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Recht muß doch Recht bleiben
Wenn das Auge des Forschers sinnend auf der glorreichen Geschichte des griechischen Altertums verweilt, wird es nicht umhin können, sich bei der Betrachtung derjenigen berühmten Männer, welche von den Gerichten unschuldig durch die härtesten Strafen gekränkt worden sind, mit einer Träne zu füllen.
Denn ist nicht jener Phidias, dessen Zeusbild, sagt man, die Herzen der es einmal erblickt habenden Menschen bis zu dem schließlich allerdings doch unabwendbaren Tode mit Freude erfüllt hat, im Gefängnisse gestorben?
Was soll ich über den Themistokles sagen, der nachdem er den Staat zu dem höchsten Glanze geführt hat, von den Gerichten eben desselben Staates mit Verbannung bestraft worden ist!
Ich übergehe den Aristides, der, als der Gerechteste unter seinen Volksgenossen bekannt, durch ein höchst ungerechtes Gerichtsverfahren einer sehr harten Bestrafung würdig erkannt worden ist.
O über die Athener, welche selbst den 352 Sokrates, ihren nicht nur bei den Alten, sondern auch bei uns Lebenden einerseits wegen seines Gehorsams sowohl gegenüber den Gesetzen des Staates, wie gegenüber den Vorschriften der Tugend, anderseits wegen seiner Weisheit sehr berühmten Mitbürger, der sich überdies als Lehrer des Platon um die Wissenschaften hochverdient gemacht hat, eine überaus harte Strafe, nämlich den Tod erdulden ließen!
Wer nun, indem er diese Urteilssprüche, die doch von den höchsten Gerichten des Staates gefällt worden sind, reiflich überdenkt, wird sich entschließen, einen Mitbürger deshalb gering zu achten, weil er von irgendeinem Gericht einer Verfehlung schuldig erachtet worden ist? Müssen wir nicht gewärtig sein, daß die Nachwelt jene Richter als ungerecht oder töricht erkennt, den Verurteilten aber mit den höchsten Lobpreisungen erhebt?
Geziemt es uns etwa gar, einen Mann deshalb weniger hoch als andere Bürger zu schätzen, weil eine Untersuchung wider ihn geführt worden ist, die aber nicht mit einer Bestrafung, sondern mit einem Freispruche geendet hat?
Müssen wir nicht vielmehr einen solchen Mann, besonders wenn man ihn durch harte Mittel, wie zum Beispiel eine Untersuchungshaft, bedrängt hat, als einen unschuldig Verfolgten der höchsten Ehrungen würdig sprechen, indem wir ihn dem Phidias, dem Themistokles, dem Aristides, ja sogar dem Sokrates gleich schätzen?
353 So überliefere ich denn die Tatsuche, daß es den Verschworenen damals gelungen ist, über uns dem Treiben der Welt abgewandte, eben deshalb aber freilich arglose und falschem Zeugnisse wehrlos preisgegebene Naturen das Uebel der Untersuchungshaft zu bringen, nicht nur ohne Beschämung, sondern sogar mit einigem Selbstgefühl der Nachwelt, von der ich ein unparteiisches Urteil erwarte. Den Mitlebenden allerdings habe ich dies mein Ungemach weislich verschwiegen; denn die kenne ich.
Ein Ungemach war es freilich. Wenn ich zu sagen hätte, müßte jeder Staatsanwalt vor dem Antritte seines Amtes seine anderthalb Jahre im Zuchthause sitzen, damit er weiß, worum es sich handelt, und den Mund nicht zu voll nimmt.
Ich bin mein Lebtag nicht hinter den Ofen gekrochen, wenn die Leute mir was antun wollten, sondern habe mich zur Wehr gesetzt. Wenn man aber keinen Gegner hat! Wenn man nichts tun kann, wenn man immer dasitzen und warten muß, was mit einem geschehen wird!
Auch das war sonst wahrhaftig nicht mein Fehler, daß ich mich mit der Furcht vor fernen Möglichkeiten belastet hätte. Dazu hatte mich das Leben zu fest angepackt. Aber jetzt kam's über mich! Wenn ein Feuer ausbrach! Qualm und Glut und niemand kommt, und du schreist und brüllst und haust dir die Fäuste kaput, und niemand kommt!
