George Kennan
Zeltleben in Sibirien
George Kennan

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33. Kapitel.

Der kurzen Aufregung, welche die Ankunft der »Warag« und der »Clara Bell« hervorgebracht, folgte wieder ein endlos langer Monat des Wartens, den wir in einsamem Unbehagen an der Mündung der Gischiga verbrachten. Woche auf Woche schlich dahin, ohne Kunde von den vermißten Schiffen zu bringen, der kurze nordische Sommer ging zu Ende, die Berge bedeckten sich mit Schnee, und schwere, andauernde Stürme verkündeten das Herannahen eines neuen Winters. Seit der vermeintlichen Abreise der Schiffe »Onward« und »Palmetto« von San Franzisco waren drei Monate vergangen, und wir konnten uns ihr Nichterscheinen nur durch einen Unfall erklären. Am 18. September beschloß Major Abaza, einen Boten in die sibirische Hauptstadt zu senden, um die Gesellschaft auf telegraphischem Wege um Verhaltungsmaßregeln zu bitten. Zu Beginn eines zweiten Winters ohne Leute, Werkzeuge und Material, außer 50 000 Isolatoren und Unterlagen, konnten wir zur Förderung des Baues der Linie gar nichts thun, und unser einziger Ausweg war, der Gesellschaft Mitteilung von unserer Lage zu machen. Am neunzehnten jedoch, ehe der Vorsatz ausgeführt werden konnte, erschien die lang erwartete Bark »Palmetto«, von dem russischen Dampfer »Sachalin« aus Nikolajewsk gefolgt. Da letzterer vom Winde unabhängig war und sehr wenig Tiefgang besaß, hatte er nicht die geringste Schwierigkeit, in den Fluß einzulaufen, während die »Palmetto« vor Anker gehen und eine stärkere Flut abwarten mußte. Das Wetter, das seit mehreren Tagen kalt und drohend gewesen, wurde momentan schlimmer, und am 22. stürmte der Wind aus Südost mit einer Stärke, welche das Dichtreefen der Marssegel erforderlich machte.

Wir hegten die ernstesten Befürchtungen für die unglückliche Bark; aber da das Wasser ihr die Barre an der Flußmündung nicht zu passieren erlaubte, konnte nichts geschehen, ehe eine Hochflut eintrat. Am 23. wurde es offenbar, daß die »Palmetto«, auf der all unsere Hoffnungen ruhten, unvermeidlich stranden würde. Ihr schwerster Anker war zerbrochen, und die Bark trieb langsam aber sicher gegen die felsige, steile Küste auf der Ostseite des Flusses, wo sie nichts vor dem Zerschmettern bewahren konnte. Es blieb keine Alternative; Kapitän Arthur schlippte seine Kette, brachte sein Schiff unter Segel und steuerte geradeswegs auf die Flußmündung zu.

Stranden mußte sie irgendwo, und es war besser, auf eine Sandbank aufzulaufen, als gegen eine senkrechte Felsenwand zu treiben, wo der Untergang gewiß sein mußte. Die Bark kam stattlich daher, bis sie ungefähr eine halbe Meile vom Leuchtturm in sieben Fuß tiefem Wasser auf den Grund fuhr. Sie stieß mit ungeheurer Gewalt auf, während das Meer in weißen Schaumwellen ihr Hinterdeck überflutete. Es schien nicht wahrscheinlich, daß sie die Nacht überdauern könnte. Als jedoch die Flut stieg, trieb sie der Flußmündung näher und näher, und bei Hochflut war sie nur noch eine Viertelmeile entfernt. Da das Schiff sehr stark gebaut war, litt es weniger Schaden, als wir vermutet, und als die Ebbe eintrat, lag es hoch und trocken auf der Barre und hatte keinen größeren Schaden zu verzeichnen, als daß der Loskiel fehlte und einige Platten des kupfernen Bodenbeschlags abgerissen waren.

