Rudolf Huch
Wilhelm Brinkmeyers Abenteuer
Rudolf Huch

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Das zehnte Kapitel

Wie mich der Ekel vor der menschlichen Bosheit und das Bewußtsein der erlangten Reife von der Schulbank vertrieben

Ich habe viel Böses durchgemacht im Leben. Nicht um einer Welt Herrlichkeit möchte ich es zum zweitenmal durchleben. Wenn ich mir aber damit auch die nächsten drei Wochen noch einmal zurückzukaufen vermöchte, ich weiß nicht, was ich täte.

Da brachte mir eines Morgens der Postbote einen Brief meines Bruders Georg, der mich wie ein Donnerschlag bei wolkenlosem Himmel aufschrecken ließ. Oder, um meinem guten Bruder nicht unrecht zu tun, es war nicht sein Brief, der das Unheil brachte, sondern einer, den er mir mitsandte und mit dem die ehrliche Haut nichts anzufangen wußte.

Don Luis Mercado nannte sich der Erzschurke und Höllenbraten, der den Satansbrief geschrieben hatte. Er war auch ein Mercado, ein Kaufmann, und zwar einer, vor dem sich Beelzebub selber, wenn der sich etwa wollte auf den Handel verlegen, gleich nach dem ersten 127 Geschäfte nackt und kahl wie ein Wurm wieder zu seiner Hölle hinabwinden müßte. Jetzt liegt der Fall freilich anders und sozusagen umgekehrt: Der edle Don ist tot und der Teufel hat ihn. Könnte sein, daß er da unten den Onkel Pedro angetroffen hat, denn ich möchte dem Oheim zwar nicht grade eine ewige Verdammnis gönnen, aber so gegen ein Säkulum Fegefeuer dürfte er sich doch wohl redlich verdient haben.

Würde wahrhaftig dem Onkel alles vergeben, was er mir angetan hat, wenn ich die Gewißheit hätte, daß er das Feuer, das dem Don Luis Mercado bereitet ist, fleißig und nachhaltig mit dem Eisen schürt.

Dieser Buschklepper, dessen Vorfahren zum ewigen Schimpf des Frankenreiches ursprünglich Kaufmann gehießen hatten und aus dem Rheinlande stammten, schrieb denn wirklich ganz kaltblütig das Folgende: es sei uns ja wohl bekannt, daß er mit unserm seligen Onkel innige Freundschaft gehalten und in häuslicher Gemeinschaft mit ihm gelebt habe. Er müsse uns nun zu seinem Bedauern insofern vermutlich eine Enttäuschung bereiten, als er uns mitzuteilen habe, daß sich in dem ganzen Hause nicht das winzigste Bißchen an Geld noch an Wertpapieren vorgefunden habe, sondern nur einiges an Zeug, Stiefeln und Leibwäsche, das indessen, bei der rührenden persönlichen Bedürfnislosigkeit des Seligen, nicht die Kosten einer Versteigerung decken würde. Er habe diese Sachen wohl verpackt und halte sie, das schrieb der Hund mit 128 kalter Stirne, getreulich zur Verfügung der rechtmäßigen Erben.

Dahingegen –

Man beachte dies Dahingegen! Noch heutigen Tages möcht ich die Bestie eigenhändig abwürgen, wenn ich nicht zu genau wüßte, daß der edle Don, zur höchst nötigen Errettung der himmlischen Gerechtigkeit, im tiefsten Höllenpfuhl winselt.

Aber ich will dem Leser das schreckliche Gefühl des ohnmächtigen Grimmes über ein zum Himmel schreiendes Verbrechen nicht unnötig verlängern.

Dahingegen also sei eine wohlverbriefte Geldforderung von einhundert Dollar vorhanden, die vollkommen sicher sei, denn der Schuldner sei niemand anders als er selbst. Dieser bemerkenswerte Ehrenmann erklärte sich bereit, das Geld unverzüglich an diejenigen Personen zu senden, welche sich gehörig als Erben des Pedro Brinkmeyer legitimieren würden, selbstverständlich unter Abzug der Beerdigungskosten. Die Schuldurkunde habe er in Abschrift beigelegt.