Das ist es, was den Forschesten zum Jammerlappen macht. daß man ganz und gar von andern 354 abhängt, daß man als gesunder Kerl hilflos ist wie die Wickelkinder.
Die Angst vor dem Feuer hatte mich so gepackt, daß ich nichts andres mehr denken konnte, als wie ich herauskäme aus dem Höllenbau. Indessen war das nur Zufall, daß es gerade das Feuer war. Kam wohl daher, daß dem Bauern der Widerwille gegen den roten Hahn von altersher im Blute liegt. Die Frommen sollen mir nicht einreden, da drinnen säße irgend jemand, der irgend was andres dächte, als wie er wieder in die freie Luft käme. Müßten sonst die alten Zuchthäusler sein, solche, die man zu den Zeiten einer verständigen Finanzpolitik an die Galgen hing.
Ein rechter Galgenvogel war es auch, mit dem sie mich zusammengesetzt hatten. Ein Kerl mit einer Gesichtsfarbe zwischen orangerot und dunkelgrün, mit einem Stich ins Marineblaue, und hielt seinen Spitzbubenkopf immer seitwärts wie ein Kolkrabe. Er hieß Reinecke, und ich denke mir, aus der Art ist er nicht geschlagen, sondern seine Väter sind seit vielen hundert Jahren die rechten Fuchsnaturen gewesen, und daher hat die Familie den Namen. –
Da ich nun das erstemal ins Verhör genommen wurde, war ich wie vor den Kopf geschlagen, starrte in die Luft und gab blöde Antworten.
Der Wärter, der Mitleid mit mir empfand, erzählte mir nachher, der Richter hätte zu dem Staatsanwalt gesagt, der Kleine mit den treuherzigen blauen Augen wäre ganz sicher der 355 Dumme bei der Sache. Der Staatsanwalt hätte gemeint, das könnte man so genau noch nicht sagen, aber der Richter hätte erwidert, ihn sollte niemand die Menschen kennen lehren.
Da wurde mir leichter ums Herz und ich sagte, das wäre schön, daß es noch Richter im Lande gebe, die ein Verständnis hätten, und nicht so lieblose Menschen wären, wie die Staatsanwälte.
Wie nun der Wärter draußen ist, verdreht der Kolkrabe die Augen und schreit: Herrgott, Menschenkind, was sind Sie von der Natur begnadigt! Diese Augen und dies dumme Gesicht, das Sie machen können, da steckt ja 'n Kapital drin!
Das konnte mir nicht gefallen, und ich sagte einigermaßen hochmütig: Was sind Sie denn überhaupt für'n Vogel?
Da macht er Augen, als wär ich ein Käfer, den er aufpicken will, und krächzt: Ich bin einer, der mehr Wissen hat, als die studierten Advokaten, und habe schon manchem redlich mit meinem Rate zur Seite gestanden, am liebsten den Leuten auf dem Lande, wo noch die alte Treue ist. Wenn Sie artig sind, will ich Ihnen auch zur Seite stehen, daß Sie auf Ihr dummes Gesicht hin freikommen. Wenn Sie sich aber mucksen, zieh ich andre Seiten auf, und schreien können Sie aus vollem Halse, denn der Wärter ist jetzt beim Essen und da läßt er sich nicht stören.
Zugleich fährt er mir mit seiner schmierigen Faust unter die Nase, daß es mir lästig wird. Indessen war es mir auch wieder lieb, daß man doch 356 eine Abwechselung hatte, und ich sagte ganz vergnügt: Hab ich den rechten Vogel erwischt? So nen Tintenklex, der den Leuten das Ihre abfinanzt? Auf dem Lande ist dein Jagdgebiet? Das glaub ich, du Galgenstrick! Ich kenne doch meine Bauern! Wer's gut mit ihnen meint und ihnen die Wahrheit sagt, der predigt tauben Ohren, aber von so 'ner stinkigen Käsemade lassen sie sich kahlfressen!
