Rudolf Huch
Wilhelm Brinkmeyers Abenteuer
Rudolf Huch

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Das sechzehnte Kapitel

Wie ich den Frieden stiller Tätigkeit fand, aber nur zu bald in die rauhe Welt zurückgestoßen wurde

Mein gelehrtes Publikum, denn nur solche Leser sind mir ja bis hierher gefolgt, denen wie mir eine wissenschaftliche Unterhaltung eine köstlichere Speise dünkt als Kaviar, Austern und selbst Gänseleberpastete, was doch immerhin etwas sagen will, meine gelehrten Freunde also wissen, was die Lieblingskinder unsrer nächtlichen Studien, die alten Griechen, unter einem Dämon verstanden haben. Ich las kürzlich in einer Zeitschrift einen Aufsatz, worin schlankweg behauptet wurde, das wüßten wir keineswegs, denn die Griechen hätten es selbst nicht recht gewußt. Gern würde ich mich hier mit dem Verfasser des näheren auseinandersetzen, wenn der Aufsatz nicht leider gar zu dilettantisch gewesen wäre. Meine Gönner würden es schwerlich billigen, wenn ich Zeit und Tinte an ihn verschwendete. So sei dem Herrn Kollegen nur dies unter die Nase gerieben: mein Lieber, hättest du damals Uranien gesehen, du würdest nicht so ins Blaue hinein schwatzen!

200 Nach diesem wissenschaftlichen Exkurse begebe ich mich, nicht ohne ein verstohlenes Seufzen, zu der historischen Darstellung meiner Erlebnisse zurück.

Wie war mir schwärmerischen Jüngling so selig, da die waffengehärteten Hände nach so vielen Jahren der Trennung die heißgeliebte Flöte umspannten. War es auch meiner nicht würdig, daß ich nur eine untergeordnete Stelle in der großen Kurkapelle einnahm, was fragte ich blindlings ergebener Priester meiner Muse danach! Ich war zufrieden, wenn ich gegen elf Uhr nachts, denn so lange mußten wir diesen aufgeputzten Nichtstuern Musik machen, mein trockenes Stück Schwarzbrot in der Tasche, auf die bewaldeten Berge hinauf wandelte, wo denn die schmelzenden Töne meiner Flöte das liebe Echo wachriefen und den Tieren des Waldes gar lieblich und verwunderlich mögen im Ohr geklungen haben.

Gelebt habe ich wahrhaftig wie ein Hund. Den Bissen hab ich mir vom Munde gespart. Denn mein Herz war außer von der Muse ganz erfüllt von einem einzigen Gedanken: Onkel Pedro!

Wüßten die Machthaber nur ein wenig in den Herzen der Untertanen zu lesen, es stände besser mit der Menschheit, und es hätte damals auch besser um mich gestanden.

Heißt das auf's Wohl der Untertanen bedacht sein, daß man jemand, der sich zur Fahrt über den Ozean entschlossen hat, um ein 201 himmelschreiendes, einer arbeitsamen, gut beleumundeten, altangesessenen Familie zugefügtes Unrecht abzuwehren, daß man den, statt ihn mit allen Mitteln zu fördern, wie einen Landstreicher in die Kommißjacke steckt?

Da sieht man wieder, was es mit dem vielgerühmten Fortschritt auf sich hat. So etwas wäre in den gesegneten Zeiten vor Barbarossa nicht möglich gewesen.

Wie sich nun aber der altsächsische Charakter, zum Unterschiede von allen andern Charakteren der Welt, grade aus dem Kampfe erst seine Vollkraft holt, so fühlt ich meinen Willen durch den Widerstand so vieler feindlicher Mächte, bis hinauf zu der heimischen Regierung, nur noch mehr gestählt. Welcher Wille sich das Ziel gesetzt hatte, den Louis Mercado hinter seine wohlverdienten eisernen Gardinen zu bringen, in Ermanglung der seiner einzigen würdigen Strafart, auf die unsre Zeit mit ihrem Humanitätsschwindel verzichtet hat, den Gesetzliebenden zum Schaden, in väterlicher Fürsorge für offenkundige Straßenräuber: will sagen des Rades, unter gewissen Umständen, wie sie beispielshalber ein gerechter Richter im Falle Mercado möchte feststellen, nach vorgängigem Zwicken mit glühenden Zangen.

Der Herr Preußische Minister-Resident in Lima hatte nämlich in seiner hohen und fast unbegreiflichen Weisheit die Sache dahin erledigt, daß er sie einem Advokaten übergeben hatte. Esperanto nannte sich der Brave, und in dem 202 angenehmen Zustande der Hoffnung hat er uns denn auch so manches Jahr erhalten. Einstweilen hoffte er selbst, nämlich auf einen Vorschuß.