Diese Urkunde – merke auf, Leser – war ein Kaufbrief, worin Pedro Brinkmeyer dem Luis Mercado seinen gesamten Grundbesitz mit Haus, Nebengebäuden und Inventar für, sage und schreibe ganze

einhundert Dollar!!!!

verkauft hatte. Vier Zeugen hatten den Vertrag mit unterschrieben. Müßte wohl nicht zum besten um den jenseitigen Ausgleich bestellt sein, 129 wenn diese Zeugen nicht inzwischen mit dem edlen Don ein Wiedersehen da unten gefeiert hätten.

Nun war ich zwar keinen Augenblick im Zweifel, daß diese Handlung des Onkels Pedro nach dem Rechte jedes zivilisierten Staates könne angefochten werden. Denn es leuchtete ja ohne weiteres ein, daß der alte Nußknacker nicht mehr bei Verstande gewesen war.

Allein es versuche nur ein Mensch von seiner Empfindung, das heißt, wenn er seine Nerven lieb hat, versuche er es um Himmels willen nicht, sich in meine Lage zu versetzen. Ich steckte in Schulden, war Unterprimaner und wußte nicht, wie ich meine andrängenden Gläubiger auch nur durch eine Abschlagszahlung beruhigen sollte, geschweige denn, daß ich eine Möglichkeit gesehen hätte, mein Dasein bis zum Abiturium zu fristen.

Da saß ich in meinem einsamen Zimmer, als ein gebrochener Mann und als ein stummer, aber um so eindringlicher zu den Empfänglichen redender Ankläger wider die göttliche Weltordnung. Denn es war mir nicht so sehr um das Geld als solches zu tun. Was mir das Herz abdrücken wollte, war ein edleres Leid. Es war der Kummer darüber, daß ich nun nach menschlicher Voraussicht darauf verzichten mußte, meinen Wissensdurst zu stillen und mir mein Plätzlein unter den weisen und gelehrten Männern des Jahrhunderts zu sichern.

Daß ich nicht zu schwarz gesehen habe, das 130 hat sich leider sehr bald herausgestellt. Habe müssen meinen geliebten Studien Valet sagen und mein Leben, so ganz gegen meine Neigung, im Treiben der Welt zubringen, statt in einem Gelehrtenstübchen.

Ein süßer Trost war mir freilich in allem Jammer geblieben. Der Leser wird ihn erraten: es war der Platon. Kann dies Mittel allen Leidenden mit gutem Gewissen empfehlen. Sobald mich der Kummer zu überwältigen drohte, setzte ich mich drei bis vier Stunden hinter meinen Platon, und jedesmal zog ein milder Friede in den gequälten Busen.

Urania etwas zu sagen, brachte ich nicht übers Herz. Das liebe Mädchen war immer glücklich wie ein Kind gewesen, wenn ich mit ihr über den drolligen Onkel Pedro gescherzt hatte. Eine plötzliche Enthüllung hätte ihr Vertrauen in die Güte der menschlichen Natur für alle Zeiten begraben, wie ja auch ich damals dies Vertrauen für immer eingebüßt habe.

Ich war also jenem Kinde zu vergleichen, das Rosen am gähnenden Abgrunde pflückt, mit dem Unterschiede freilich, daß mir meine gefährliche Lage, die so war, als wäre das Kind schon ins Rutschen gekommen, nur zu wohl bekannt war.

Ungern widerstehe ich bei dieser Gelegenheit der Versuchung, eine Serie von Pastellbildern der Stunden zu malen, die wir Glücklichen teils bei munterm Scherz, teils bei Gedankenaustausch über Gegenstände moralischer Qualität miteinander und durcheinander genossen. Ich 131 einfache Natur vermag das wohl in der Erinnerung wiederzufühlen, nicht aber dichterisch zu gestalten. So überlasse ich denn unserm Schiller das Wort:

Errötend folgt er ihren Spuren
Und ist von ihrem Gruß beglückt.
Das Schönste sucht er auf den Fluren,
Womit er seine Liebe schmückt.

Wer das mit ganzem Gefühl in sich aufzunehmen vermag, und nur solchen Lesern kann ich mich überhaupt verständlich machen, dem brauche ich nichts weiter zu sagen, als: Dieser Jüngling war ich!

