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Wir verließen Mikina in der Frühe des 23. November. Vor uns lag eine weite, schneebedeckte Ebene, die als einzige Vegetation hier und da einige dünne Grasspitzen und magere Gruppen niedriger Kiefern aufzuweisen hatte.
Seitdem wir Ljesnowsk den Rücken gekehrt, hatte ich die Kunst oder Wissenschaft (je nach Belieben), einen Hundeschlitten zu lenken, eifrigst studiert mit dem festen, aber geheim gehaltenen Entschluß, wenn je die Gelegenheit günstig sein sollte, die Aufsicht über mein eigenes Gespann zu übernehmen, und Dodd und die Eingeborenen durch die Entfaltung meiner Geschicklichkeit als »kiour« in Erstaunen zu setzen.
Erfahrung hatte mich gelehrt, daß diese ungebildeten Korjäken einen Mann nicht so sehr nach dem schätzten, was er wußte und sie nicht, als nach seiner Vertrautheit mit ihren eigenen, besonderen Beschäftigungen, und ich beschloß, selbst ihren umnachteten Verstandeskräften zur Evidenz zu beweisen, daß die Kenntnisse der Civilisation in ihrer Anwendung universell seien, und daß der weiße Mann, wenn auch in Hinsicht auf die Farbe im Nachteil, allein durch Intuition imstande sei, ein Hundegespann besser zu lenken, als sie durch jahrhundertelang angesammelte Erfahrung, daß derselbe im Falle der Not »die Prinzipien des 196 Hundelenkens aus den Tiefen seines sittlichen Bewußtseins entwickeln könne«. Ich muß übrigens eingestehen, daß ich selbst kein überzeugter Konvertit meiner eigenen Ideen war, und es deshalb nicht verschmähte, mir die Ergebnisse der Erfahrung der Eingeborenen zu nutze zu machen, insofern sie in Hinsicht auf das Wahre und Schöne des Hundelenkens mit meiner eigenen Überzeugung übereinstimmten. Ich hatte jede Bewegung meines Korjäkenkutschers genau beobachtet, hatte theoretisch gelernt, wie man das »oerstel« zwischen den Läufen in den Schnee stoßen mußte, damit es als Hemmschuh diene; hatte die einsilbigen Kehllaute, die in der Hundesprache »rechts« und »links« bedeuten, sowie noch viele andere Wörter, die wohl etwas anderes besagten, die ich aber häufig gegen Hunde hatte äußern hören, meinem Gedächtnis fest eingeprägt und eifrigst wiederholt, und schmeichelte mir, ebenso gut fahren zu können wie ein Korjäke, wenn nicht besser. Für mein unerfahrenes Auge war es nicht schwieriger, wie sein Geld in kalifornischen Bergwerksaktien zu verlieren. Da die Straße gut und das Wetter günstig war, beschloß ich also, an diesem Tage meine eigenen und angeeigneten Theorieen in die Praxis zu übertragen. Ich schlug also meinem Korjäken vor, den Hintersitz einzunehmen und mir die Abzeichen des Amtes auszuliefern. Als er mir den eisenbeschlagenen Stock überreichte, bemerkte ich, daß ein spöttisches Lächeln um seine Lippen zuckte, das wohl als Geringschätzung meiner Fähigkeiten aufzufassen war; aber ich behandelte es, wie besseres Wissen den Hohn der Dummheit stets behandeln sollte – mit stillschweigender Verachtung, setzte mich rittlings auf den Kutschersitz und rief den Hunden zu: »Nu! Paschol!