Da das Schiff bis zu 45° geneigt auf der Seite lag, war es unmöglich, etwas aus dem Rumpf herauszuheißen, 314 aber wir trafen Vorbereitungen, sobald eine neue Flut es in aufrechte Stellung gebracht haben würde, die Ladung in Boote zu schaffen. Die Hoffnung, das Schiff zu retten, schien gering, aber es war wichtig, wenigstens die Ladung zu bergen, ehe es in Trümmer ging. Kapitän Tobezin, vom russischen Dampfer »Sachalin«, bot alle seine Boote und die Hilfe seiner Mannschaft an, und am folgenden Tage machten wir uns mit sechs oder sieben Booten, einem großen Leichterfahrzeug und ungefähr fünfzig Mann an die Arbeit. Die See ging noch immer hoch; die Bark fing wieder an, gegen den Grund aufzustoßen; das Leichterfahrzeug füllte sich mit Wasser und sank ungefähr hundert Meter vom Ufer mit voller Ladung, und ein ganzes Assortiment von Kästen, Packkörben und Mehlfässern trieb mit der Flut flußaufwärts. Trotz alles Mißgeschickes harrten wir mit den Booten bei der Arbeit aus, so lange das Wasser tief genug blieb, und als die Ebbe unserer Thätigkeit ein Ende machte, konnten wir uns Glück wünschen, so viele Vorräte geborgen zu haben, daß wir vor dem Hungertode gesichert waren, selbst wenn das Schiff in der Nacht zerschellen sollte. Am 25. ließ die Heftigkeit des Windes etwas nach, und die See nahm ab. Vom 25. bis 29. September waren alle Boote und die ganze Mannschaft des »Sachalin« und der »Palmetto« beschäftigt, Vorräte von der Bark ans Ufer zu schaffen, und am 30. war wenigstens die Hälfte der Ladung geborgen. Soweit wir es beurteilen konnten, würde das Schiff imstande sein, mit der ersten Hochflut im Oktober in See zu stechen. Eine sorgfältige Untersuchung stellte fest, daß es nur seinen Loskiel verloren, und die Offiziere des »Sachalin« behaupteten, daß dies seine Seetauglichkeit durchaus nicht beeinträchtige. Da entstand eine neue Schwierigkeit. Die Mannschaft der »Palmetto« bestand aus Negern; sobald sie vernahmen, Major Abaza beabsichtige, die Bark noch diesen Herbst nach San Franzisco zu schicken, weigerten sie sich, dem Befehle zu gehorchen, weil das Schiff seeuntauglich sei; sie wollten lieber den Winter in Sibirien verbringen, als auf demselben eine Reise nach Amerika wagen. Major 315 Abaza berief sofort eine Kommission von den Offizieren des »Sachalin«, bat sie, die Bark nochmals zu untersuchen und ihre Meinung in Bezug auf die Seetauglichkeit derselben schriftlich abzugeben. Die Untersuchung fand statt, und das Gutachten erklärte sie zu einer Reise nach Petropawlowsk, Kamtschatka und wahrscheinlich auch nach San Franzisco geeignet. Diese Entscheidung wurde den Negern vorgelesen, aber sie beharrten auf ihrer Weigerung. Nachdem der Major sie vor den Folgen einer Meuterei vergeblich gewarnt, ließ er ihren Rädelsführer fesseln und an Bord des »Sachalin« ins »schwarze Loch« stecken; aber seine Kameraden blieben standhaft. Es war von höchster Wichtigkeit, daß die »Palmetto« mit der ersten Hochflut in See stach, denn die Jahreszeit war schon weit vorgeschritten, und wenn sie länger als Mitte Oktober im Fluß blieb, mußte sie vom Eis zertrümmert werden.

Außerdem war Major Abaza genötigt, sich nach Jakutsk zu begeben, und der Dampfer »Sachalin«, den er benutzen wollte, war reisefertig. Am Nachmittag des ersten, als der »Sachalin« zur Abfahrt bereit war, ließen die Neger dem Major sagen, wenn er ihren gefesselten Kameraden freigebe, wollten sie sich anstrengen, die »Palmetto« noch vollends auszuladen und nach San Franzisco zurückzubringen. Der Mann wurde in Freiheit gesetzt, und zwei Stunden später fuhr der Major auf dem »Sachalin« nach Ochotsk ab, und wir blieben mit dem halbgestrandeten Schiff und der meuterischen Mannschaft allein.