Bruder Georg hatte sich verheiratet, und zwar, was ihm ganz ähnlich sah, mit einer armen Häuslertochter. Das war das einzige, was er mir in dieser ganzen Zeit schrieb, und zwar teilte er es mir bei der Gelegenheit mit, als er mir das Schreiben des Residenten sandte, um die beiden Angelegenheiten mit einem Briefe abzutun. Die Korrespondenz mit Sennor Esperanto überließ er mir. Als ich ihm das Ersuchen dieses Herrn um Vorschuß mitteilte, bekam ich keine Antwort, was in Bruder Georgs wortkarger Sprache hieß: ich habe nichts.

So habe ich denn wahrhaft gedarbt, um das Geld für den peruanischen Advokaten und Höllenkandidaten zu ersparen. Dahinab ist er inzwischen auch schon seit geraumer Zeit gefahren, und ich hoffe, der liebe Gott erlaubt es mir dermaleinst, meine Augen durch einen Blick von oben auf das schmorende Kleeblatt Esperanto, Mercado und Pedro zu erquicken.

Nun war das so weit ganz wohl gediehen. Als ich mir aber, es war so Anfang August, hundert Taler zusammengehungert hatte, meinte Urania, wir verdienten Prügel, wenn wir mit diesem Kapital nicht binnen zwei Monaten das Zehnfache würden gemacht haben.

Stand da nämlich eine Etage in einer Fremdenvilla leer. Die hatte ein Herr aus Berlin 203 gemietet, um sie an Kurgäste zu vermieten. Die Heilquelle war damals noch nicht lange entdeckt, es war noch kein Ueberfluß an Hotels und Villen, man konnte also auf diese Art viel Geld verdienen. Jener Herr aus Berlin hatte ein kostbares Mobiliar mitgebracht, auch während der ersten Hälfte der Saison mit gutem Erfolge an Sommerfremde vermietet. Es war demnach alles in bester Ordnung. Indessen hatte sich der Berliner, aus welchen Gründen, das entzog sich unsrer Kenntnis, plötzlich entfernt, wohin wußte niemand. Der Eigentümerin der Villa war das nicht recht, umsomehr, als ein Möbelgeschäft in Berlin auch noch das Mobiliar als sein Eigentum in Anspruch nahm. Wie das nun alles zusammenhing, wußten wir nicht, ging uns auch nichts an. Jedenfalls hörte man unter der Hand, daß man die möblierte Villa auf unbestimmte Zeit für ein billiges mieten könne, wenn man erst einmal so ein hundert Taler zahlte. Dazu hatte sich bisher aber niemand gefunden, vermutlich aus einer gewissen Scheu vor allem, was aus Berlin kommt. Welche Scheu mancher als einfältig belächeln, mancher aber auch als eine in der Tiefe der Volksseele wurzelnde Ahnung bewundern wird.

Uebrigens können die Verhältnisse auch wohl anders gelegen haben. Mein Sinn war so ganz ausgefüllt von dem Dreigestirn Platon, Urania, Flöte, daß es mir aufs äußerste widerstand, mich mit den Dingen des praktischen Lebens zu befassen.

204 Urania war nun, ich weiß nicht wie, mit der Eigentümerin, einem Fräulein Müller, bekannt geworden. Die war eine würdige Dame in der Mitte der vierziger Jahre. Sie hatte an Uranien, mit allem Respekt sowie unter ausdrücklicher Verwahrung gegen üble Nebendeutungen sei es gesagt, einen Narren gefressen. Ich glaube, unser gutes Fräulein Josechen, denn sie hieß Josefine und erhielt von Uranien diesen Kosenamen, hatte in jungen Jahren ihr freundliches Herze mehr als einmal verloren. Da sie nun wirklich zu ihrer Zeit ein schönes Weib gewesen sein muß, liebte sie wohl in Uranien gewissermaßen sich selbst in ihren Jugendjahren.

Denn Urania war, weiß der Himmel, wie sie es angefangen hat, noch schöner geworden. Oder vielmehr, genau besehen war das eigentlich ganz natürlich und konnte nicht anders sein.

Urania war in allem und jedem das ausgesprochene Gegenstück von den Blondinen. Nichts an ihr war eigentlich zart. Wenn auch an ihrem ganzen Körper nicht eine eckige Linie zu finden war, so hatte man doch keineswegs den Eindruck des Schwellenden. Er war vielmehr, als hätte die Natur eine weise Mäßigung walten lassen, um die vollkommene Schönheit zugleich als vollkommene Kraft erscheinen zu lassen. Diese Kraft wurde aber erst lebendig durch ein das ganze Wesen durchflutendes Feuer, das sich wirksam zeigte, wenn sie auch nur den kleinen Finger bewegte. Ich habe sie nur sehr selten langsam gehen oder sich sonst langsam bewegen 205 sehen, und dabei war ihre natürliche Anmut so vollkommen, daß ihr diese der Anmut sonst so gefährliche Raschheit nichts anhaben konnte.