« Meine Stimme brachte die Wirkung, die ich erwartet, durchaus nicht hervor. Der Leithund, ein grimmiger, derber Nestor von einem Tiere, schaute sich gleichgiltig um und verlangsamte seinen Schritt. Diese plötzliche, sichtbare Verachtung meiner Autorität seitens der Hunde erschütterte mehr mein Vertrauen in meine eigene Geschicklichkeit als alles höhnische Grinsen der Korjäken. Aber meine 197 Hilfsquellen waren noch nicht erschöpft, und ich schleuderte ihnen ein-, zwei- und vielsilbige Wörter an ihre verwünschten Köpfe, schrie : »Akh! Te schelma! Proclataja takaja! Smatri! Ja tibi dam!« Aber alles vergeblich; die Hunde waren gegen derartiges rhetorisches Feuerwerk durchaus unempfindlich und offenbarten ihre Gleichgiltigkeit durch immer langsamer werdendes Tempo. Als ich die letzte Schale meines Zornes über sie ausgoß, fuhr Dodd, der die Sprache verstand, der ich mich so unbedachtsam bediente, langsam heran und sagte lachend: »Sie fluchen ja ganz hübsch für einen Anfänger.« Hätte sich ein Abgrund zu meinen Füßen aufgethan, ich wäre nicht weniger erstaunt gewesen. »Fluchen! Ich fluchen! Sie wollen doch nicht sagen, daß ich geflucht habe?« – »Freilich haben Sie geflucht, wie ein Seeräuber.« Ich ließ mein »oerstel« entmutigt sinken. Waren das die Prinzipien über Hundelenken, die ich aus den Tiefen meines sittlichen Bewußtseins entwickelt hatte? Sie schienen eher aus der Tiefe meiner unsittlichen Bewußtlosigkeit zu kommen. »Sie schändlicher Mensch, haben Sie mich diese nämlichen Wörter nicht gelehrt?« »Das that ich auch,« lautete die unverfrorene Antwort; »aber Sie haben mich nicht gefragt, was dieselben bedeuten, sondern nur, wie man sie ausspricht, und das habe ich Ihnen gesagt. Ich glaubte, Sie machten Studien in vergleichender Sprachwissenschaft und wollten durch die Identität der Flüche die Einheit der menschlichen Rasse oder die Abstammung der Digger-Indianer von den Chinesen beweisen. Sie müssen doch selbst zugeben, daß Ihr Kopf – der übrigens in mancher Hinsicht gar nicht zu verachten ist – immer von solchem Zeuge vollsteckt.« »Dodd,« erwiderte ich mit einer Feierlichkeit, die in seinem verhärteten Gewissen Reue erwecken sollte, »ich bin unwissentlich zur Sünde verleitet worden, und da etwas mehr oder weniger an meiner Schuld nichts ändern kann, habe ich die allergrößte Lust, mich Ihrer ruchlosen Belehrungen gegen Sie selbst zu bedienen.« Er lachte mich aus und fuhr davon. Diese kleine Episode dämpfte meinen Enthusiasmus und machte 198 mich in der Anwendung der fremden Sprache sehr vorsichtig. Unter den gewöhnlichsten Hunde-Ausdrücken vermutete ich entsetzliche Verwünschungen, und selbst die Wörter »khta« und »hugh«, die »rechts« und »links« bedeuten sollten, kamen mir verdächtig vor. Die Hunde, welche jeden Mangel an Aufmerksamkeit seitens ihres Führers sofort bemerken, schienen, durch mein Schweigen ermutigt, eine Neigung, still zu stehen und sich auszuruhen, welche gegen alle Disziplin verstieß, und die sie einem erfahrenen Führer gegenüber nicht gewagt hätten, an den Tag zu legen. Entschlossen, durch strengere Maßregeln meine Autorität zur Geltung zu bringen, schleuderte ich mein »oerstel« wie eine Harpune gegen den Leithund, in der Absicht, dasselbe beim Vorbeifahren des Schlittens wieder aufzuheben. Der Hund jedoch wich demselben geschickt aus, und es rollte