George Kennan
Zeltleben in Sibirien
George Kennan

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9. Kapitel.

Es fiel uns sehr schwer, am nächsten Morgen wieder in den Sattel zu klettern, aber der Major war allen Bitten wegen Aufschubs unzugänglich. Ernst und unbeugsam wie Rhadamanthus stieg er auf sein Federkissen und gab das Zeichen zum Aufbruch. Dank zweier mitfühlenden Kamtschadalen, die vermutlich auch schon einmal steife Rücken gehabt, gelang es mir, rittlings auf ein Pferd zu kommen.

Das Dorf Malka liegt auf dem nördlichen Abhang der Wasserscheide des Kamtschatka von niedrigen, kahlen Granithügeln umgeben; seine Lage erinnerte mich an Virginia City in Nevada. Es ist wegen seiner heißen Mineralquellen bekannt, aber da wir keine Zeit hatten, sie aufzusuchen, mußten wir uns auf die Auskunft der Eingeborenen über ihre Temperatur und medizinischen Eigenschaften verlassen und uns begnügen, die aus denselben aufsteigende Dampfsäule aus der Ferne zu betrachten.

Im Norden des Dorfes beginnt das lange, enge Ganalthal, der schönste und fruchtbarste Fleck Erde der ganzen Halbinsel, der Garten Süd-Kamtschatkas. Dasselbe ist ungefähr dreißig Meilen lang und wird auf beiden Seiten von hohen, schneebedeckten Bergen begrenzt, die sich mit ihren vielgezackten Gipfeln und schroffen Spitzen von Malka bis zur Quelle des 65 Kamtschatka hinziehen. Ein Bach, der mit hohem Gras eingefaßt ist und hier und da von Birken-, Weiden- und Erlengruppen beschattet wird, windet sich in vielfachen Krümmungen durch das Thal. Das Laub der Bäume fing schon an, sich herbstlich zu färben; breite rote, gelbe und grüne Streifen zogen sich in horizontaler Linie um die Berge und bezeichneten die verschiedenen Vegetationsgürtel von der Thalsohle bis zum Sitz des ewigen Schnees.

Als wir gegen Mittag uns der Mitte des Thales näherten, nahm die Scenerie so lebhafte Farben und so großartige Umrisse an, daß sie unserer ganzen Gesellschaft die begeistertste Bewunderung entlockte. Man überblickte wohl fünfundzwanzig Meilen des sonnigen Thales, in dem sich der Ganal wie ein silbernes Band zwischen Birkengruppen und Erlenbüschen dahinzog. Gleich dem »Glücklichen Thal« in Rasselas schien es von der übrigen Welt durch unübersteigbare Berge getrennt, die in Bezug auf malerische Schönheit, Mannigfaltigkeit und Seltsamkeit der Gestaltung mit den kühnsten Träumen eines orientalischen Baumeisters wetteiferten. Auf halber Höhe derselben war ein breiter Gürtel von Tannen, deren dunkeles Grün zu dem reinen Schnee der höheren Gipfel und dem leuchtenden Rot der zahllosen Ebereschen im Thal einen herrlichen Gegensatz bildete. Hier und da schienen die Berge durch titanische Kraft auseinandergerissen und bildeten enge, tiefe, wilde Schluchten, die kaum ein Sonnenstrahl streifte und deren purpurne Finsternis dem Menschenauge undurchdringlich schien. Denke dir, lieber Leser, zu dem allem eine warme dufterfüllte Atmosphäre, einen tiefblauen, fast wolkenlosen Himmel, und du wirst dir einen schwachen Begriff von einer der schönsten kamtschadalischen Landschaften machen können. Die Sierra Nevada hat wohl Bilder von großartigerer Wildheit aufzuweisen, aber weder in Californien noch in Nevada habe ich je Winter und Sommer – Schnee und Rosen, nackte Granitfelsen und herrlich gefärbtes Laub zu einem so harmonischen Bilde verschmolzen gesehen, wie es das 66 Ganalthal an jenem sonnigen Tage im Spätsommer darbot.

Dodd und ich pflegten der Karawane in rasendem Galopp einige Meilen vorauszueilen, uns in irgend einem einladenden Dickicht an Baches Rand auszustrecken und uns an den gelben, honigsüßen »Maroschkas« und den köstlichen Heidelbeeren gütlich zu thun.