Dem Kenner wird es also von seinen theoretischen und praktischen Kenntnissen her klar sein, was mir schlichtem Bauernsohne eben nur an Uranien als einzelne Tatsache offenbar geworden ist, daß eine Schönheit dieser Art nicht, wie es bei Blondinen der Fall ist, in der Blüte der Jugend, sondern gegen Ende der zwanziger, ja wohl erst gegen die dreißiger Jahre hin den Zenith erreicht. Womit denn auch für die blind zur Welt Gekommenen, die es sonst noch nicht bemerkt haben, gesagt worden ist, daß ihr Typus anderseits auch nicht der der Südländerinnen war, deren Schönheit ja in jenem Lebensalter längst abgeblüht ist. Ich habe mir immer so in meiner ländlichen Einfalt gedacht, ihr Stammbaum dürfte sich allerdings wohl in der einen Linie etwa nach Spanien hin verfolgen lassen, nicht etwa tiefer hinunter, während die andre entweder nach unserm deutschen oder nach einem noch höheren Norden hinweise, könnte auch sein nach England.

Die Natur müßte, was wir Freunde der Wahrheit mit betrübtem und fast ungläubigem Erstaunen an so manchem nach dem sonstigen Verhalten anscheinend mit einem leidlich gesunden Verstande und sogar mit einem Schatten von Gewissen begabten Menschen wahrnehmen, geradezu ihre Lust an der Lüge haben, wenn in einem solchen Körper ein schwächlicher Wille 206 lebte. Was sich Urania einmal in ihr holdes Köpfchen gesetzt hatte, das wollte sie. Um das Unglück voll zu machen, hatte nun, was ich dem Leser wohl eigentlich kaum ausdrücklich zu sagen brauche, die Natur mich mit einem Gemüt voller nachgiebiger Zärtlichkeit beschenkt. Welches Geschenk mir denn, gleich dem der Danaer, eitel Ungemach und Herzweh eingebracht hat.

Was hab ich damals nicht versucht, um meine trotz ihrer Fehler noch immer so heiß geliebte Urania von ihrem Entschlusse abzubringen! Umsonst erinnerte ich sie an die goldenen Tage unserer ersten Liebe, da eins das bischen, was es sein nannte, und war's ein Stücklein trocken Brot, mit dem andern teilte und über der Sättigung des Auges an dem Anschauen des Geliebten den leiblichen Hunger vergaß, da uns alle Weisheit auf Erden in dem Dichterwort gipfelte.

Raum ist in der kleinsten Hütte
Für ein glücklich liebend Paar!

Als ich nun endlich einsehen mußte, daß all meine Bitten und selbst meine Tränen Uranias Herz nicht zu rühren vermochten, da krümmte sich endlich der getretene Wurm. Ich erklärte rundweg, daß ich wollte aus der Sache herausbleiben. Das Geld wollte ich ihr jedoch von Herzen gern überantworten, da ich mich ja, wie es von ihr weder früher noch neuerdings könne unbemerkt geblieben sein, nicht zu den Priestern des Mammon bekennte.

Das liebende Herzchen sah sogleich ein, wie 207 bitter Unrecht sie mir getan hatte und fragte unter heißen Tränen, ob ich ihr jemals verzeihen könnte. Nachdem ich ihr nun die erflehte Verzeihung gewährt hatte und die alte Treue zwischen uns durch einen herzinnigen Händedruck neu besiegelt worden war, lief sie glücklich wie ein Kind mit dem Gelde zu ihrer mütterlichen Freundin. Nachher teilte sie mir mit, daß auch für mich ein Zimmerchen vorhanden sei. Es lag unter dem Dache. Das geschah, wie mir die beiden Weiblein erklärten, damit den bösen Zungen, deren es an einem Badeorte womöglich noch mehr als anderswo gäbe, jeglicher Vorwand zu übler Nachrede von vornherein abgeschnitten sei.

Ehe ich nun aber in diese Wohnung einzog, begab ich mich in das andre Haus der Müllerin, das sie selbst bewohnte und an Fremde vermietete. Hier forderte ich sie auf, ihr Gesangbuch herbeizuholen, desgleichen auch zwei Wachskerzen. Danach wurde eine schwarze Samtdecke auf ein Tischlein gelegt, die Kerzen wurden in silberne Leuchter gesteckt und angezündet, und dazwischen lag das Gesangbuch. Nunmehr leistete Josefa mir einen Eid, daß sie mit der Vermietung des Zimmers und des Mobiliars nicht gegen irgend ein Gesetz verstieße, sei es des Staates oder der Moral.