zehn Fuß weit fort. Gerade in diesem Augenblicke sprangen einige wilde Renntiere in einer Entfernung von drei- bis vierhundert Metern hinter einer kleinen Anhöhe hervor und galoppierten über die Steppe in der Richtung einer jähen Schlucht, durch welche ein Arm des Mikina fließt. Die Hunde jagten, ihren wölfischen Instinkten getreu, mit wildem Geheul hinterher. Ich machte einen verzweifelten Versuch, wieder in Besitz meines »oerstels« zu gelangen, aber umsonst, und so flogen wir über die Tundra dahin, der Schlucht zu; der Schlitten, meist nur auf einem Lauf, prallte mit solcher Gewalt an die harten Schneewellen (»sastrugi«) an, daß man die Verrenkung all seiner Gelenke befürchten mußte. Der Korjäke war, mit mehr Verstand, als ich ihm zugetraut, einige Sekunden vorher vom Schlitten gerollt; ein Blick rückwärts zeigte mir ein Bündel Arme und Beine, das sich auf dem Schnee wälzte. Ich hatte jedoch bei der mir drohenden Gefahr keine Zeit, seinen Unfall zu bedauern. Meine ganze Thatkraft war darauf gerichtet, die schreckliche Geschwindigkeit, mit welcher wir der Schlucht zueilten, zu vermindern. Ohne das »oerstel« war ich ganz hilflos, und in einem Augenblick waren wir am Rande. Ich schloß die Augen, hielt mich krampfhaft am Schlitten 199 fest und hinab ging's. Auf halbem Wege wurde der Abstieg plötzlich steiler, der Leithund wich seitwärts aus, zog den Schlitten herum wie die Schnur einer Peitsche; dieser fiel um, und ich schoß gleich einem Meteor durch die Luft in den weichen Schnee der Tiefe. Ich mußte wenigstens achtzehn Fuß tief gefallen sein, denn ich steckte ganz im Schnee, mit Ausnahme meiner unteren Extremitäten, welche ein schwaches Hilfesignal zappelten. Durch die schweren Pelze behindert, gelang es mir nur mit großer Mühe, wieder auf die Beine zu kommen, und als ich endlich mit wenigstens drei Pinten Schnee im Rücken auftauchte, erblickte ich das runde, lauernde Gesicht meines Kutschers, das mich durch die Büsche am Rande des Abgrundes angrinste. »Uma,« rief er mich an. »Nun?« erwiderte der bis an die Hüften im Schnee steckende Schneemann. »Amerikanski njebt dobra kiour, oh?« (Der Amerikaner ist kein guter Kutscher.) »Njebt soßem dobra,« war die melancholische Antwort, indem ich herauswatete. Der Schlitten war, wie ich entdeckte, nicht weit von mir in Büsche verwickelt, und die Hunde, wütend über das Hindernis, heulten alle im Chor. Einstweilen hatte ich genug an meinem Experiment und ließ den Korjäken ohne Widerspruch seine frühere Funktion aufnehmen. Die Logik der Umstände hatte mich überzeugt, daß das Hundelenken ein sorgfältigeres und ernsteres Studium erfordere, als ich ihm gewidmet, und ich beschloß, mir seine elementaren Grundzüge, so wie sie von den korjäkischen Professoren gelehrt werden, zu eigen zu machen, ehe ich wieder versuchen wollte, meine eigenen Theorieen über den Gegenstand in die Praxis zu übertragen.
Als wir der Schlucht entronnen, wieder auf die offene Steppe kamen, sah ich, wie die übrige Gesellschaft, eine Meile weiter, dem Korjäkendorf Kuil zueilte. Am Spätnachmittage fuhren wir an Kuil vorüber und kampierten die Nacht in einem Birken-, Pappeln- und Espenwald, am Ufer des Paren.