Will der Leser nun aber weiter wissen, wie es war, als jener Höllenbrief in unser Paradies eindrang, so schlage er auch wieder seinen Schiller auf:

Da kommt das Schicksal. Rauh und kalt,
Faßt es des Freundes zärtliche Gestalt
Und wirft ihn –

Indessen wohin es mich geworfen hat, das soll hier nicht vorweggenommen werden. –

Der Herbst nahte heran. Die Truppe rüstete sich zum Aufbruch.

Welche Pläne wir beiden Turteltauben einander ins Ohr gewispert hatten, ehe das Schicksal mich traf, davon will ich schweigen. Nun hatte ich nur immer auszuweichen und zu lavieren, so daß ich es fast begrüßte, daß die Bombe irgendwie platzen müßte.

Im Theater hatte ich, dem Verbote der 132 Schulmeister Trotz bietend, keinen Abend gefehlt. Hätte ich mir etwa sollen die schönste Zeit des Lebens von Pedanten stehlen lassen?

Nun aber mußte auch Urania den Neid des Schicksals erfahren. Als Abschiedsvorstellung hatte man, unpassend genug für ein Sommertheater, Die Räuber gewählt. Es verstand sich von selbst, daß ihr, als dem unbestrittenen Stern der Truppe, die Amalia zukam. Da war aber eine andre Schauspielerin, klug und häßlich wie eine Eule. Die nun hatte, in Liebe zu mir entbrannt, einen Haß auf Urania als auf die von Amor begünstigte geworfen. Da sie ihr (ich will nicht untersuchen mit welchen Mitteln erworbenes) Gold nicht sparte, hatte sie einen Haufen von Trabanten um sich gesammelt, die frech behaupteten, sie wäre eine große Schauspielerin und Urania eine Stümperin. Denn zu welchen Schändlichkeiten brächte nicht der Hunger nach Gold die Herzen der Menschen!

So hatte sie nun auch durch Intrigen, denen nachzuspüren wir für unter unsrer Würde hielten, und denen wir eben wegen unsrer würdigen Zurückhaltung wehrlos ausgesetzt waren, bei dem feilen Direktor durchgesetzt, daß sie bei der Abschiedsvorstellung die Amalia spielte.

Urania schmiegte sich schluchzend an mich. Ich wäre aber auch ohne das entschlossen gewesen, mit allem was ich vermochte für sie einzutreten. Denn mein Rechtsgefühl war schwer gekränkt.

Das Glück war ausnahmsweise insofern auf 133 seiten der guten Sache, als ja ein klassisches Stück gegeben wurde, so daß ich ohne Skrupel meine Sachsen ins Theater entbieten durfte.

Mein Plan war keineswegs, die Person niederzuzischen oder sonst irgendeinen Skandal zu erregen. Vielmehr gedacht ich ihre Rotte durch Edelmut zu besiegen, indem ich mit den Meinen ihre Beifallskundgebungen noch überbot. Dadurch aufs innigste gerührt sollten sie, so dacht ich, zur Einsicht ihres Unrechtes gelangen und Urania eine unerwartete und eben deshalb um so mächtiger wirkende Huldigung darbringen. Ich erstrebte also außer dem Siege der Gerechtigkeit noch die innere Läuterung derer, die gegen mich angekämpft hatten. Wenn dieser Plan meinem Herzen nicht grade zur Unehre gereichen dürfte, so bekenne ich doch frei, daß er für meine damalige Menschenkenntnis kein günstiges Zeugnis ablegt. War eben ein junges Blut und glaubte noch an die Güte der menschlichen Natur.

Immerhin hatte ich doch die Freude, daß einem großen Teile des Publikums die Sache gefiel. Als nun Amalia jene bekannte Ohrfeige ausgeteilt hatte, da erhob ich mich, teils meinem Plane gemäß, teils von dem Eindrucke des Heldischen hingerissen, und rief: Platoniker, für diese Backpfeife weihen wir Amalien einen kräftigen Schoppensalamander! Ad exercitium salamandri! Eins, zwei, drei!

Meine Leute erhoben sich in züchtiger Haltung und der Salamander wurde auf das feierlichste 134 [...] konnte man auch während der Aufführung klassischer Stücke des köstlichen Gerstensaftes genießen.