Wenn nun die Frömmler unter meinen Lesern, wie es denn bei der so ausgeprägten Richtung meines Lebens und meiner Betrachtungen auf das Sittliche nicht ausbleiben wird, daß 208 neben vielen Frommen auch etliche Frömmler das Buch lesen, wenn die Art Menschen also mich etwa solchergestalt ins Gebet nehmen wollte: lieber Bruder, da bist du unversehens in eine Schlinge Satans geraten; wie konntest du ein unerfahrenes Frauenzimmer veranlassen, um einer geringfügigen Sache willen einen Eid zu leisten? So erwidre ich diesem Bruder: Hab ich dich, alter Fuchs? Also diese Angelegenheit erscheint dir geringfügig, die nicht mehr und nicht weniger war als eine Beruhigung meines Gewissens?

Des ferneren: wenn das deine christliche Liebe ist, daß du ohne weiteres zu meinen Ungunsten annimmst, das Weib wäre unerfahren gewesen, so laß dir gesagt sein und laß es dir zu heilsamer Beschämung dienen, Josefa Müller war im Gegenteil dermaßen erfahren, daß man sich nur der Hoffnung getrösten kann, sie möchte nicht, als sie vor einigen Jahren hat müssen ins Gras beißen, dahingefahren sein, wo die Mercado, Esperanto und Pedro sitzen. Welche Erfahrenheit schon daraus in all ihrer Häßlichkeit sichtbar wird, daß sie die Villa nicht selbst an Fremde vermietete, sondern die gute, unschuldige Urania dazu verführte, die es dann am Schlusse nur dieser ihrer offenbaren Schuldlosigkeit verdankte, daß die Sache keine Folgen für sie hatte. Hieraus erhellt denn wieder, daß es diesem feisten Teufelsbraten nicht darauf ankam, mich ernsten Mann sogar eidlich hinters Licht zu führen.

Urania hatte gleich einen Mieter gefunden, 209 was bei der unwiderstehlichen Anmut ihres Wesens nicht weiter verwunderlich war. Das machte natürlich manche Arbeit, ich hatte vollauf mit dem Proben und mit Ueben zu tun und so durften wir endlich ein bescheidenes, aber selbst verdientes und dafür um so köstlicheres Behagen genießen.

Unsere Tafel wurde aufs angenehmste durch manches gute Wildpret bereichert. Als nämlich wieder einmal meine Flöte in stiller Mitternacht das Echo der Berge wachrief, nahte sich mir ein Mann in grünem Jagdkleide. Der nun gab sich mir als Oberförster zu erkennen und redete diese Worte: Schon in mancher Nacht, fremder Meister, habe ich von jenem Schießstande aus den wonnevollen Tönen des von Ihnen gleichsam mit einer Seele begabten Instrumentes gelauscht. Ich Priester der strengen Diana wurde das erste Mal im Anfange von einem sehr großen Schrecken ergriffen, weil mir gemäß der über das Menschliche hinausgehenden Süße Ihrer Flötentöne der Urheber nicht irgend ein Mensch, sondern der Gott Pan zu sein schien. Nachdem aber der Schrecken durch die Erwägung, daß es dem Christen nicht geziemt, jenen Gott als etwas wirklich Seiendes anzunehmen, überwunden worden war, ergriff mich fast der Zorn, weil Ihre Musik den in meinem Gemüte gehegten Vorsatz, das mörderische Blei meines Geschosses einem sei es von Ungefähr, sei es auf dem Wege zur Tränke sich nahenden Reh in die nichts ahnende Brust 210 zu senden, zu vereiteln schien. Bald aber wandte die Muse der Töne meinen harten Sinn, so daß ich nunmehr das Vergnügen, welches mir das Anhören Ihrer unsterblichen Flötentöne gewährt, höher schätze als die rauhen Freuden des Jägers. Nehmen Sie, flehe ich, als ein geringes Zeichen meiner sehr großen Dankbarkeit dies Gewehr von mir an. Ich werde meinen Untergebenen befehlen, daß man Sie, o Meister, ungestört dem Waidwerke obliegen lasse, so oft Sie ein Verlangen danach in der Brust verspüren.

Ehe ich mich von meiner Rührung so weit erholt hatte, daß ich ihm hätte können in geziemender Weise antworten, hatte mir der edle Oberförster sein Gewehr umgehängt und war meinen Blicken im Dunkel des Waldes entschwunden.