Wir waren nun nur noch siebzig Meilen von Gischiginsk entfernt. Am folgenden Abend gelangten wir an 200 einem Arm des Gischina an eine kleine Holzjurte, welche die Regierung zum Schutz der Reisenden errichtet hat, und Freitagmorgen, den 25. November gegen elf Uhr, erblickten wir den roten Kirchturm der russischen Niederlassung Gischiginsk. Keiner, der nicht drei lange Monate in einer Wildnis, wie Kamtschatka, gereist ist, bei furchtbaren Stürmen im Gebirge kampiert, drei Wochen lang in rauchigen Zelten und in den noch rauchigeren und schmutzigeren Korjäkenjurten geschlafen und wie ein vollkommener Wilder und Barbar gelebt hat; keiner, der nicht alles dies erfahren, kann begreifen, mit welch freudigen Herzen wir jenen roten Kirchturm und die Civilisation, von der er ein Zeichen war, begrüßten. Seit einem Monate hatten wir jede Nacht entweder auf der bloßen Erde oder auf dem Schnee geschlafen, nie einen Stuhl, einen Tisch, ein Bett oder einen Spiegel erblickt, stets in unsern Kleidern gesteckt und unsere Gesichter in drei oder vier Wochen drei- oder viermal gewaschen. Wir waren schmutzig und rauchig vom Auf- und Abklettern in den Korjäkenkaminen; unser lang gewordenes Haar klebte uns um die Ohren, von Nasen und Backenknochen hatte sich die erfrorene Haut abgeschält, unsere Röcke und Hosen waren ganz grau von den Renntierhaaren unserer »kukhlánkas«; wir sahen so verwildert und vernachlässigt aus, wie man überhaupt aussehen kann, wenn in der Erscheinung nur noch ein ganz leiser Anklang an bessere Tage übrig bleibt. Es fehlte uns jedoch an Zeit und Lust, uns ordentlich zu machen; unsere Hunde jagten in tollem Galopp in das Dorf; ihr lautes Gekläff weckte einen entsprechenden Chor aus zwei- bis dreihundert andern Hundekehlen; unsere Kutscher schrieen : »khta! khta! hugh! hugh!« und wirbelten mit ihren »oerstels« förmliche Schneewolken auf, als wir durch die Straßen rasten, und die ganze Bevölkerung lief an die Thüren, um die Ursache dieses Höllenlärms zu ergründen. Unsere fünfzehn Schlitten hielten endlich vor einem großen, behaglich aussehenden Hause mit Doppelfenstern, das, wie Kerrillof behauptete, zu unserm Empfange hergerichtet worden war. Kaum 201 hatten wir ein geräumiges, sauber gescheuertes Zimmer betreten und unsere schweren Pelze abgelegt, als sich die Thür öffnete und ein kleiner, ungestümer Mann mit hastigen Bewegungen eintrat. Er hatte einen langen, braunen Schnurrbart, blondes, kurz geschorenes Haar, trug Kleider von feinem Tuch, tadellose Wäsche, Siegelringe an den Fingern, eine einfache Goldkette am Knopf der Weste und einen Stock. Wir erkannten in ihm sofort den Isprawnik oder russischen Gouverneur. Dodd und ich machten einen plötzlichen Versuch, aus dem Zimmer zu entwischen, aber es war zu spät; wir grüßten unsern Besuch mit »zdrastonitia«, setzten uns linkisch auf unsere Stühle, rollten unsere rauchigen Hände in unsere roten und gelben Baumwollentaschentücher und versuchten trotz des lebendigen Bewußtseins unserer schmutzigen Gesichter und unseres verdächtigen Aussehens eine der Beamten der großen russisch-amerikanischen Telegraphenexpedition würdige Haltung anzunehmen. Es war verlorene Mühe; wir sahen doch nur aus wie nomadische Korjäken in zurückgekommenen Verhältnissen. Dem Isprawnik schien in unserer Erscheinung nichts Ungewöhnliches aufzufallen; er überschüttete uns in nervöser Weise mit Fragen, wie: »Wann haben Sie Petropawlowsk verlassen? Kommen Sie direkt von Amerika? Ich schickte einen Kosaken. Sind Sie ihm begegnet? Wie sind Sie über die Tundren gekommen, mit den Korjäken? Akh! die proclatje Korjäken! Etwas Neues von Petersburg? Sie müssen hinüberkommen und mit mir zu Mittag speisen. Wie lange werden Sie in der Stadt bleiben? Sie können gleich nach Tisch ein Bad nehmen! He! ludi! (sehr laut und peremptorisch) Geh und sage meinem Iwan, sofort das Bad zu heizen. Akh! Chort jikh vaymi!« und der kleine Mann hielt schließlich aus Erschöpfung ein und ging aufgeregt im Zimmer auf und ab, während der Major unsere Abenteuer erzählte, ihm die neuesten Nachrichten aus Rußland mitteilte, unsere Pläne und den Zweck unserer Expedition erklärte, von der Ermordung Lincolns, dem Ende der Rebellion, den neuesten Nachrichten von dem 202 französischen Einfall in Mexiko, den Klatschereien am kaiserlichen Hofe und noch von allem Möglichen sprach, von Neuigkeiten, die schon sechs Monate alt waren, von denen der arme verbannte Isprawnik aber keine blasse Ahnung hatte. In fast elf Monaten hatte er nichts aus Rußland gehört. Nachdem er nochmals dringend aufgefordert, sogleich zum Mittagessen in sein Haus zu kommen, eilte er geschäftig aus dem Zimmer, und nun konnten wir uns endlich waschen und umkleiden.