Die Gebildeten im Publikum zeigten sich entzückt. Die Knoten von der Gegenseite aber, anstatt sich unsrer Ovation anzuschließen, erbosten sich, weil die Initiative nicht von ihnen ausgegangen war, und das dermaßen, daß sie die Vorstellung durch ein herausforderndes Betragen störten. Als ich sie nun im Interesse der Aufführung ersuchte, sich ruhig zu verhalten, beantwortete diese Horde meine wohlmeinende, aber allerdings ernste Mahnung mit einem wilden Gebrüll, ja, ein paar Athleten darunter schickten sich an, die den Musen geweihte Stätte durch rohe Gewalttätigkeit zu entweihen. Meine würdige Haltung veranlaßte sie freilich bald, von ihrem Vorhaben abzustehen.

Das bessere Publikum beachtete diese Vorgänge mit dem heitersten Anteil. Indessen war es doch gar zu spät geworden. Auch wollte sich die rechte tragische Stimmung nicht mehr einstellen, obwohl ich mir auch in dieser Richtung die redlichste Mühe gab. Die Vorstellung wurde nicht wieder aufgenommen. So hatten denn die Radaubrüder ihr schändliches Ziel erreicht.

Denn wäre die Vorstellung zu Ende gespielt worden, so hätte ich auch dem böswilligen Teile des Publikums schon wollen klarlegen, welche der beiden Damen die Stümperin war und welche die große Tragödin. Unser Vorteil war es 135 wahrlich nicht, daß diese Haupt- und Kardinalfrage unentschieden blieb.

So sah ich auch hier wieder, sehr zum Nachteil meines Glaubens an eine gerechte Weltregierung, auf der einen Seite eine gute Sache, anständige Mittel und Mißgeschick, auf der andern die schlechteste Sache, die schnödesten Mittel und den Triumph.

Nun war das so weit ganz wohl gediehen. Urania vergalt mir meine Mühe und meinen guten Willen durch einen zärtlichen Blick und einen sanften Händedruck, womit ich mich denn tausendfach belohnt fühlte.

Wasmaßen nun aber unverdientes Glück den Bösen keineswegs, wie man doch erwarten sollte, mit Dankbarkeit, Bescheidenheit und Scham erfüllt, sondern im Gegenteil ihn nur immer noch dreister und schamloser vorzugehen ermutigt, dermaßen zwar, daß wir andern sein verwegenes Einherstürmen fast mit einem Schwindelgefühl verfolgen und jeden Augenblick gewärtig sind, die höhere Gerechtigkeit würde ihn, seines Hohnes endlich überdrüssig, verdientermaßen in den Abgrund stürzen, worauf wir denn freilich, was eine überaus harte Probe der Festigkeit unseres Glaubens an eine ausgleichende Gerechtigkeit bedeutet, nur zu oft bis an das natürliche Ende des Frevlers vergeblich warten, wiegelten jene schlechten Menschen, nicht zufrieden damit, daß es ihnen gelungen war, aus Gut Schlecht und aus Schön Häßlich zu machen, die Bürgerschaft auf, als wären wir diejenigen 136 gewesen, welche das hehre Opferfest der tragischen Muse entweiht hätten, ja der Drang, ihre strotzenden Giftdrüsen von der scheußlichen Ueberfülle doch einigermaßen zu entspritzen, kniff sie so unerträglich, daß sie sich zu der handgreiflichen Verleumdung verstiegen, ich, der ich in meinem Leben nicht und in meiner damaligen verliebten Entrücktheit von dem irdischen Treiben nun gar nicht mit andern Waffen gekämpft habe, als mit dem Rüstzeuge des Geistes, hätte mich meiner Ueberlegenheit an Körperkraft bedient.

Nun werden wohl die Gelehrten, die ja unter meinen Lesern die Mehrzahl bilden werden, entrüstet oder doch unangenehm berührt ausrufen: Der will vom Geiste Platons beseelt sein und regt sich über die Niedertracht der Menschen auf, die ihm doch einerseits etwas Selbstverständliches sein sollte, deren Ohnmacht aber gegenüber dem unsichtbaren Bunde aller Guten, Weisen und Gerechten auf der Erde anderseits keines Beweises bedarf?