Die Absicht dieses Buches ist nicht, der Nachwelt das Bild eines Mannes zu überliefern, der völlig frei von menschlichen Fehlern oder gar Schwächen durchs Leben gegangen wäre. Das ist dem Sterblichen nun einmal nicht verliehen. Wie ich bisher, sollt ich wenigstens denken, keine Gelegenheit habe lassen vorübergehen, sogar ausdrücklich auf die Stellen am Wege meines Lebens hinzuweisen, wo ich – wohl nicht geradezu vom Pfade der Tugend abgegangen bin, aber doch gewissermaßen in dem Dunkel unsrer unzulänglichen Einsicht auf einen Augenblick die genaue Richtung verloren habe; so will ich hier den Finger auf die Stelle meines moralischen 211 Menschen legen, die sogar dauernd in dem Zustande einer leichten Verwundbarkeit geblieben ist: es war eine übergroße Jagdlust. Ich will es frei bekennen, daß mich mehr als einmal die Versuchung angewandelt hat, das ersparte Geld hinzugeben, um mir eine Gelegenheit zur Ausübung der Jagd zu verschaffen. Welche Versuchung mir freilich manchen bittern Kampf gekostet, mich aber dafür auch, eben durch den immer siegreichen Kampf, mit erhöhten Kräften für den dornigen Weg zu der Weisheit des Alkibiades ausgerüstet hat.

Wer beschreibt nun meine Freude, als mir die Erlaubnis jenes würdigen Beamten so unerwartet und doch so sichtbarlich als Lohn für meine Enthaltsamkeit in den Schoß fiel!

Mit dem Flötenspiel im Walde war es nun freilich vorbei. Dafür begleitete mich ein anderer werter Freund. Ich brauche ihn nicht zu nennen, der Leser wird ihn erraten. Das Gewehr in der Rechten, den Platon in der Linken verlebte ich im sanften Lichte Lunas unvergeßliche Stunden eines doppelten Vergnügens. Von welcher Zweiheit ich freilich den Preis, alles wohl erwogen, unbeschadet der Dankbarkeit gegen den wackeren Oberförster, doch mußte dem Platon zuerkennen. –

Ehe ich jetzt weiter schreibe, will ich ein für allemal bemerken, daß ich sturmerprobter Greis nicht für die sanfte Jugend schreibe, noch auch für weiche Frauenseelen. Wer etwa an meinem Leben, für das ich auch als völlig 212 gleichbedeutend das Wort Leiden setzen darf, bis hierher teilgenommen hat und sich gleichwohl noch einen Bodensatz seines Kinderglaubens an die Güte der Gattung Mensch hat können erhalten, der soll wenigstens an dieser Stelle das Buch zumachen.

Nachdem das nun, hoffe ich, geschehen ist, fahre ich für die starken Geister, die nicht an dieser Stelle vom Wagen abgesprungen sind, folgendermaßen fort.

Da es mit meinen nächtlichen Musikübungen ein Ende hatte, mußte ich das zu Hause nachholen. Denn ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich mich nicht zu einer, sofern sie möglich sein sollte, noch vollkommeneren Meisterschaft hinaufgearbeitet hätte, teils aus Begeisterung für die hehre Kunst, teils wegen des heißen Wunsches, meine Pflicht zu erfüllen und mir das Lob des Kapellmeisters sowie den Beifall der Kunstverständigen, an dem es mir nie gefehlt hat, bestens zu verdienen.

Nun hatte Uraniens Villa ein älterer Mann bezogen, hieß Wellner, dem das Schicksal in seiner unbegreiflichen Blindheit viel Geld beschert hatte. Von einer andern Warte aus ließ sich vielleicht auch sagen, daß eine gewisse Gerechtigkeit in dieser Bescherung sein möchte, weil er sonst weder äußerlich noch innerlich mit irgend einer Eigenschaft ausgerüstet war, die seine Gegenwart hätte können für andre Menschen erträglich machen. Auch hatte ihn der liebe Gott, für welche Sünden, darüber habe ich meine sehr 213 bestimmten Vermutungen, die ich aber möchte für mich behalten, mit Nervenschwäche bestraft. Der alte Mensch war natürlich Junggeselle, denn er war dermaßen abstoßend, daß ihn trotz seines vielen Geldes niemand hätte mögen heiraten. Bloß zwei Krankenschwestern hielten um der ihrem Berufe geziemenden Barmherzigkeit willen bei ihm aus.

Wer beschreibt nun meine Gefühle, als ich eines Mittags, da ich meine Seele ganz an ein Flötenkonzert von Palästrina hingegeben hatte, durch ein ungehöriges Pochen aus meiner himmlischen Entrücktheit in die kahle Wirklichkeit gerissen wurde, als die ältere und häßlichere der beiden Schwestern in mein den Musen geweihtes Zimmerchen eindrang, als ich das schnöde Wort hören mußte, Herr Wellner könne das Gequietsche (!!!) nicht mehr aushalten!