Zwei Stunden später marschierte die erste sibirische Erforschungsexpedition in großem Gala, blauen Röcken mit Messingknöpfen und Epauletten, mit rasierten Gesichtern, gestärkten Hemden und glänzenden Lederstiefeln zum Hause des Isprawnik. Die russischen Bauern, denen wir begegneten, nahmen instinktiv ihre bereiften Pelzmützen ab und betrachteten uns so erstaunt, als ob wir in geheimnisvoller Weise aus den Wolken gefallen wären. Niemand würde in uns die schmutzigen, eingeräucherten, zerlumpten Vagabunden erkannt haben, die vor zwei Stunden in das Dorf gekommen waren. Die Raupen hatten sich in blaue und goldene Schmetterlinge verwandelt. Der Isprawnik erwartete uns in einem schönen, geräumigen Zimmer, das mit allem Luxus eines civilisierten Heims ausgestattet war. Die Wände waren tapeziert und mit kostbaren Gemälden und Stichen geschmückt, die Fenster mit Vorhängen versehen; den Boden bedeckte ein weicher, bunter Teppich; ein großer Schreibtisch aus Nußbaumholz nahm eine Ecke des Zimmers ein, ein Accordion aus Rosenholz die andere, und in der Mitte stand der Eßtisch mit frischer Tischwäsche, schönem Porzellan und glänzendem Silber. Wir waren von dem Anblick so ungewohnter und unerwarteter Pracht ganz geblendet. Nach den unvermeidlichen »fünfzehn Tropfen« Branntwein und dem Imbiß aus geräuchertem Fisch, Roggenbrot und Caviar, der Einleitung zu jedem russischen Mittagessen, nahmen wir am Tische Platz, arbeiteten uns während anderthalb Stunden gewissenhaft durch die zahlreichen Gänge von Krautsuppe, Salmpastete, Wildkoteletten, Wildbraten, kleinen 203 Fleischpastetchen, Pudding und feinem Gebäck durch und unterhielten uns über die Neuigkeiten der ganzen Welt von den Blockhäusern der kamtschadalischen Dörfer bis zu den kaiserlichen Palästen Moskaus und Petersburgs. Dann befahl unser gastfreier Wirt, Champagner zu bringen, und wir stellten bei dem kalten, perlenden Cliquot Betrachtungen über die Abwechslung im sibirischen Leben an. Gestern saßen wir auf der Erde in einem Korjäkenzelt und aßen mit unsern Fingern Renntierfleisch aus einem hölzernen Troge, heute speisten wir mit dem russischen Gouverneur in einem luxuriösen Hause Wildkoteletten und Plumpudding und tranken Champagner. Außer einer bemerkenswerten, aber in Schranken gehaltenen Neigung seitens Dodd und mir selbst, die Beine zu krümmen und uns auf die Erde zu setzen, war, glaube ich, nichts in unserem Benehmen, was auf die barbarische Ungebundenheit unseres Lebens in den letzten Monaten und die demoralisierenden Einflüsse, denen wir ausgesetzt gewesen, schließen ließ. Wir handhabten Messer und Gabel und schlürften unsern Champagner mit einer Grazie, um die uns Lord Chesterfield selbst hätte beneiden können. Aber es war doch eine schwere Arbeit. In unsere Quartiere zurückgekehrt, zogen wir die Uniform aus, breiteten unsere Bärenfelle auf den Boden und setzten uns mit gekreuzten Beinen darauf, um in der guten, alten, ungezwungenen Weise ein behagliches Pfeifchen zu schmauchen. Wenn unsere Gesichter nur ein ganz klein wenig schmutzig, so wäre das Glück vollkommen gewesen!