Die Ladung der Bark war erst zur Hälfte geborgen, und wir setzten in den nächsten fünf Tagen mit Booten die harte, entmutigende Arbeit fort, denn nur während sechs Stunden von vierundzwanzig konnten wir uns dem Schiffe nähern, von elf Uhr abends bis fünf Uhr morgens. In der ganzen übrigen Zeit lag das Schiff auf der Seite, und das umgebende Wasser war zu seicht, als daß ein Brett darin hätte schwimmen können. Um unsere Schwierigkeiten und Sorgen zu vermehren, wurde das Wetter plötzlich kälter, das Thermometer sank auf Null, 316 jede Flut brachte Massen von Treibeis, das große Stücke Kupferblech vom Schiffe abriß, und der Fluß war bald dergestalt mit Eisstücken bedeckt, daß wir die Boote mit Tauen hin- und herziehen mußten. Trotz Wetter, Wasser und Eis wurde jedoch nach und nach alles ans Land geschafft, und am zehnten Oktober war nichts mehr an Bord als einige Fässer voll Mehl, etwas gesalzenes Fleisch, das wir nicht wollten, und fünfundsiebzig bis hundert Tonnen Kohlen, was als Ballast nach San Franzisco zurückkehren sollte. Die Flut wurde jeden Tag höher, und am 11. Oktober war die »Palmetto« zum erstenmal seit drei Wochen flott. Sobald der Kiel von der Barre frei kam, wurde das Schiff in dem Kanal herumgeschwungen, so daß sein Bug nunmehr dem Ausgang zugekehrt war, und mit zwei leichten Warpankern so verankert, daß es am folgenden Tage jeden Augenblick unter Segel gehen könne. Seitdem in der vorhergehenden Woche die intensive Kälte eingetreten war, hatten die Neger keine Lust mehr bezeigt, den Winter in Sibirien zu verbringen, und wenn der Wind nicht plötzlich nach Süden umschlug, stand ihrer Abfahrt nichts mehr im Wege. Für einmal blieb der Wind günstig, so daß am 12. Oktober um zwei Uhr nachmittags die »Palmetto« ihre nur lose befestigten Unter- und Marssegel fallen lassen und unter einer leichten Nordostbriese langsam wieder in den Golf hinaussegeln konnte, nachdem die Warpankertaue gekappt worden waren. Der köstlich frische Gesang: »Ho! Heiß! Ho!«, mit welchem die aus Negern bestehende Schiffsbesatzung außerhalb der Barre die Bramsegel vorschotete, war die schönste Musik für mein Ohr. Die Bark war auf See, und zwar war sie keinen Tag zu früh davongefahren. In Zeit von einer Woche nach ihrer Abreise waren der Fluß und der obere Teil der Bucht derart mit Eis bedeckt, daß sie sich weder bewegen, noch vollständigen Ruin hätte vermeiden können.

Zu Beginn des zweiten Winters waren die Aussichten unseres Unternehmens günstiger, als sie je gewesen. Die Schiffe der Gesellschaft waren zwar sehr verspätet, 317 und eins, die »Onward«, gar nicht angekommen; aber die »Palmetto« hatte zwölf Leute, Werkzeuge und große Vorräte gebracht; Major Abaza hatte sich nach Jakutsk begeben, um sechs- bis achthundert Arbeiter anzuwerben und dreihundert Pferde zu kaufen, und wir hofften, am 1. Februar würde die Arbeit längs der ganzen Ausdehnung der Linie im Gang sein.

