George Kennan
Zeltleben in Sibirien
George Kennan

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12. Kapitel.

Die Verkehrsmittel, deren wir uns auf unserer Reise durch Kamtschatka bedienen mußten, waren der mannigfaltigsten Art. Diesem Umstande ist vielleicht auch das Gefühl von Kurzweil und Frische zuzuschreiben, das uns auf unserer dreimonatlichen Reise nie abhanden kam. Wir lernten der Reihe nach die Annehmlichkeiten und Nachteile von Walfischbooten, Pferden, Flößen, Kähnen, Hunde-, Renntierschlitten und Schneeschuhen kennen, und sobald wir anfingen, der einen Reisegelegenheit müde und uns ihrer Unbequemlichkeit bewußt zu werden, machten wir die Bekanntschaft einer neuen.

Zu Kljutschewsk nahmen wir von unseren Flößen Abschied und bestiegen kamtschadalische Kähne, die aus ausgehöhlten Baumstämmen bestanden. Sie sollten in der reißenden Strömung des Jelowka leichter zu lenken sein. Ihre bemerkenswerteste Eigentümlichkeit ist die entschiedene chronische Neigung, ohne scheinbar die geringste Ursache umzukippen. Aus zuverlässiger Quelle erfuhr ich, daß gerade vor unserer Ankunft auf dem Kamtschatka ein Boot umgeschlagen sei, weil ein leichtsinniger Kamtschadale in seine rechte Hosentasche ein Taschenmesser gesteckt habe, ohne auch etwas von entsprechendem Gewicht in der linken Tasche unterzubringen, und daß die kamtschadalische Mode, das Haar in der Mitte zu teilen, ihren Ursprung dem Versuche 91 verdanke, das persönliche Gleichgewicht bei Benutzung dieser Kähne herzustellen. Vielleicht hätte ich diesen merkwürdigen und nicht ganz neuen Geschichten einigen Zweifel entgegengebracht, wäre mein Berichterstatter nicht der zuverlässige, von unantastbarer Wahrheitsliebe beseelte Herr Dodd gewesen. Der Ernst der Sache ist wohl genügende Garantie, daß er sich keinen Scherz mit mir erlaubte.

Samstagmorgen schliefen wir viel länger, als sich mit unserer Pflicht vereinbaren ließ: es war fast acht Uhr, als wir uns an das Ufer begaben.

Beim Anblick der gebrechlichen Boote, denen wir unser Geschick und das des russisch-amerikanischen Telegraphen anvertrauen sollten, herrschte allgemeine Überraschung und großes Mißvergnügen. Einer der Gesellschaft, der sich durch vorschnelles Urteil auszeichnete, erklärte sofort, eine Reise auf solchen Schiffen müsse mit dem Tode durch Ertrinken endigen, und bezeigte große Abneigung sich einzuschiffen. Von einem großen Feldherrn, dessen Kommentare der Schrecken meiner Jugend waren, wird erzählt, daß er während einer stürmischen Überfahrt über das jonische Meer seinen Schiffer mit der stolzen, selbstbewußten Versicherung ermutigt habe: »Du fährst Cäsar und sein Glück!«, und daß ihm folglich kein Unglück zustoßen könne. Der kamtschadalische Cäsar schien jedoch bei dieser Gelegenheit seinem Glück zu mißtrauen, und die Trostgründe kamen von der andern Seite. Der Schiffer sagte nicht: »Beruhige dich, Cäsar, ein Kamtschadale und sein Glück fahren dich«, sondern er versicherte ihn, daß er schon seit mehreren Jahren den Fluß befahre und »noch nicht ein einziges Mal ertrunken sei«. Was konnte Cäsar mehr verlangen? Nach einiger Verzögerung nahmen wir alle auf Bärenfellen auf dem Boden der Kähne Platz und stießen vom Lande.

Alle landschaftlichen Schönheiten in der Umgebung von Kljutschewsk ordnen sich dem großartigen Mittelpunkte unter, welchen der Vulkan Kljutschew, der Herrscher der sibirischen Berge, bildet, dessen scharfer 92 Gipfel mit seinem regungslosen Wimpel von vergoldetem Rauch überall innerhalb eines Halbmessers von hundert Meilen zu sehen ist. Alle anderen Naturschönheiten kommen nur insofern in Betracht, als sie dem prächtigen Berggipfel, der sich aus den grasigen Thälern des Kamtschatka und Jelowka erhebt, Relief verleihen. Lange, ehe die Morgennebel und die Finsternis aus dem Thale weichen, und lange nachdem die Sonne hinter den purpurnen Bergen von Tigiljsk hinabgesunken, ist sein stolzer Krater in rosiges Licht getaucht. Zu allen Zeiten, unter allen Umständen und in seiner stets wechselnden Erscheinung ist er der schönste Berg, den ich je gesehen. Bald steht er vom warmen Sonnenschein eines indischen Sommertages umflossen, nur einige flockige Wölkchen schweben an der Schneelinie hin und werfen purpurne Schatten auf seinen Abhang; bald hüllt er sich in dichte, schwarze Rauchwolken und läßt die an seinem Fuße ruhenden Dörfer seine donnerähnliche Warnungsstimme vernehmen, und gegen Abend sammeln sich graue Nebel um seinen Gipfel, welche in wirren Massen an seinen Seiten hinunterwogen, bis er sich in der klaren Atmosphäre wie eine kolossale Wolkensäule 16 000 Fuß hoch aus einem fünfzig Quadratmeilen großen Fichtenwalde erhebt.