Somit nahm ich ihn bei den Händen und ließ ihn wegen seines schlechten Charakters vor mir niederknien.
Er schrie in seiner Todesangst nach dem Wärter. O, sag ich, der ist eben nicht abkömmlich. Er ißt nämlich zu Mittag, und da läßt er sich nicht stören.
Indem ich nun fürchtete, daß die Richter den pfiffigen Satan doch nicht würden fassen können, ließ ich ihm eine einstweilige Bestrafung angedeihen. Denn ich war tief in meinem Rechtsgefühl verletzt.
Nun kam der Wärter und war unzufrieden, weil es hier so laut gewesen sei. Da wurde der Mensch noch dreist und wollte sich über mich beschweren. Ich stellte aber seine schlechte Gesinnung in das rechte Licht, daß er sich hatte wollen aufs Leugnen legen, da doch sein schändliches Treiben am Tage lag, und das Recht mithin auf meiner Seite war. Er trieb aber seine Unverschämtheit so weit, daß er von dem Anstaltsarzte untersucht zu werden verlangte.
Der Wärter hob den Finger auf und sagte 357 warnend: Reinecke, Reinecke! Sie wissen, wie Sie hier angeschrieben sind! Der Herr Doktor ist über Land und kommt erst am späten Abend zurück. Wenn der noch hierher muß und kriegt es trotz der Dunkelheit heraus, daß Sie ein Simulante sind, da werden Sie Ihre Stellung nicht verbessern. Halten Sie hübsch Ruhe, damit daß ich nicht über Sie berichten muß!
So war denn nun der Friede anscheinend hergestellt. Kaum waren wir aber allein, da fing Musje Reinecke wieder an. Wollte mir seinen Rat aufdrängen und wollte mich schlankweg du nennen. Das konnte mir nicht passen und ich sagte streng: So weit ist es nicht mit mir, daß ich mit einem Kerl, wie du einer bist, auf dem Duzfuße stände! Laß dir gesagt sein, daß ich ordentlicher Leute Kind bin! Kommst du mir noch einmal mit deinen faulen Ratschlägen, so muß ich annehmen, daß deine Reue nicht ehrlich gewesen ist.
Seitdem sind wir ganz wohl miteinander ausgekommen. Er begegnete mir mit der größten Ehrerbietung, denn er fühlte selbst, daß er durch meine wohlmeinende Strenge zu einem bessern Menschen wurde.
Bald darauf hatte ich noch ein Verhör zu bestehen. Da es aber wieder der gute Herr Gerichtsrat war, fürchtete ich mich nicht, sondern gab mich ganz wie es meine Art war, zutraulich und voller Treuherzigkeit. Der würdige Herr wußte schon, daß ich noch nicht gerichtlich bestraft worden war, denn danach hatt er sich in seiner 358 Umsicht bei der Behörde meiner Heimat erkundigt. Jener Strafbefehl wegen übergroßer Kunstbegeisterung war ja dem Künstler William Brinks zugestellt, und ich hatte damals in all den Aufregungen versäumt, das richtig zu stellen. So fragte er denn nur mehr nebensächlich, bestraft wär ich ja wohl noch nicht.
Im übrigen erzählte ich ihm der Wahrheit gemäß, daß ich mir mein Brot hatte müssen als Maurer verdienen, ehe mich die schöne, vornehme Dame wie eine Fee an das Licht gezogen hatte. Da er nun meinte, ich hätte ja wohl die Dorfschule besucht, bestätigte ich das, wie es ja an dem war. Daß ich später noch auf dem Gymnasium gewesen war, mocht ich ihm nicht sagen, denn ich schämte mich, weil ich es trotzdem nur bis zum Maurer gebracht hatte. Dabei fügt ich in meiner großen Gewissenhaftigkeit hinzu, wegen der Vorstrafen müßt ich mich einbessern, denn auf der Schule wäre es leider nicht ganz ohne einiges Nachsitzen abgegangen.
Der edle Menschenfreund hielt die Akten hoch und verschwand mir dahinter. Ich bemerkte wohl, daß er mir sein Vergnügen über diese, ihm leider wohl ungewohnte Wahrheitsliebe verbergen wollte.