So schnell wie möglich nach der Abfahrt der »Palmetto« schickte ich Lieutenant Sandford und zwölf Arbeiter in den Wald am Ufer der Gischiga oberhalb der Niederlassung, versah sie mit Äxten, Schneeschuhen, Hundeschlitten und Vorräten und ließ sie Telegraphenstangen und Holz für Häuser herrichten, welche auf den Steppen zwischen Gischiginsk und dem Penschinagolf verteilt werden sollten. Mit Herrn Wheeler sandte ich eine kleine Gesellschaft Eingeborene mit fünf oder sechs Schlittenladungen voll Äxte und Vorräte für Lieutenant Arnold und mit Depeschen, die Major Abaza sollten nachgeschickt werden, nach Jamsk. Weiter gab's für mich einstweilen an der Küste des ochotskischen Meeres nichts mehr zu thun, und ich bereitete mich vor, wieder einmal nach dem Norden abzureisen. Seit dem ersten Mai waren wir ohne jegliche Nachricht von Lieutenant Bush und seiner Gesellschaft und natürlich begierig zu erfahren, welchen Erfolg er mit der Herstellung und dem Transport der Telegraphenstangen am Anadyr gehabt, und was für Pläne und Aussichten er für den Winter habe. Die verspätete Ankunft der »Palmetto« zu Gischiginsk ließ uns befürchten, daß das für den Anadyr bestimmte Schiff ebenfalls aufgehalten worden, und daß Lieutenant Bush mit seiner Gesellschaft dadurch in eine unangenehme, ja geradezu gefährliche Lage geraten sein könnte. Major Abaza hatte mir deshalb vor seiner Abreise nach Ochotsk aufgetragen, sobald Winterreisegelegenheit vorhanden, mich nach Anadyrsk zu begeben, um festzustellen, ob Schiffe der Gesellschaft an der Anadyrmündung angelaufen seien, und ob Bush der Hilfe bedürfe. Ich packte also mein Lagergerät und Pelzkleider, belud fünf Schlitten mit Thee, Zucker, Tabak und anderen Vorräten und trat am zweiten November 318 mit sechs Kosaken meine letzte Reise nach dem nördlichen Polarkreise an.

Keine Expedition während meines ganzen sibirischen Aufenthaltes war so einsam und so schrecklich wie diese. Um Transportkosten zu sparen, hatte ich beschlossen, keinen meiner amerikanischen Kameraden mitzunehmen; aber an manchem einsamen Lagerfeuer bereute ich meine selbstverleugnende Sparsamkeit und sehnte mich nach dem herzlichen Lachen und den gutmütigen Späßen meines »fidus Achates« – Dodd. Während fünfundzwanzig Tagen begegnete ich keinem civilisierten menschlichen Wesen und redete nicht ein einzigmal meine Muttersprache; schließlich wäre ich beglückt gewesen, mich mit einem intelligenten amerikanischen Hund unterhalten zu können. »Einsamkeit,« sagt Beecher, »ist für das gesellige Leben, was Pausen in der Musik«; aber eine Reise, die man ganz allein macht, ist ebensowenig unterhaltend, wie ein Musikstück, das ganz aus Pausen bestände; nur eine lebhafte Phantasie kann aus beiden etwas machen.

Zu Kuil an der Küste des Penschinagolfes war ich gezwungen, mich von meinen gutgelaunten Kosaken zu trennen und ein Dutzend dumme, unfreundliche, geschorene Korjäken in Dienst zu nehmen, und nun war ich einsamer als je! Mit den Kosaken hatte ich wenigstens noch etwas zu plaudern vermocht, hatte sie an den langen Winterabenden am Lagerfeuer über ihre Ansichten, ihren Aberglauben befragt und ihren charakteristischen Erzählungen über sibirisches Leben zugehört; aber jetzt hatte ich, da ich mich der Korjäkensprache nicht bedienen konnte, gar keine Unterhaltung.