Denen hab ich zu erwidern: O ihr Bundesgenossen! Keineswegs ziehe ich in Zweifel, daß ihr im Platon besser zu Hause seid als ich, der ich, um auch hier wieder lieber zu aufrichtig zu sein als zu nachsichtig gegen mich selbst, in den späteren Abschnitten meines Lebens wenig Muße zur Vertiefung in den Göttlichen gefunden habe; von der wirklichen Welt aber habt ihr keine Ahnung.

Wen sollte ich denn als weise und gerecht 137 erachten, wenn nicht das Lehrerkollegium? Diese Leute aber, statt die Verleumder der strafenden Gerechtigkeit, oder, noch besser, den Qualen ihres bösen Gewissens zu überlassen, uns aber vor den Mitschülern als Vorbilder an Kunstbegeisterung und an Standhaftigkeit gegenüber dem das Schlechte wollenden Pöbel zu preisen, strengten gradezu eine Untersuchung an.

Da übermannte mich der Ekel vor dieser Erbärmlichkeit so, daß ich den Leuten ins Gesicht schleuderte, was geschehen sei, das hätte ich allein zu verantworten, und wenn sonst keine von meinen Taten, so würde diese mir dereinst den schweren Gang vor den Weltrichter leichter machen. Im übrigen brauchten sie sich nicht weiter zu bemühen, da ich meine Ausbildung, wenn auch nicht der Form nach, so ganz gewiß nach der innern Wahrheit für abgeschlossen hielte und meinen Austritt anmeldete.

Nun wird mir wohl dieser und jener unter meinen Lesern, der mir bis hierher mit Verständnis gefolgt ist, vorhalten: Freundchen, diesmal scheint mir das Recht nicht so ganz und unzweifelhaft auf deiner Seite zu sein wie in allen andern Fällen, von denen du uns erzählt hast. Wenn wir nämlich das Sittengesetz, unsern Gesinnungen entsprechend, in seiner höchsten Schärfe und Feinheit nehmen, so verlangte es, wie es mir scheinen will, daß du an deinem Platze ausharrtest, die Verleumder zwangest, mit ihrer letzten Karte herauszukommen, und dann mit deinen Trümpfen über sie herfielest.

138 Dem hab ich zu erwidern: Freundchen, du hast gut reden. Hast du schon einmal ein Faß Jauche über dich ausgießen lassen? Wenn ja, so sollst du recht haben und übrigens meiner herzlichen Teilnahme versichert sein.

Ich könnte ihm auch noch erwidern, daß die Lehrer von selbst zu der Einsicht kamen, wie wenig Verständnis sie von ihrer Pflicht an den Tag gelegt hatten. Als ich nämlich dabei war, meine Sachen zu packen, besuchte mich der Mathematikus. Er hatte seinen Frackanzug angelegt und trug den Zylinder in der Hand.

Ich empfing ihn mit aller Höflichkeit und ersuchte ihn, auf dem Kanapee Platz zu nehmen. Er bat mich aber um die Erlaubnis, im Stehen sprechen zu dürfen, und nachdem ihm die erteilt worden war, redete er diese Worte: Nicht aus eigenem Antriebe, o Brinkmeyer, habe ich den Weg in Ihre Wohnung angetreten, sondern als Bote sowohl der Versammlung meiner Amtsgenossen, wie jenes weisen und gerechten Greises, des Direktors. Damit aber nicht ein Irrtum in Ihnen entsteht, als wäre ich wider meinen Willen gleichsam diese Treppe hinaufgestoßen worden, erwähne ich, daß der Beschluß auch von mir mit dem höchsten Eifer gebilligt worden ist, nachdem jener herrliche und gelehrte Mann, mein Amtsgenosse Bierendempel, ihn angeraten hatte. Einerseits von Reue über unser voreiliges und beinahe ungerechtes Verfahren, anderseits von Betrübnis über den von Ihnen angekündigten Abgang ergriffen, 139 bitten wir Sie nämlich, nicht etwa unsern Fehler zu vergessen, denn das ist gegen die Natur der Sterblichen, aber ihn der allgemeinen und auch den Weisesten mitunter überkommenden menschlichen Verblendung zuzurechnen. Dies nun bei sich überdenkend kehren Sie, flehen wir, zu uns zurück, und schenken sich wieder den Mitschülern, uns, den Wissenschaften!