Die folgenden zehn Tage unseres Aufenthalts in Gischiginsk verbrachten wir in verhältnismäßiger Unthätigkeit. Wenn das Wetter nicht zu kalt war, gingen wir spazieren, empfingen Staatsvisiten von den russischen Kaufleuten des Ortes, besuchten den Isprawnik, tranken seinen köstlichen Blütenthee, rauchten am Abend seine Cigarren und entschädigten uns für die drei Monate in der Wildnis, indem wir uns die unschuldigen Zerstreuungen gestatteten, welche das kleine Dorf bot. Diese angenehme, zwecklose Existenz fand jedoch bald ihren 204 Abschluß durch den Befehl des Majors, uns zur plötzlichen Abreise nach dem Polarkreis oder der Westküste des ochotskischen Meeres bereit zu halten. Er war entschlossen, vor dem Frühling die Route für unsere Linie von der Behringsstraße bis zum Amur festzustellen, und es war keine Zeit zu verlieren. Was wir in Gischiginsk über das Innere des Landes erfahren konnten, war nicht befriedigend. Nach den Berichten der Eingeborenen befanden sich zwischen dem ochotskischen Meere und der Behringsstraße nur zwei Niederlassungen, und die nächste – Penschinsk – war vierhundert Werst entfernt. Das dazwischen liegende Land bestand aus großen Moostundren, die im Sommer unpassierbar und ganz ohne Baumschlag sind; und der Teil derselben, der nordöstlich von der letzten Niederlassung liegt, war wegen des Holzmangels ganz unbewohnbar. Ein russischer Offizier, Namens Phillippeus, hatte im Winter 1860 einen Erforschungsversuch daselbst gemacht, war aber halb verhungert und erschöpft unverrichteter Sache umgekehrt. Auf der ganzen Entfernung von achthundert Werst zwischen Gischiginsk und der Anadyrmündung sollten nur vier bis fünf Orte sein, wo man Baumstämme zum Gebrauch von Telegraphenstangen finden könnte. Eine Reise von Gischiginsk bis zur Niederlassung Anadyrsk am nördlichen Polarkreis würde je nach dem Wetter zwanzig bis dreißig Tage in Anspruch nehmen, und über diesen Punkt noch weiter nördlich vorzudringen, unter allen Umständen unmöglich sein. Die Region westlich von Gischiginsk längs der Küste des ochotskischen Meeres wurde als günstiger, aber doch als rauh und gebirgig und mit Kiefer- und Lärchenwald dicht bewachsen geschildert. Das Dorf Ochotsk, achthundert Werst südlich, war in Hundeschlitten in ungefähr einem Monat zu erreichen. Das war alles, was wir in Erfahrung bringen konnten, und es flößte uns in Bezug auf den endgiltigen Erfolg unseres Unternehmens kein allzu großes Vertrauen ein. Zum erstenmal wurde mir klar, welche ungeheuer schwierige Aufgabe die russisch-amerikanische Telegraphengesellschaft sich gestellt hatte. An 205 Rückzug war nicht zu denken, sondern unsere deutlich vorgeschriebene Pflicht war, Ausdehnung und Beschaffenheit des Landes und etwaige Schwierigkeiten, welche sich bei dem Bau der Linie bieten konnten, klar zu stellen.