Es war eine Stunde vor Sonnenuntergang, als wir uns dem Dorfe Ganal näherten. Auf einer Wiese schnitten Frauen und Männer mit kunstlosen Sicheln Gras. Sie starrten uns mit großer Bestürzung an, und wir betrachteten sie im Vorbeireiten mit unerschütterlicher Gemütsruhe. – Unser Pfad hörte plötzlich an einem Fluß auf, durch den wir auf unseren Pferden wateten, ohne naß zu werden, indem wir uns auf die Sättel knieten; einen Augenblick später kamen wir an einen zweiten und dritten Fluß, die wir in derselben Weise durchritten. Als aber der vierte Fluß kam, rief der Major in Verzweiflung: »Dodd, wie viele Flüsse haben wir zu passieren, bis wir in das verdammte Dorf kommen?« »Nur einen,« erwiderte Dodd. »Einen! Wie oft fließt denn der eine Fluß an der einen Niederlassung vorüber?« »Fünfmal,« lautete die Antwort. »Diese armen Kamtschadalen,« fuhr Dodd erklärend fort, »haben nur den einen Fluß, um darin zu fischen, und der ist nicht groß, deshalb lassen sie denselben fünfmal an ihrer Niederlassung vorüberfließen, und dank dieser Einrichtung fangen sie fünfmal so viel Lachs, als sie fangen würden, wenn er nur einmal vorüberflösse.« Der Major verstummte und schien über ein tiefsinniges Problem nachzudenken. Schließlich erhob er seine Augen vom Sattelknopf, warf dem schuldigen Dodd einen durchbohrenden Blick voll strengen Tadels zu und fragte feierlich: »Wie oft muß ein gewisser Fisch an einer gewissen Niederlassung vorüberschwimmen, um die Bevölkerung mit Nahrung zu versorgen, wenn der Fisch jedesmal, wenn er vorüberschwimmt, gefangen wird?« Diese reductio ad absurdum war zu viel für Dodd's Ernsthaftigkeit; er brach in Lachen aus, gab seinem Pferde die Sporen, sprengte mit lautem Geplätscher in die vierte 67 Flußbiegung und ritt auf der anderen Seite in das Dorf Ganal.

Wir nahmen Quartier im Hause des »Starosta«, des Dorfvorstehers, und breiteten unsere Bärenfelle auf dem reinen, weißen Fußboden eines niedrigen Zimmers aus, das mit alten Nummern der »Illustrated London News« tapeziert war. An der einen Wand hing eine kolorierte amerikanische Lithographie, welche den Versöhnungskuß zwischen zwei schmollenden Liebenden darstellte. Der Besitzer war nicht wenig stolz auf dieses Kunstprodukt, das er für einen eklatanten Beweis seines Kunstsinnes und guten Geschmacks, seiner intimen Bekanntschaft mit amerikanischen Sitten und Gebräuchen hielt.

Dodd und ich widmeten trotz großer Müdigkeit den ganzen Abend litterarischen Bestrebungen; mit Talglichtern in der Hand suchten wir emsig an Wand und Decke nach aufeinanderfolgenden Nummern der »Illustrated«, lasen Hofnachrichten von einem Birkenbrett in der Ecke und Todesanzeigen von berühmten Engländern von der Rückseite einer Thüre. Kraft unserer Ausdauer und unseres Fleißes waren wir vor dem Schlafengehen mit der ganzen einen Seite des Hauses fertig geworden, und da wir über den Krieg in Neuseeland eine Fülle wertvoller Nachrichten entdeckt, fühlten wir uns ermutigt, am anderen Morgen auf den übrigen drei Seiten und der Decke unsere Nachforschungen fortzusetzen. Zu unserm großen Bedauern mußten wir aufbrechen, ehe wir herausfinden konnten, wie jener Krieg endigte, und wir wissen's heute noch nicht. Lange vor sechs Uhr waren wir auf frischen Pferden unterwegs nach dem neunzig Werst entfernten Puschtschina.

Unsere äußere Erscheinung hatte sich mittlerweile den neuen Verhältnissen angepaßt; ein jeder hatte verschiedene, unpraktische Kleidungsstücke abgelegt und sie durch zweckentsprechendere ersetzt. Dodd z. B. hatte seine Mütze fortgeworfen und sich ein rotes und gelbes Taschentuch um den Kopf gebunden. Ein blaues Jagdhemd und ein roter türkischer Fez hatten meine Uniform ersetzt. An Wuschins Hut flatterte ein 68 langes rotes Band im Winde. Wir hatten alle Flinten umhängen, Revolver im Gürtel und glichen auffallend jenen phantastischen Briganten, die in den Pässen der Apenninen von unvorsichtigen Reisenden Räubersold erheben. Wäre uns ein schüchterner Wanderer auf unserem Ritt über die Ebene in der Richtung von Puschtschina begegnet, so hätte er sich ohne weiteres auf die Kniee geworfen und uns seine Börse angeboten.

Auf frischen, feurigen Pferden eilten der Major, Dodd, Wuschin und ich der übrigen Gesellschaft weit voraus. Als wir am Spätnachmittage gestreckten Galopps über die als die kamtschadalische Tundra bekannte Ebene dahinjagten, riß der Major plötzlich sein Pferd herum und schrie laut: »Medwaid! medwaid!« Ein großer, schwarzer Bär erhob sich aus dem langen Grase zu seinen Füßen.

