzler des Herzogs Heinrich Julius sprach von unveräußerlichen Hoheitsrechten und griff so in die alten Rechte ein, daß die Stände klagten, er wolle sie zum Fußschemel machen. Der Dreißigjährige Krieg brach aus, in welchem der grandiose Bau des mittelalterlichen Reichs einstürzte, Heiligtümer und Menschen begrabend. Hameln gehörte zu den Städten, die leidlich davonkamen; es ist nie erstürmt worden, hat aber verschiedentlich kapituliert. In Hameln geschah es, daß König Christian IV. von Dänemark, welcher als Beschützer der protestantischen Interessen bereitwillig eingelassen war, als er am späten Abend zu Pferde die Befestigung besichtigte, von der Brustwehr in den Graben stürzte und drei Tage lang zu allgemeiner Bestürzung wie tot dalag. Nachdem er sich eben erholt hatte, verließ er vor dem herannahenden Tilly eilig mit seinen Soldaten die Stadt. Der Rat ließ, ungewiß, wie er sich verhalten sollte, die Bürgerschaft abstimmen, die sich für ehrenvolle Übergabe entschied. Tilly, der das Herzogtum Kalenberg für sich zu erwerben hoffte, behandelte die Stadt, abgesehen von großen Zahlungen, die sie aufbringen mußte, nicht hart; doch gab es Bürger, welche die katholische Besatzung nur mit Widerwillen erduldeten und einen Überfall verabredeten. Die Verschwörung kam ans Licht; mit Mühe setzte der Rat durch, daß die Aburteilung der Schuldigen ihm selbst unter dem Beisitz einer Militär-Kommission und nach Einholung eines Gutachtens einer protestantischen Juristenfakultät überlassen wurde. Einige Handwerker wurden gerädert und geköpft, während die Anführer, zu denen Dr. med. Joh. Friedrich Nordmann gehörte, der einmal Syndikus und dreimal Bürgermeister in Hameln gewesen war, frei ausgingen. Zwar beanstandete der Rat dies als eine Abnormität und bat, Reichen und Armen gleiches Recht zu geben, scheint sich aber, abgesehen von dieser Randbemerkung, nicht für die Gerechtigkeit eingesetzt zu haben.

In einem Zimmer des erst vor einem Jahrzehnt vollendeten Hochzeithauses hielt Tilly mit Pappenheim und einigen anderen Herren den Kriegsrat ab, welcher die Eroberung Magdeburgs, weil die Stadt von sonderlicher Importanz sei, beschloß. Es erhob sich im Augenblick dieser verhängnisvollen Entscheidung ein Wirbelsturm, der die Ziegel von den Dächern warf und das Rad der Pulvermühle in so heftige Bewegung versetzte, daß mit starkem Knall eine Explosion erfolgte. Der fromme Tilly, der die damit verbundene Erschütterung für ein Erdbeben hielt, kniete gleich zum Gebet nieder, welchem Beispiel zu folgen die anderen Herren sich beeiferten. Es wurde als böses Vorzeichen betrachtet, daß um dieselbe Stunde in dem 25 Meilen entfernten Magdeburg mehrere Kirchtürme vom Sturm umgeworfen wurden.

Herzog Georg von Braunschweig-Lüneburg im Bündnis mit dem hessischen General Melander befreite Hameln durch den Sieg bei Hessisch-Oldendorf von der kaiserlichen Besatzung, der ehrenvoller Abzug gewährt wurde. Mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen zogen sie aus, und der Kommandant von Schellhammer bedankte sich bei Herzog Georg für die erwiesene Courtoisie und entschuldigte sich, daß er als rechtschaffener Kavalier sich solange habe widersetzen müssen. Die Dankpredigt, die der Feldprediger Heinrich Tilemann in der Münsterkirche hielt, wurde nachher unter einem Titel gedruckt, der folgendermaßen anfing: Taberna monetaria hamelensis repurgata; Reinigung der geistlich hamelschen Münze und Münsters, d. i. Erklärung des geistlichen Groschens, wie er anfänglich von Gott gemünzt, aus dessen Schatzkammer, verloren, gesucht, wiedergefunden, in eine neue Form gegossen und bei den Evangelischen das rechte und vorige, bei den Papistischen ein fremdes und falsches Bildnis gewinne, an der Parabel vom verlorenen Groschen genommen usw. Auch sonst zeigte sich der Lüneburger Herzog nicht nur als Erretter; denn er trug die schönen Glasfenster aus dem Hochzeitshause fort, um sein Kalenberger Schloß damit zu schmücken, und konnte trotz aller Beschwerden des Rats nicht zur Rückgabe bewogen werden. Nur so viel setzte man beim Kaiser durch, daß er 149 Taler Ersatz zahlen mußte.