Als nun das Verhör soweit beendet war, sollt ich das Protokoll unterschreiben. Jetzt war mein Triumph gekommen und ich sagte stolz: Schreiben? O, was das anbelangt, da steh ich meinen Mann! Lateinisch oder deutsch, Herr Gerichtsrat?
359 Ich malte meinen Namen denn auch wirklich mit sehr schönen Buchstaben, und der gute Richter hatte seine Freude dran.
Dauerte nicht lange, so ward ich zu der Hauptverhandlung geladen. Der Staatsanwalt hatte, der Schwäche seiner Position bewußt, die andern Punkte fallen lassen, und nur die Affäre wegen der hundert Dollars zur Anklage verstellt. Der gute Gerichtsrat hatte dagegen, das wußt ich von dem Wärter, dem Gerichtshofe meine kindliche Unschuld recht beweglich zu Gemüte geführt, und war dabei hart mit dem Staatsanwalt aneinander geraten; denn sie wollten doch alle beide nicht gern Unrecht behalten. Als einziger Zeuge war der Oekonomierat geladen.
Da es nun so weit war, daß ich gleich mußte abgeholt werden, verabschiedet ich mich von Reinecke und sagte ihm: Wenn es das Unglück wollte und sie sollten mich verurteilen, und wir sind nachher miteinander allein, so drehst du dich nach der Wand um und siehst und hörst nicht, was hier vorgeht, bis daß du mich röcheln hörst. Sonst sollst du was kaltes im Halse fühlen. Verstehst du mich, du Hundsfott?
Er wurde, was bei ihm blaß bedeutete, nämlich zwischen grasgrün und zitronengelb, mit einem Stich ins Himmelblaue, zitterte am ganzen Leibe und sagte endlich: Herr Brinkmeyer, ich habe Sie für tapferer gehalten. Es gibt ja eine zweite Instanz! Da müßten Sie spätestens mit Ihrer Unschuld und Ihren Fähigkeiten freikommen.
Ich ließ mich aber auf kein Paktieren mit dem 360 Hallunken ein, sondern warnte ihn noch, er sollte sich nicht unterstehen, mich etwa in meiner Abwesenheit dem Wärter zu verraten, denn ich würde ihn früh oder spät zu finden wissen und was ihm dann blühte, das setzt ich ihm so anschaulich auseinander, daß ihm die Zähne klapperten.
Ich hatte nämlich ein starkes Messer bei mir, das hatten die dummen Kerle nicht gefunden. Wenn ich wäre verurteilt worden, hätt ich mir damit die Halsader durchgeschnitten, und wenn einer mich hätte verhindern wollen, so hätt ich es ihm eher selbst in die Kehle gesteckt, ehe daß ich von meinem Vorhaben abgelassen hätte.
Ich mochte die verfluchte Luft hier nicht mehr atmen, fühlte mich auch dem lieben Gott gegenüber in meinem Rechte. Hatt ich etwa die hundert Dollars für mich haben wollen, oder nicht vielmehr für das Haus meiner Väter? Hatt ich etwa wollen den alten Säufer, für den übrigens hundert Dollars ein Dreck waren, um das Seine bringen? Nein, ich hatte mir vorgesetzt, ihn bei Heller und Pfennig zu bezahlen, wie es denn auch bald geschehen ist.
Wenn ich dafür sollte ehrlos gemacht werden, dann sah ich es als mein Recht an, vom Leben dahinzufahren, mochte aus meiner armen Seele werden was wollte.
Die Sache ließ sich nicht gut an. Ich faßte immer wieder in die Tasche, um mich zu vergewissern, daß ich das Messer noch hatte.
Der versoffene Oekonomierat hatte sich aus 361 einer Tränendrüse in einen Giftbowist verwandelt, was ja auch nicht weiter verwunderlich war. Denn die Verschworenen hatten ihm eingeredet, wir hätten seine heiligsten Gefühle dazu gebraucht, Schindluder mit ihm zu spielen, und so was verträgt der Sanfteste nicht.