Ich habe es in jüngeren Jahren gewiß niemals an Ehrerbietung vor dem höheren Lebensalter fehlen lassen, dermaßen zwar, daß es mir kein Staatsangehöriger des alten Sparta darin hätte zuvorgetan, völlig zu schweigen von einer gewissen jetzt lebenden Bürgerschaft, die ich aus Schonung nicht näher bezeichnen möchte. Welche Bürgerschaft sich, insbesondere in ihrem Verhalten gegen mich, keineswegs auf der Kulturhöhe des rauhen Sparta zeigt, das doch bei den Griechen als ganz kulturlos verschrien war, sondern auf der jener so trefflich aufs praktische angelegten Völker, wo man die alten Leute kurz und bündig mit Keulen totschlägt.

214 Diesmal aber hatte man nicht nur den Künstler in mir beleidigt. Das allein hätte mich nur veranlaßt, zu den vielen Siegen, die ich, wie dem Leser bekannt ist, über mich erfochten hatte, still ein neues Lorbeerblatt zu pflücken. Sondern ich hatte die Ehre des göttlichen Palästrina wahrzunehmen, dessen Musik dieser Tempelschänder ein Gequietsche nannte.

Da gab es nicht Zaudern noch Zimpern. Erklärte der sogenannten Dame, die ich leider nach allerlei Anzeichen für ganz was andres halten mußte als eine Krankenschwester, wenn diesem Wellner meine Musik zu hoch wäre, so befände sich auch ein Tingeltangel am Ort. Leider wäre meine Zeit allzu sehr in Anspruch genommen, sonst wäre ich gern bereit, dem Herrn den Unterschied zwischen einem Palästrina und einem Bänkelsänger, so weit es möglich sei, also eben aus dem gröbsten heraus, begreiflich zu machen.

Was ist da weiter zu berichten! Der Mensch hatte so wenig Schamgefühl, daß er sich in seiner ganzen Roheit bloßstellte, indem er von Uranien verlangte, sie solle ihn von seinem Vertrage entbinden. Er hatte nämlich auf sechs Wochen gemietet. In ihrer unbeschreiblichen Gutherzigkeit willigte Urania in seinen Abgang, unter der einer Schenkung gleichkommenden Bedingung, daß er auf drei Wochen zahlen mußte, wogegen ihr, wie ja nicht mehr als Rechtens war, die freie Verfügung über ihre Villa zustand.

Es schien, als wollte sich der Zufall ausnahmsweise auf die Seite der guten Sache stellen und 215 jenen Kunstbarbaren beschämen. Denn schon den Tag darauf hatte Urania die Wohnung abermals vermietet, diesmal an ein reiches Ehepaar.

Es schien, sage ich. Denn, so ungeheuerlich es klingt, auch hier wurde Beschwerde erhoben, ja, der Leser muß es mir glauben, so hart es ihm auch ankommen wird, die Beschwerde ging besonders von der Dame aus, die sonst zu den wirklichen Damen gehörte, sich auch nicht übel zu kleiden verstand. Mit welcher Kunst freilich der Umfang ihrer geistigen Fähigkeiten wohl möchte abgegrenzt sein.

Nachdem Urania nun mit diesen Leuten ein gleiches Abkommen getroffen hatte, vermietete sie die Wohnung an zwei alte Damen, ein Schwesternpaar, wiewohl ich auf das entschiedenste abriet; denn ich hatte allen Glauben an die Menschheit verloren.

Leider sollte ich noch über mein eigenes Erwarten recht behalten. Nicht genug, daß sich auch diese beiden dem Schmelz meiner Flötentöne gegenüber als Barbarenweiber auswiesen, die alten Vetteln ließen sich, nachdem sie am zweiten Tage ausgezogen waren, von diesem Wellner aufhetzen, daß sie die bezahlte Miete, die Urania in ihrer fast töricht zu nennenden Bescheidenheit wiederum nur auf drei Wochen bemessen hatte, zurückverlangten. Da aber wallte mein Herzblut vor Empörung über. Ich stand Uranien ritterlich zur Seite und erreichte durch eine ernste und gründliche Rechtsbelehrung, daß 216 sich Musje Wellner heftig vor den möglichen Folgen seiner Bosheit erschreckte. Der Bekehrte wirkte auf die beiden alten Schachteln wacker in unserm Sinne ein, indem er ihnen klar machte, daß er und sie überaus nervöse Menschen seien und demgemäß doch wohl in einem Prozesse nicht würden recht behalten. Selbst der Badekommissar, der sich eingemischt hatte, zog angesichts der aufrichtigen Reue des ehrlichen Wellner mit langer Nase ab. Denn Recht mußte doch Recht bleiben.