Die Zeit der Freiheit und des Glanzes war für Hameln vorüber. Die herzoglichen und kurfürstlichen Herren bestimmten es zur Landesfestung und bauten die alte Befestigung entsprechend den neuen Erfordernissen um, wozu die vier großen Städte beitragen mußten. Hameln erhielt eine Besatzung, deren Kommandant der eigentliche Gebieter der Stadt wurde. Nicht mehr wie sonst eilten die Bürger beim ersten Zeichen nahender Gefahr auf die Wälle, nicht mehr der Rat untersuchte die Beschaffenheit der Mauern und setzte sie instand, wenn sie verfielen; die Wehrhaftigkeit der Städte schwand zugleich mit ihrer politischen Selbständigkeit. Politisches Interesse brauchte die Bürgerschaft nicht mehr, sie durfte es nicht mehr haben, und so ist kein Wunder, daß sie auch die politische Begabung verlor. Im Jahre 1688 wurde das Scheibenschießen, worin sich seit unvordenklicher Zeit die Bürger zu üben pflegten, verboten, weil es zu Versäumnissen und Ausschweifungen Anlaß gebe. Auf allen Gebieten zeigte sich engherzige Bevormundung, die kläglich absticht, gegen das breite, unbekümmerte, festliche Dasein von einst, das doch straffer Ordnung nicht entbehrte. Im Jahre 1721 fand die letzte Hochzeit im Hochzeitshause statt, die von Ludwig Widmann und Anna Ilse Weber, Joh. Heinrich Kniephans Witwe, gefeiert wurde. Der Magistrat war der Ansicht, die bei dieser Gelegenheit gemachten Ausgaben würden besser zur ersten Einrichtung des betreffenden Paares verwendet.

Das Hochzeitshaus mit seinen reichverzierten Renaissance-Giebeln steht als Denkmal des Höhepunktes der Blütezeit Hamelns da. Es umfaßte im Erdgeschoß die Apotheke und die Weinstube, gegenüber im Hause Zum alten Schaden war die Waage. Im letztgenannten Hause befand sich die Schmeckestube der sechs Bierherren, die ein bemerkenswertes Holzgestell mit fünf Fächern enthielt. Auf dem mittleren Fach war der Kaiser dargestellt mit der Beischrift: Ich will haben Tribut; rechts von ihm zuerst ein Bettler, dann ein Soldat mit den Beischriften: Ich hab nichts zu geben und Wir geben nicht. Links vom Kaiser kam ein Priester, der sagte: Die Geistlichen sind frei, und die Reihe beschloß ein Bauer mit dem Dreschflegel und dem Wort: Ich muß geben, da ihr alle von lebt.