Die Richter sahen immer finsterer drein. Der gute Gerichtsrat tauchte im Saal auf, schüttelte betrübt den Kopf und ging in heftiger Bewegung wieder hinaus.
Der Staatsanwalt blickte nach mir hin wie ein Laubfrosch, dem ein Brummer ins Glas gekrochen ist. Ich nahm einen der Stühle, die für die Zeugen dastanden, setzte ihn auf meine Bank, stieg hinauf und redete diese Worte: Wie lange eigentlich, Herr Oekonomierat, gedenken Sie unsre Geduld noch zu mißbrauchen? Welchen Gipfel der Dreistigkeit wollen Sie in Ihrem Alter noch erklettern? In dem Maße nämlich, wie es richtig ist, was bei uns Deutschen immer die gemeinsame Meinung der Edeln, Weisen und Gerechten unter den Männern gewesen ist (und wer unter uns außer Ihnen wird sich wohl zu einer andern Art der Volksgenossen bekennen?), daß Wahrhaftigkeit von allen Tugenden am höchsten geschätzt wird, um so tiefer müssen wir Sie, Herr Oekonomierat, scheint es mir, verachten. Gedenken Sie jenes Knebels, welcher angewandt werden mußte, um Sie auf einige Stunden – zwar nicht zu einem der Wohlanständigkeit beflissenen Bürger des Staates, aber doch zu einem nicht allzutief den Barbaren 362 untergeordneten Menschen zu machen, gedenken Sie jener Tischtücher, welche Sie, meiner beständigen Warnungen, tadelnden Reden und Hülfeleistungen ungeachtet an vielen Abenden mit Portwein beschmutzt haben, nicht zu erwähnen jener noch unflätigeren und fast viehisch zu nennenden Besudelungen, von welchen wir, schlage ich vor, wegen der Würde der Richter uns nicht allzu eingehend unterhalten wollen. Entfernen Sie sich, Herr Oekonomierat, aus der Gesellschaft von uns den Wissenschaften, den Künsten, den Tugenden hingegebenen Männern, in die Sie dem geistigen Range nach nicht hereingehören und in der Sie sich, eben deswegen, nicht wohlfühlen können, gehn Sie hinaus, machen Sie, daß Sie fortkommen, laufen Sie, stürzen Sie, brechen Sie durch!
Nachdem der Oekonomierat auf seine Bitte von dem Gerichtsdiener hinausgeführt worden war, erhob sich der Präsident auf das anständigste von seinem Sitze, verbeugte sich und lüftete sein Barett, welchem Beispiel die andern Richter, die Referendare und der Staatsanwalt geziemend nachkamen. Hiernach verbeugte sich der Präsident zum zweitenmal, womit er mir wohl ausdrücken wollte, daß seine persönliche Hochachtung sogar noch über die amtliche hinausginge, und redete diese Worte: An Ihrem soeben vollbrachten rednerischen Meisterwerke, das nicht nur uns Gelehrte, sondern auch den profanen Haufen und selber den Herrn Staatsanwalt mit dem höchsten Entzücken erfüllt hat und das einer, der 363 es von Ungefähr, ohne Kenntnis des Urhebers, angehört hätte, gewißlich dem Goethe, dem Chrysosthomus, ja sogar fast dem Cicero zuschreiben würde, erkennen wir Sie, Herr Brinkmeyer, als einen von denjenigen unter den Sterblichen, welche uns andern, wegen der großen Liebe der Musen zu Ihnen, als höchst ehrwürdig und gleichsam unverletzlich gelten müssen. Wollen Sie uns nun dennoch wegen unserer des schärfsten Tadels würdigen und nur durch eine uns von einem bösen Dämon angetane Verblendung erklärbaren Uebereilung, in Gemäßheit des in Ihrem Herzen wohnenden Edelmutes, Verzeihung angedeihen lassen, so würde uns das in die höchste Freude und wohl gar in einen über das dem Kollegium Ziemliche hinausgehenden Taumel der Ausgelassenheit versetzen. Wollen Sie es aber nicht, so werden wir dies Uebel als eine zwar grauenhafte, aber unsrer Untat durchaus entsprechende Strafe ertragen, sofern nicht etwa einige von uns oder wir alle, durch den Gram gleichsam zu Boden gedrückt, dem Siechtum verfallen und eines von zu später Reue vergifteten Todes versterben.