Mir war aber der Ekel vor der menschlichen Niedertracht so hoch gestiegen, daß ich mit meinem überquellenden Gefühl in die Einsamkeit flüchtete, so oft ich meiner Muse opferte.

Urania veröffentlichte demgemäß durch ein Inserat in dem Wohnungsanzeiger sowie durch ein an der Villa angebrachtes Plakat, daß keine Flöte mehr gespielt würde.

Denn sie hatte sich endlich von der Gefühlsroheit der Menschen überzeugt.

Es fand sich ein Mieter ein, der mir aufs höchste mißfiel. Von Berufs wegen bezeichnete er sich als Künstler, meines Erachtens nicht ganz mit Recht, wiewohl ich die Wichtigtuerei dieser Art Leute nicht leiden mag: er war nämlich Clown in einem Zirkus. Als ein geschworener Jünger Platons gebe ich im allgemeinen nichts auf das Aeußere des Menschen. Aber was zu viel ist, ist zu viel. Diesem Kerl, er nannte sich Mister Hops oder so ähnlich, sah man es weiß Gott an der Nase an, was er für ein Vogel war; 217 nämlich ein Schürzenjäger, und zwar ein über alle Maßen wüster. Die Nase ragte unnatürlich lang aus dem Gesichte heraus, war auch in der Breite ganz ohne Maß, bog sich am Ende mit einem riesigen Zipfel nach unten und war weder grade, noch krumm, sondern eine gestaltlose Fleischmasse. Ist nun bald ein halbes Jahrhundert seither vergangen, aber ein solches Monstrum von einer Nase hab ich nicht wieder gesehen und danke Gott dafür; denn sie konnte einem im Traume begegnen.

Urania aber meinte in ihrer unerschöpflichen Nachsicht, ein solches Vieh von einem Menschen sei doch eben auch eine Art Mensch, und erklärte es für ein Gebot der Barmherzigkeit, ihn aufzunehmen. Damit hatte sie meine schwache Seite, die Gutherzigkeit, getroffen, und so wollt ich denn auch nicht nein sagen. Welche Schlange wärmten wir da am Busen!

Urania ging in ihrer Milde so weit, daß sie diesem Auswurfe der Menschheit mit einer Liebenswürdigkeit begegnete, die mir ahnungsvollem Gemüte ganz übel angebracht erschien, dermaßen, daß es darüber zu den ärgerlichsten Auftritten zwischen uns kam.

Muß beiläufig bemerken, daß die Neigung diesmal viel tiefer bei mir ging, als da ich das erste Mal, als Primaner, mit Uranien zusammen war. Lag wohl nicht so sehr daran, daß sie noch schöner geworden war, als an mir selbst.

War also tief besorgt, daß sich das liebe Kind 218 in seinem arglosen Zutrauen möchte den guten Ruf gefährden.

So saß ich nun eines Mittags auf meinem Zimmer und lauschte mit nicht grade angenehmen Gefühlen nach unten. Ich war eben von einer Probe gekommen. Das Stubenmädchen hatte mir gesagt, der Mister hätte Uranien wegen irgend eines Umstandes, den er anders wünschte, sprechen wollen, und nun wäre sie schon seit einiger Zeit bei ihm drinnen. So machte es der Himmelhund öfter.

Mir ging das Alleinsein Uraniens mit diesem Bajazzo durchaus gegen das Gefühl. Ich begriff es nicht, daß sie an der Unterhaltung eines Menschen Vergnügen fand, der den Platon nicht hätte können vom Cicero unterscheiden.

So ging ich unruhig auf und ab, verlebte Minuten, die mir zu Stunden wurden, und versuchte umsonst, Uranien durch starkes Auftrampeln das Unvorsichtige ihres Benehmens zum Bewußtsein zu bringen.

Nichts war zu hören. Mir wurde heiß und kalt. Am Ende legt ich das Ohr an den Fußboden. Trotz meines scharfen Gehörs vernahm ich nur eine Art Wispern, das nicht geeignet war, meine Besorgnisse wegen des guten Rufes meiner Urania zu beschwichtigen.

Da griff ich in meinem Grimm zu meiner Flöte, um zu dem, was da unten mochte vorgehn, die gehörige Musik zu liefern.

Als ich mitten im herrlichsten Quitschen war, 219 hört ich Uranien unten schreien, daß es durchs ganze Haus gellte.

Ich stürze hinunter. Urania steht neben dem Sofa und wehrt sich wie eine Wildkatze. Der schurkische Clown schäumt vor Gier. Ich reiße ihn zurück. Urania entflieht.

Da mich nun die Undankbarkeit dieses Burschen einigermaßen verstimmte, beschloß ich, ihn mit allen mir gebotenen Mitteln darüber zu belehren, daß dergleichen Späße bei uns Niedersachsen nicht beliebt sind.