Meine neuen Reisegefährten waren die häßlichsten Schurkenphysiognomieen von Korjäken, die man in allen Niederlassungen am Penschinagolf finden konnte, und ihr Eigensinn und ihre schreckliche Dummheit machten von Kuil bis Penschinsk meine schlechte Laune zu einem chronischen Zustande. Nur durch Drohung mit dem Revolver waren sie zum Gehorsam zu bringen. Von der Kunst, sich bei schlechtem Wetter ein behagliches Lager 319 herzurichten, verstanden sie absolut nichts, und ich bemühte mich vergeblich, ihnen etwas davon beizubringen. Trotz meiner Belehrungen und Erläuterungen blieben sie dabei, jeden Abend im Schnee ein tiefes, enges Loch für das Feuer zu machen, und hockten darum herum, wie Frösche um einen Teich, während ich mir selbst ein Lager herstellte. Auch von der edeln Kochkunst hatten sie keine blasse Ahnung, und das Geheimnis von Conserven konnten sie nie ergründen. Warum der Inhalt einer Büchse gekocht, während derjenige einer andern von ganz dem nämlichen Aussehen geröstet wurde; warum der eine sich in Suppe und der andere in einen Kuchen verwandelte, das waren Fragen, über die sie jeden Abend ernstlich disputierten, über die sie sich aber nie zu einigen vermochten. Die Experimente, die sie gelegentlich mit dem Inhalte der unbegreiflichen Büchsen veranstalteten, waren erstaunlich. Sie brachten mir Tomaten in Butter gebacken, Pfirsiche mit Ochsenfleisch vermischt und zu Suppe gekocht; grüne Kerne wurden mit Zucker zubereitet und getrocknete Gemüse mit Steinen in Stücke zermalmt. Nie trafen sie das Richtige, wenn ich nicht daneben stand und persönlich die Zubereitung meines Nachtessens überwachte. Wie unwissend sie aber auch in Bezug auf diese seltsamen amerikanischen Nahrungsmittel waren, so begierig waren sie, dieselben zu versuchen, und ihre Experimente in dieser Hinsicht waren oft sehr belustigend. Eines Abends, bald nachdem wir Schestakowa verlassen, sahen sie mich zufällig eine eingemachte Gurke verzehren, und da etwas Derartiges in ihrer beschränkten gastronomischen Erfahrung noch nicht dagewesen, baten sie mich um ein Stück. Da ich mir das Resultat dachte, gab ich dem schmutzigsten, verwahrlosesten Vagabunden der Gesellschaft eine ganze Gurke und bedeutete ihm, gut hineinzubeißen. Als er dieselbe an seine Lippen brachte, bewachten ihn seine Kameraden mit atemloser Neugierde, um zu sehen, wie es ihm schmecke. Einen Augenblick lang waren seine Züge ein Gemisch von Überraschung, Verwunderung und Widerwillen, was unwiderstehlich lächerlich aussah, und er 320 schien geneigt, was er im Munde hatte, auszuspeien; aber er bezwang sich, that, als ob er befriedigt sei, schmatzte, erklärte, es sei »akhmel nemelkhin« – sehr gut, und gab die Gurke seinem Nachbar. Dieser war von der unerwarteten Säure ebenso überrascht und angeekelt, aber lieber als er seine Enttäuschung eingestanden und sich hätte auslachen lassen, behauptete auch er, es sei kostbar, und gab sie weiter. Sechs von ihnen spielten nach einander mit dem feierlichsten Ernste diese Posse; aber als alle die Gurke versucht und alle erwischt worden waren, brachen sie gleichzeitig in ein »tei–i–i–i« der Verwunderung aus und ließen ihren unterdrückten Gefühlen des Entsetzens freien Lauf. Das heftige Speien, Husten und Auswaschen des Mundes mit Schnee, welches nun folgte, bewies, daß der Geschmack für derartige Dinge ein künstlich angeeigneter ist, daß der Mensch in seinem Naturzustande denselben nicht besitzt. Was mich besonders belustigte, war, wie sie sich gegenseitig hintergingen. Jeder, der erwischt worden, wollte, daß der andere ebenso angeführt wurde, und keiner hätte zugegeben, daß ihm die Gurke schlecht schmeckte, bis alle sie versucht hatten. Das Unglück hat gerne Leidensgefährten, und die menschliche Natur ist überall die nämliche. Obgleich dieses Experiment durchaus nicht zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen war, wollten sie von jeder Büchse, die ich öffnete, den Versuch haben. Kurz vor unserer Ankunft in Penschinsk ereignete sich jedoch eine Katastrophe, die mich von ihrer Zudringlichkeit befreite und ihnen eine abergläubische Ehrfurcht vor Conservenbüchsen einflößte, die von keiner Vertrautheit mit denselben mehr besiegt werden konnte. Wenn wir abends ein Lager bezogen, pflegten wir die Conserven in heiße Asche zu stellen, um dieselben aufzutauen, und zu wiederholten Malen hatte ich den Leuten anbefohlen, die Büchsen zuerst zu öffnen. Ich konnte ihnen nicht erklären, daß der sich anhäufende Dampf dieselben auseinander sprengen werde; aber ich sagte ihnen, es würde schlimm, »atkin«, ausfallen, wenn sie kein Loch in den Deckel machten, ehe sie dieselben ans Feuer brächten. 321 Eines Abends jedoch vernachlässigten oder vergaßen sie diese Vorsichtsmaßregel, und während alle im Kreise um das Feuer kauerten, explodierte eine der Büchsen mit fürchterlichem Knall, eine große Dampfwolke entwischte, und die Stückchen heißen Hammelfleisches stoben in allen Richtungen auseinander. Hätte sich plötzlich ein Vulkan unter dem Lagerfeuer aufgethan, die Korjäken hätten nicht bestürzter sein können. Sie hatten keine Zeit aufzustehen und davonzulaufen, so streckten sie die Beine in die Luft, schrieen »Kammuk!« – der Teufel! – und hielten sich für verloren. Mein herzliches Lachen beruhigte sie schließlich, und sie schämten sich ihrer augenblicklichen Panik; aber seit der Zeit gingen sie mit Conservenbüchsen um, als ob sie geladene Bomben wären, und wollten nie mehr den Inhalt derselben versuchen.