Die russischen Niederlassungen Ochotsk und Gischiginsk teilten das Land zwischen der Behringsstraße und dem Amur in drei fast gleiche Teile, von denen zwei gebirgig und bewaldet, der dritte verhältnismäßig eben und fast unfruchtbar war. Die erste dieser Abteilungen zwischen dem Amur und Ochotsk war Mahood und Bush zur Erforschung zugewiesen worden, und wir vermuteten, daß sie schon am Werke seien. Die andern beiden Abteilungen, welche die ganze Region zwischen Ochotsk und der Behringsstraße umfaßten, sollten zwischen dem Major, Dodd und mir verteilt werden. In Anbetracht der vermeintlichen unbekannten Einöde westlich von der Behringsstraße wurde es für besser gehalten, dieses Gebiet einstweilen bis zum Frühling unberücksichtigt zu lassen. Die versprochene Mitwirkung der Anadyr-Abteilung war ausgeblieben, und der Major hielt es nicht für ratsam, ohne mehr Leute die Erforschung eines Gebietes vorzunehmen, das für eine Winterreise so viele und große Hindernisse bot. Die zu bewältigende Entfernung beschränkte sich also auf vierzehnhundert Werst von Ochotsk bis zum russischen Vorposten Anadyrsk, gerade südlich vom Polarkreise. Nach einiger Überlegung entschloß sich der Major, Dodd und mich mit einer Anzahl von Eingeborenen nach Anadyrsk zu schicken und selbst auf Hundeschlitten nach Ochotsk zu reisen, wo er mit Mahood und Bush zusammenzutreffen gedachte. Auf diese Weise hofften wir in Zeit von fünf Monaten die ganze Route der Linie ziemlich genau zu überblicken. Die Vorräte, die wir von Petropawlowsk mitgebracht, waren mit Ausnahme von etwas Thee, Zucker und einigen Büchsen Ochsenfleisch, aufgezehrt; aber wir verschafften uns in Gischiginsk zwei oder drei Pud schwarzes Roggenbrot, vier oder fünf gefrorene Renntiere, etwas Salz, einen reichlichen Vorrat von »Jukala« oder getrocknetem Fisch und einige Kuchen gefrorener Milch. 206 Außerdem versahen wir uns noch mit sechs bis acht Pud kaukasischem Blättertabak, der statt Geldes dienen mußte, teilten unsern kleinen Vorrat von Perlen, Pfeifen, Messern und Tauschwaren, kauften neue Pelzanzüge und trafen alle nur erdenklichen Vorbereitungen zu einem drei- bis viermonatlichen Lagerleben in arktischem Klima. Der russische Gouverneur beorderte sechs seiner Kosaken, Dodd und mich auf Hundeschlitten bis zum Korjäkendorf Schestakowa zu befördern, und schickte durch die heimkehrenden Anadyrsker Botschaft nach Penschinsk, am 20. Dezember zu Schestakowa drei oder vier Leute mit Hundegespannen bereit zu halten, welche uns nach Penschinsk und Anadyrsk transportieren sollten. Wir nahmen einen alten erfahrenen, des Tschutschkischen mächtigen Kosaken, Namens Gregorie Zinevief, als Führer und Dolmetscher in Dienst, mieteten einen jungen Russen, Jagor, als Koch und aide-de-camp (im buchstäblichen Sinn), packten unsere Vorräte auf die Schlitten, befestigten sie mit Riemen aus Seehundsfell, und am 13. Dezember waren wir reisefertig. Am Vorabend erteilte uns der Major seine letzten Befehle. Wir sollten auf der regelmäßigen Schlittenstraße über Schestakowa nach Penschinsk und Anadyrsk fahren, uns vergewissern, welche Vorteile dieselbe in Hinsicht auf Holz und Bodenbeschaffenheit für die Errichtung der Telegraphenlinie bieten könne, die Eingeborenen von Penschinsk und Anadyrsk mit der Vorbereitung von Telegraphenstangen beauftragen, und wo dies möglich, seitwärts abschweifen, um zu erforschen, ob zwischen dem Penschinagolf und dem Behringsmeer keine Verbindung durch Flüsse mit bewaldeten Ufern vorhanden wäre. Spät im Frühjahr sollten wir mit unsern neu erworbenen Kenntnissen nach Gischiginsk zurückkehren. Der Major wollte bis zum 17. Dezember daselbst bleiben und dann mit Wuschin und einer kleinen Abteilung Kosaken nach Ochotsk reisen. Sollte er Mahood und Bush daselbst treffen, dann wollte er sofort umkehren, um uns am 1. April 1866 in Gischiginsk zu erwarten. 207