Er verstand die Lage der Dinge so verkehrt, daß er sich zur Wehr setzte, und ich muß sagen, so wenig mir der Unflat sonst den Namen Mensch zu verdienen schien, er war ein Gegner, mit dem ich mein Tun hatte. Den Stoppelhar in seiner wüsten Kraft niederzuwerfen, war dagegen eine kleine gymnastische Uebung. Indessen siegte am Ende natürlich doch meine sittliche Entrüstung über seine tierische Wut.

Nun begann in dem großen Salon ein Treiben, an das ich noch heute nicht ohne ein gewisses Vergnügen zurückdenke. Meine Flöte hatt ich in der Hast mitgebracht. Sie diente mir nun statt der Peitsche. Des lustigen Geknalles mußten wir freilich entbehren, aber das ersetzte unser Eifer. Mister Hops erwies sich als Meister in seinem Fache, indem er mich wohl eine Viertelstunde lang ohne jede Pause durch die kühnsten Hochsprünge über Tische und Stühle erfreute. Ich hielt mich mit meiner Flöte dicht hinter ihm und feuerte ihn durch Zurufe, wie he, hopp, 220 allons, zu immer bewunderungswürdigeren Leistungen an.

Leider endete das muntere Spiel mit einem häßlichen Mißklange. Mister Hops warf nämlich eine kostbare Lampe vom Tische. Der Verlust, den das für meine geliebte Urania bedeutete, machte mich verdrießlich. Packte demgemäß Mister Hopsen beim Kragen und tadelte ihn wegen seiner Ungeschicklichkeit auf das eindringlichste.

Nun war das so weit ganz wohl gediehen. Da stand plötzlich ein Polizist im Zimmer und fragte erstaunt, was hier geschähe.

O, sag ich, wir tun hier nur, was unsres Berufes ist. Ich bringe Mister Hopsen die Flötentöne bei und er hopst mir aus Dankbarkeit was vor.

Indem kam Urania herein. Der Polizist, dem sie in ihrer unerschöpflichen Güte seinen dornenvollen Beruf zuweilen durch kleine Geldgeschenke versüßt hatte, wandte sich ehrerbietig an sie, gleichsam als hätte sie ihm seine Instruktion zu geben.

Sie erklärte ihm mit einem strengen Seitenblicke nach dem verbrecherischen Mister hin, daß sie ihm allerdings möglicherweise binnen kurzem würde eine Anzeige zu erstatten haben. Vorläufig bäte sie ihn aber herzlichst, seinen Besuch nicht als amtlich ansehen zu wollen, da immerhin noch nicht jede Möglichkeit der Gnade abgeschnitten sei.

Der Gendarm zog ab.

Urania stand da wie die zürnende 221 Gerechtigkeit, schön und hart. Wie ich mir den Auftritt heute vergegenwärtige, muß ich sagen, daß sogar ich selbst in dem Augenblicke nicht gewagt hätte, sie anzurühren.

Den unglückseligen Mister würdigte sie keines Blickes. Selbst wenn sie mit ihm sprach, sah sie an ihm vorbei, gleichsam als fürchtete sie, ihre Augen zu beschmutzen.

Der Verbrecher nahm einen schwachen Ansatz, sich aufs Leugnen zu legen. Urania sagte eiskalt: Es ist mir lieb, daß Sie die Sache so auffassen. Solche Dinge zu vertuschen, ist gefährlich. Kommt das Verbrechen durch einen Zufall, etwa durch Dienstboten, doch noch ans Licht, so ist man immer Mißdeutungen ausgesetzt. Mögen denn die Geschworenen sich schlüssig werden, wem sie glauben wollen, meiner Darstellung und den ehrlichen Augen dieses jungen Mannes, oder – – Ihnen.

Ich sehe Uranien vor mir, wie sie ihm über die Schulter hinüber dies »Ihnen« ins Gesicht schleuderte. Er leugnete denn auch nicht länger und bat um Gnade.

Urania richtete es so ein, daß er selbst davon anfing, ob er die Sache nicht könnte mit einer Summe Geldes abmachen, über deren Verwendung sie nach ihrem freien Ermessen verfügen sollte. Erst nach langem Flehen, Jammern und Steigern wurde ihm das endlich zugestanden, als eine unverdiente Gnade, einzig aus dem Grunde, weil Urania mit der widerwärtigen Angelegenheit nichts mehr mochte zu tun haben.

222 Es ist eine Sünde und Schande, was so ein Gaukler für ein Geld verdienen muß: er zahlte in baren Banknoten.

Ein Stubenmädchen und ich packten seine Sachen, denn er konnte das nicht. Inzwischen holte das andere Mädchen eine Droschke, die ihn in eine Privatklinik fuhr. 223

 


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