Der Mathematikus hatte den Zylinder benutzt, um seine Rede höchst wirkungsvoll durch Gesten zu unterstützen. Bei den Schlußworten wurde er dermaßen von Begeisterung hingerissen, daß er den Zylinder zu hoch in die Höhe riß. Er stieß damit gegen die niedrige Decke meines Zimmers und beschädigte das für seine Verhältnisse recht kostbare Stück nicht unerheblich.

Ich antwortete in würdiger Haltung diese Worte: O gelehrter und in den mathematischen Dingen höchst bewanderter Herr Oberlehrer! Tief jammert mich des unverdienten und schweren Mißgeschickes, von dem Sie, zwar nicht durch meine Schuld, aber doch in zweifachem Sinne meinetwegen betroffen worden sind, nämlich einerseits wegen der Niedrigkeit meines nicht üppigen Festen, sondern nur der Arbeit dienenden Gemaches, anderseits wegen der in Ihrem Gemüte wohnenden Zuneigung. Wer möchte bezweifeln, daß ich Ihrer Einladung um so lieber Folge leisten würde, da ich ja befürchten muß, durch eine Weigerung Ihrem Innern einen noch heftigeren Kummer zu bereiten? Es steht nun aber dem gerechten und 140 seinem Vorsatze getreuen Manne nicht an, sich durch den Eifer der Mitbürger von dem gefaßten Entschlusse abdrängen zu lassen. Auch erachte ich es bei der Kürze des menschlichen Lebens einerseits, anderseits der Weite der zu erlernenden Künste und Wissenschaften nicht für meiner wahren Pflicht gemäß, einen noch längeren Teil ebendesselben Lebens in der Schule hinzubringen, nachdem ich, wie Sie wissen, die Sachen, in denen die Jünglinge daselbst unterwiesen werden, eingesehen habe.

Da er nun an meiner Haltung wahrnahm, daß ich unbeugsam war, umarmte er mich und entfernte sich unter vielen Tränen.

Bei der ganzen Sache war und ist mir übrigens unverständlich, weshalb sie mir grade den Mathematikus geschickt haben.

Meinen Direktor hab ich aber bei alledem zum Abschied besucht. Leider war er doch recht alt geworden. Denn er sagte unter anderm, mein offenes Gesicht und meine prächtigen Augen wären für mich ein Danaergeschenk. Diese merkwürdige Behauptung hat mir aber das Leben keineswegs bestätigt.

Zuletzt gab es noch ein kleines Intermezzo mit meinem Pensionsvater, der mich aus übergroßem Trennungsweh gewaltsam verhindern wollte, meine Sachen fortzusenden. Dieser Zwischenfall wurde aufs angenehmste durch bloßes Gebärdenspiel abgemacht.

Mein Gepäck sandte ich an den Hafen. Denn ich war entschlossen, den Staub des 141 Vaterlandes, das sich mir so wenig dankbar gezeigt hatte, von den Stiefeln zu schütteln und in Peru mit jenem Auswurfe der Menschheit, mit Luis Mercado, auf Tod und Leben zu kämpfen.

Zuvor erstattete ich der Heimat noch einen Besuch. Ich nahm nichts mit mir als nur die nötige Wäsche, abgesehen versteht sich, von jenen teuersten Besitztümern, die mich in keiner Lage meines wechselvollen Lebens je verlassen haben: den Kasten mit der Flöte in der Hand, Urania im Herzen, den Platon in der Brusttasche wanderte ich junges Blut zum Tore hinaus. War auch nächtliche Finsternis, mir leuchteten die Sterne in der Brust. Keinerlei Bitterkeit war im Busen zurückgeblieben, außer natürlich gegen den einen, dem ich gerechterweise die Schuld an dem bittern Abschiede von den Wissenschaften zuwälzen mußte, gegen Barbarossa. Wenn der sich nämlich hätte können sein Liebäugeln mit dem Welschtum versagen, so hätte eine dem Namen und dem Wesen nach so undeutsche Sache wie die Operette niemals Eingang bei uns gefunden und ich wäre geworden, wozu mich die Natur sichtbarlich geschaffen hatte, Professor der Platonischen Philosophie. 142

 


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