Nachdem wir die Küste des ochotskischen Meeres verlassen, kamen wir auf unserem Wege nach Anadyrsk nur sehr langsam vorwärts, einmal wegen der Kürze der Tage und dann wegen des weichen, frischgefallenen Schnees. Häufig mußten wir auf eine Entfernung von zehn bis fünfzehn Meilen hintereinander auf Schneeschuhen eine Bahn für unsere schwer beladenen Schlitten machen, und selbst dann konnten sich unsere ermüdeten Hunde kaum durch das weiche, pulverartige Gestöber durchkämpfen. Das Wetter war so intensiv kalt, daß mein Quecksilber-Thermometer, das nur -23° anzeigen konnte, fast nutzlos war. Mehrere Tage lang stieg das Quecksilber gar nicht aus der Kugel, und ich konnte die Temperatur nur nach der Geschwindigkeit schätzen, mit der mein Nachtessen gefror, wenn es vom Feuer genommen wurde. Mehr als einmal verwandelte sich die Suppe in meinen Händen zu einem festen Körper, und die grünen Kerne froren an meinen Teller, ehe ich sie essen konnte.

Am vierzehnten Tage, nachdem wir Gischiginsk verlassen, erreichten wir Penschinsk, was noch zweihundert Werst von Anadyrsk entfernt ist. Seit dem letzten Mai war niemand in die Niederlassung gekommen, und die 322 ganze Dorfbevölkerung, Männer, Frauen, Kinder und Hunde strömten uns mit den größten Freudenbezeigungen entgegen. Seit sie zuletzt ein fremdes Gesicht gesehen oder von der Außenwelt gehört, waren sechs Monate vergangen, und sie feuerten vor Freude aus einem halben Dutzend rostiger Musketen Salutschüsse ab. Als ich Gischiginsk verließ, hatte ich zuversichtlich erwartet, daß mir irgendwo unterwegs ein Kurier mit Nachrichten und Depeschen von Bush entgegenkommen würde, und als ich Penschinsk erreicht, war ich sehr enttäuscht und auch beunruhigt, daß in diesem Dorfe niemand von Anadyrsk angekommen war, und daß man daselbst seit dem Frühling von unserer Gesellschaft nichts gehört hatte. Ich hatte eine Ahnung, daß irgend etwas schief gehen müsse, weil Bush ausdrücklichen Befehl erhalten, sobald die Winterstraße fahrbar, einen Kurier nach Gischiginsk zu schicken, und jetzt waren wir schon weit im November.