Die Aufregung war, wie ich gewissenhaft bezeugen kann, entsetzlich. Wuschin ergriff seine Doppelflinte und schickte sich an, Meister Braun mit Schrot zu pfeffern; Dodd zerrte wütend an seinem Revolver, während sein Pferd mit ihm durchging. Der Major ließ den Zügel fallen und flehte mich, bei allem, was mir heilig sei, an, ihn nicht zu erschießen, und die Pferde bäumten sich, schlugen aus und schnaubten aus Leibeskräften. Der einzige von der ganzen Gesellschaft, der Besonnenheit und Selbstbeherrschung besaß, war Meister Petz. Kaltblütig betrachtete er sich einige Sekunden lang die Situation und lief mit linkischen Sprüngen dem Walde zu. Im Augenblick hatte unsere ganze Gesellschaft ihre Geistesgegenwart wieder erlangt, stürzte mit Heldenmut dem fliehenden Tiere nach, schrie wie toll, es aufzuhalten, knallte entschlossen und unerschrocken mit vier Revolvern und einer Schrotflinte und verrichtete Wunder von Tapferkeit in dem Bemühen, die Bestie zu fangen, ohne ihren Weg zu kreuzen oder ihr nur auf hundert Meter nahe zu kommen. Alles vergeblich. Der Bär verschwand im Walde wie ein flüchtiger Schatten; da wir aus der bekannten Wildheit und Rachsucht dieser Tiere schlossen, daß er sich in einen Hinterhalt gelegt, hielten wir es für angezeigt, 69 von der Verfolgung abzustehen. Als wir unsere Beobachtungen austauschten, fand sich, daß er uns allen furchtbar groß, zottig und wild erschienen, und daß wir alle in demselben Augenblick die unwiderstehlichste Lust verspürt, ihn bei der Kehle zu packen und ihm mit einem Dolchmesser den Bauch aufzuschlitzen, wie dies in alten Büchern so schön erzählt wird. Nur die Widerspenstigkeit unserer Pferde und seine schleunige Flucht hatten diese wünschenswerte That verhindert. Der Major erklärte sogar ganz bestimmt, er hätte den Bären lange vorher gesehen, und sei nur auf ihn losgeritten, um ihn aufzujagen und fügte beinah in den Worten Falstaffs hinzu, »wenn wir ihm die Ehre lassen wollten, gut; wenn nicht, so möchten wir den nächsten Bären selbst aufscheuchen.« Nach reiflicher, ruhiger Überlegung wollte mich bedünken, daß wenn ein neuer Bär nicht den Major verscheuchte, dieser sich sicherlich nicht die Mühe geben würde, ihn aufzuscheuchen. Wir hielten es jedoch für unsere Pflicht, ihn zu bitten, den Erfolg unserer Expedition nicht in so tollkühner Weise aufs Spiel zu setzen.

Die Dunkelheit trat ein, lange ehe wir unser Ziel erreichten; nach Sonnenuntergang, in der kühlen Abendluft schritten unsere milden Pferde wieder wackerer aus, und gegen acht Uhr hörten wir in der Ferne das Geheul von Hunden, das wir uns schon gewöhnt hatten, mit dem Gedanken an heißen Thee, Ruhe und Schlaf in Verbindung zu bringen. Zwanzig Minuten später lagen wir in einem kamtschadalischen Hause behaglich auf unseren Bärenfellen ausgestreckt.

Seit Tagesanbruch hatten wir sechzig Meilen zurückgelegt; aber der Weg war gut gewesen. Wir hatten uns schon mehr ans Reiten gewöhnt und waren lange nicht so müde wie in Malka. Nur noch dreißig Meilen trennten uns von der Quelle des Kamtschatka, wo wir uns von unseren Pferden verabschieden und in Booten oder auf Flößen eine Reise von zweihundertundfünfzig Meilen zu Wasser antreten sollten.

In Zeit von vier Stunden gelangten wir am 70 andern Morgen durch einen scharfen Ritt über eine ebene Fläche nach Schoroma, wo Flöße zu unserer Benutzung bereit gehalten wurden.

Ich bedauerte aufrichtig, daß das Reiten einstweilen ein Ende nahm. Das bisherige Leben hatte mir in jeder Hinsicht behagt; ich erinnerte mich keiner Reise, die mir so vielen und großen Genuß verschafft, die so sehr einer bloßen Vergnügungstour ähnlich gesehen. – Doch lag ja ganz Sibirien vor uns, und unser Bedauern, eine Gegend zu verlassen, die wir vermutlich nie wiedersehen würden, wurde durch die Aussicht auf neue Abenteuer und Erlebnisse und noch großartigere Naturschönheiten gemildert. 71

 


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