Ich verzieh den Leuten und entfernte mich unter dem Jubelgeschrei aller Anwesenden. –
Es sei hier vorweg genommen, daß Urania demnächst der Sieg erst nach viel größeren Schwierigkeiten zuteil wurde, wie es ja wohl bei dem Unterschiede zwischen meiner Beredsamkeit und der ihrer drei Advokaten kaum anders geschehen konnte.
364 Auch wurde ihr infolge des Neides der Menschen und des Schicksals der volle Triumph nicht zuteil, auf den sie Anspruch hatte, wenn anders unschuldig Verfolgte auf diesem Planeten der Lüge und der Gewalttätigkeit überhaupt Ansprüche erheben dürfen.
Im Aerger über die mangelhaften rednerischen Leistungen ihrer Advokaten nämlich verurteilten die Richter die Aermste zu zwei Jahren Gefängnis.
Das Obergericht, wo die unabhängigen Richter sitzen, hob natürlich das Urteil auf und wies die Sache wegen eines Formfehlers an das erste Gericht zurück.
Aber es war, als hätte das Schicksal sich vorgenommen, seine ganze Wut an dieser einen auszulassen. Grade jetzt nämlich gab der Oekonomierat, von Gewissensbissen gefoltert, seinen Geist auf. Er konnte also in der neuen Verhandlung nicht mehr als Zeuge auftreten und sein teuflisches Lügengewebe reumütig enthüllen, welcher Umstand wohl für niemand einen schwereren Schlag bedeutet hat, als für ihn selber, in betreff seiner Verhältnisse im Jenseits. Hatte sich doch die Schmähsucht des ehrabschneiderischen Greises zu der Behauptung verstiegen, Jemand von uns hätte ihn einmal, da er sich nach dem Rate eines geistlichen (??) Freundes von der Sache hätte zurückziehen wollen, mit Gewalt in die Sitzung geschleppt!
So kam es denn, daß man Uranien eine kahle 365 Freisprechung wegen mangelnden Beweises zu bieten wagte, welche Dreistigkeit die stolze Seele wohl nie verwunden hat.
Nun endlich schien das Schicksal eine späte Anwandlung von Gerechtigkeitsgefühl zu haben. Unter denen nämlich, die dieser Tragödie im Gerichtsaal mit Furcht und Mitleid gefolgt waren, befand sich ein hochherziger Engländer. Von Uraniens Standhaftigkeit im Unglück aufs tiefste ergriffen, wagte er endlich die bewußte Frage zu stammeln. Urania ihrerseits fühlte sich von der Anhänglichkeit des edeln Lord innigst gerührt und machte ihn durch ein schamhaft gelispeltes »Ja« zum Glücklichsten der Sterblichen.
Welche fühlende Seele wollte sich des Vergnügens berauben, die Gedanken an dem Glücke des lieben Mädchens teilnehmen zu lassen! Nach so viel Prüfungen durfte sie endlich die goldne Zeit genießen, die dem Menschen nur einmal im Leben beschieden ist und die ach, nur zu oft einer keineswegs rosigen Zukunft Platz macht!
Auch an Uranien erfüllte sich dies traurige Los. Denn der Lord zeigte sich seinem Glücke nicht gewachsen und entleibte sich.
Nun hielt die vom Schicksal Verfolgte nichts mehr in der kalten Fremde. Sie kehrte in ihr geliebtes Deutschland zurück. Von den Oberflächlichen wegen ihrer äußern Glücksgüter beneidet, von den Verstehenden nur um so zärtlicher getröstet, lebt sie seitdem ein Leben der Versenkung in das Problem des Schönen. Es wird darüber noch auf das Angenehmste die Rede sein.
366 Inzwischen möge sich der Leser mit der Beantwortung der Frage beschäftigen, welche Erinnerung, welches Vorbild Uranien zu ihrer idealistischen Lebensführung begeistert hat. 367