Am folgenden Tage verwirklichten sich meine schlimmsten Befürchtungen. Spät am Abend, als ich in dem Hause eines der russischen Bauern beim Thee saß, ertönte plötzlich der Ruf, daß »Anadyrski jajdut« – jemand von Anadyrsk gekommen sei; ich eilte aus dem Hause und begegnete dem Priester von Anadyrsk, der gerade vor der Thüre aus seinem Schlitten stieg. Meine erste Frage lautete natürlich: »Wo ist Bush?« Aber das Herz sank mir in die Schuhe, als der Geistliche erwiderte, »Bokh jevo zniet« – Gott allein weiß es. »Aber wo haben Sie ihn zuletzt gesehen, wo hat er den Sommer verbracht?« fragte ich weiter. »Ich sah ihn zuletzt an der Anadyrmündung im Juli«, versetzte der Priester, »und seitdem hat er nichts von sich hören lassen«. Einige weitere Fragen enthüllten die ganze traurige Geschichte. Bush, Macrae, Harder und Smith waren im Juni mit Flößen für Stationshäuser, die am Ufer errichtet werden sollten, flußabwärts gefahren. Nachdem sie an den günstigsten Punkten diese Häuser aufgeschlagen, hatten sie sich in Booten nach dem Anadyrgolf begeben, um die Ankunft der Schiffe der Gesellschaft von San 323 Franzisco zu erwarten. Hier war der Geistliche zu ihnen gestoßen und hatte mehrere Wochen mit ihnen verlebt; aber spät im Juli, als ihre kärglichen Vorräte ausgegangen und die erwarteten Schiffe nicht angekommen waren, hatte der Priester die Niederlassung wieder aufgesucht, während die Amerikaner halbverhungert an der Anadyrmündung zurückblieben. Seitdem hatte man nichts mehr von ihnen gehört, und wie der Priester sagte, Gott allein wußte, wo sie sich befanden und was ihnen zugestoßen war. Da der Lachsfang am Anadyr im letzten Sommer sehr schlecht ausgefallen, war in Anadyrsk eine schreckliche Hungersnot ausgebrochen; ein Teil der Bewohner und viele Hunde waren aus Mangel an Nahrung gestorben, und das Dorf war fast ganz verödet. Jeder, der Hunde genug besaß, um einen Schlitten zu ziehen, hatte die wandernden Tschutschken aufgesucht, bei denen er bis zum nächsten Sommer leben konnte, und die wenigen Leute, die in der Niederlassung verblieben waren, aßen ihre Stiefel und Stücke von Renntierfell auf, um ihr Leben zu fristen. Zu Anfang Oktober hatten sich Eingeborene mit Hundeschlitten aufgemacht, um Bush und seine Begleiter aufzusuchen, aber seit ihrer Abreise war mehr als ein Monat verstrichen, und sie waren noch nicht zurückgekehrt. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren sie auf den weiten, trostlosen Steppen des unteren Anadyr erfroren, da sie sich nur mit Proviant für zehn Tage hatten versehen können. Ob sie mit Tschutschken zusammengestoßen waren, die ihre Bedürfnisse decken konnten, war sehr zweifelhaft.

Das war die erste Nachricht aus dem Norden – Hungersnot in Anadyrsk, Bush und Genossen seit Juli und acht Eingeborene mit Hundeschlitten seit Mitte Oktober verschollen. Die Sachlage hätte kaum schlimmer sein können, und ich verbrachte eine schlaflose Nacht in Sorgen und Überlegen, was zu thun sei. So sehr ich auch eine abermalige Reise an die Mündung des Anadyr fürchtete, was blieb mir für eine andere Wahl? Die Thatsache, daß seit vier Monaten von Bush keine 324 Nachricht gekommen, bewies, daß ihm ein Unglück zugestoßen sein mußte, und es war meine Pflicht, mich, wenn dies möglich, nach der Anadyrbai zu begeben, um ihn aufzusuchen. Am folgenden Morgen fing ich deshalb an, Hundefutter einzukaufen, und vor Nacht hatte ich 2000 getrocknete Fische und eine Quantität Robbenspeck beisammen, einen Vorrat, von dem ich hoffte, daß er für fünf Hundegespanne wenigstens vierzig Tage vorhalten werde. Dann ließ ich den Häuptling einer Gesellschaft wandernder Korjäken holen, der zufällig in der Nähe von Penschinsk ein Lager bezogen, und veranlaßte ihn, seine Renntierherde nach Anadyrsk zu treiben und so viele zu töten, daß die hungernden Bewohner einstweilen mit Nahrung versorgt wären, bis andere Hilfe käme. An den russischen Gouverneur von Gischiginsk sandte ich durch zwei Eingeborene auf Hundeschlitten einen Brief, um ihn von der Hungersnot in Anadyrsk zu benachrichtigen, und Dodd ersuchte ich, alle Schlitten, deren er habhaft werden könnte, mit Vorräten bepackt nach Penschinsk zu schicken, damit ich dieselben von da aus nach der heimgesuchten Niederlassung könnte transportieren lassen.

Ich reiste selbst am 20. November mit fünf der besten Führer und den fünf besten Hundegespannen von Penschinsk nach Anadyrsk ab. Im Falle ich vor meiner Ankunft in Anadyrsk nichts von Bush hören sollte, beabsichtigte ich, dieselben mit an die Anadyrmündung zu nehmen. 325

 


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