Es gibt verschiedene Hauser und Häusergruppen in Hameln, zu denen man immer wieder bewundernd zurückkehrt; vor allem das Hochzeitshaus, verbunden mit dem barocken Rathaus durch die malerischen Bogen des alten Bäckerscharren, gekrönt durch die schlanke grüne Spitze der Nikolaikirche, die dahinter aufragt. Die ausgeprägten Formen verschiedener Zeiten klingen in vollem Akkord zusammen wie die Farben: das Grau der alten Mauern, das schimmernde Grün der bekupferten Kirchturmspitze und das Rot der Dächer. Stille Weltabgeschiedenheit ist der Charakter des lindenbeschatteten Platzes hinter der Stadtkirche; in ruhevoller Größe lagert das alte Bonifaziusmünster am Ufer des Stroms. In verschiedenen Straßen finden sich eine Anzahl alter Häuser, die die wohltuende Gemütlichkeit und gediegene Wohlhabenheit des niedersächsischen Bauernhauses umgibt, einige mit Schnitzerei verziert, andere mit Bibelworten oder Sprüchen volkstümlicher Weisheit. Wenn man liest, wie viele sich von ihnen auf den Neid der Nachbarn oder der Vorübergehenden beziehen, die dem Erbauer ein Heim mißgönnen oder aus allgemeinem Übelwollen daran nörgeln, so wird einem recht deutlich, auch wenn man annimmt, daß eine Art abergläubischer Furcht vor der schadenbringenden Kraft des Neides im allgemeinen mitspielte, wie sich die Bewohner einer mittelalterlichen Stadt aneinander reiben mußten. Auch die größten dieser Städte waren im Vergleich zu unseren sehr klein und dazu noch zusammengewachsen aus mehreren Quartieren, vorher selbständigen Städten mit eigenen Kirchen, eigenem Rathaus und besonderem Zusammenhang der Bewohner. Nimmt man dazu noch die Überwachung der Bürgerschaft durch den Rat, so ergibt sich eine familienhaft enge Verflechtung mit all dem Haß, der Rache und Eifersucht, die eine solche mit sich bringt, und die vielen von uns jetzt unerträglich scheinen mag. Neben den Nachteilen hatte dieser Zustand aber auch die Vorteile der Familie: das Zusammenhalten in der Not durch dick und dünn, das Verbundensein zur Hilfeleistung, den unfehlbaren Rückhalt, die Gemeinsamkeit in Sitte und Denken und Fühlen. Seitdem haben wir uns auf allen Gebieten der leibhaftigen Berührung entwöhnt; unsere Nachbarn kennen wir kaum von Ansehen, Erfindungen, Werkzeuge, Maschinen haben sich zwischen Mensch und Mensch geschoben und seine Sinnlichkeit geschwächt. Damals beruhte der Verkehr auf mündlicher Mitteilung, der Kampf auf körperlicher Tapferkeit von Mann gegen Mann, der Genuß der Kunst auf der Anschauung des Kunstwerks an der Stelle und dem Zweck gemäß, für die es geschaffen war, die Auseinandersetzung mit Freund und Feind auf persönlicher Begegnung. Die holde Intimität, die den Reisenden in kleinen Städten so freundlich anspricht, würde ihn vielleicht unerträglich beengen, wenn er sie bewohnte; man müßte die Bedingungen des einstigen Lebens wieder herstellen können, um sie richtig auf sich wirken zu lassen.

Es ist charakteristisch für die Zähigkeit, mit der sich alle Rechtstitel in den Stürmen der Zeit erhalten, daß das Stift Fulda durch die Jahrhunderte hindurch fortfuhr, sich als Inhaber der Lehensrechte über die Stadt Hameln zu betrachten, obwohl sie ihm seit der Schlacht bei Sedemünden tatsächlich ganz entzogen war. Als nämlich Hameln in die Gewalt des Herzogs Albrecht von Braunschweig geriet, wurden die lehensherrlichen Rechte des Stiftes und die vom Stift empfangenen Privilegien, Legate und Dominien vorbehalten und auch in der Folge niemals aufgehoben oder abgelöst. Im Jahre 1836 beantragte die Stadt Hameln die Allodifikation der Lehenswerte, konnte sich aber mit den Rechtsnachfolgern des 1803 säkularisierten Stiftes über die Höhe der Ablösungssumme nicht einigen; es waren der Prinz von Oranien und der Kurfürst von Hessen. So waren im 19. Jahrhundert noch die Lehensbeziehungen wirksam, die vor mehr als 1000 Jahren sich zwischen frommen und unternehmenden Klosterbrüdern und einem Häuflein heidnischer Sachsen am waldigen Ufer der Weser gebildet hatten.


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