Man meint, nichts könne schöner sein als das zarte, rosige Licht, das seine Schneedecke färbt, wenn die Sonne im Westen verglüht; wenn aber das blasse Mondlicht seine Nebelkappe mit silbernem Rande säumt, wenn schwarze Schatten sich in seinen tiefen Schluchten sammeln und seine schneeigen Zinnen im »Nebelglanze« leuchten, wenn das Heer zahlloser Sterne seinen erhabenen Gipfel zu umkreisen und die wirre Silberkette der Plejaden an einer seiner felsigen Spitzen zu hangen scheint, dann wird einem die Wahl schwer werden.

Gegen Mittag fuhren wir in den Jelowka ein. Der Fluß ergießt sich von Norden her, zwölf Werst oberhalb Kljutschewsks in den Kamtschatka. Seine Ufer sind im allgemeinen niedrig und sumpfig und mit Schilf und Riedgras dicht bewachsen, was Tausenden von wilden 93 Enten, Gänsen und Schwänen Obdach gewährt. Wir erreichten vor Nacht das Dorf Chartschinsk und schickten sogleich nach einem berühmten russischen Führer, Nikolaus Bragan, den wir zu bestimmen hofften, uns über die Berge zu begleiten.

Von Bragan erfuhren wir, daß in der vorhergehenden Woche in den Bergen ein starker Schneefall gewesen, aber er hoffte, das milde Wetter der letzten Tage habe den Schnee zum Schmelzen gebracht, und der Saumpfad werde in passierbarem Zustande sein. Er wollte auf jeden Fall den Versuch machen, uns hinüber zu geleiten. Von großer Sorge befreit, verließen wir Chartschinsk in der Frühe des siebzehnten, um weiter flußaufwärts zu fahren. Wegen der Stromschnellen im Hauptarme fuhren wir in einen der vielen Nebenarme, welche der Fluß hier bildet, und arbeiteten uns vier Stunden lang mit Bootshaken langsam vorwärts. Das Flußbett machte viele Biegungen und war so schmal, daß man das Ufer auf jeder Seite mit dem Ruder erreichen konnte; an vielen Stellen berührten sich die an den gegenüberliegenden Rändern stehenden Birken und Weiden und bestreuten uns mit gelben Blättern, als wir unter ihnen hinfuhren. Hier und da hingen lange, knorrige Baumstämme ins Wasser, andere mit Moos bewachsene streckten ihre Enden aus der Tiefe des Stromes hervor; mehr wie einmal glaubten wir, in unwegsamem Sumpfe stecken zu bleiben. Nikolaus Alexandrowitsch, unser Führer, der vorausfuhr, sang zu unserer Unterhaltung einige der eintönigen, melancholischen kamtschadalischen Lieder, und Dodd und ich erschöpften unser ganzes Repertoire. Des Singens müde trafen wir in dem engen Boote eine friedliche Übereinkunft in Bezug auf unsere Beine und hielten auf unseren Bärenfellen ein Schläfchen, ohne uns von dem Geplätscher des Wassers und dem Geräusch der Bootshaken stören zu lassen. Wir kampierten die Nacht auf dem hohen, sandigen Ufer, zehn bis zwölf Meilen südlich von Jelowka.

Es war ein lauer, stiller Abend, und als wir alle rauchend und von den Tageserlebnissen plaudernd auf 94 unseren Bärenfellen um das Feuer ausgestreckt lagen, hörten wir plötzlich ein leises Rollen, wie ferner Donner, von gelegentlichen Erschütterungen begleitet. – »Was ist das,« fragte der Major. »Das,« erwiderte Nikolaus gelassen, »ist der Kljutschew, der sich mit dem Schiwelutsch unterhält.« »Vermutlich sind es keine Geheimnisse, die er ihm anvertraut,« versetzte Dodd trocken, »denn er schreit sie laut genug heraus.« Der Wiederhall dauerte einige Minuten, aber der Schiwelutsch gab keine Antwort. Dieser unglückliche Berg hatte seine vulkanische Kraft frühzeitig vergeudet und besaß nun keine Stimme mehr, um auf die donnernde Anrede seines mächtigen Kameraden Antwort zu geben. Es gab eine Zeit, da die Vulkane in Kamtschatka so zahlreich waren wie die Ritter um König Artus' Tafelrunde, und da die Halbinsel beim Donner ihrer Zwiegespräche und nächtlichen Belustigungen erbebte; aber einer nach dem andern ist durch die feurigen Ströme seiner eigenen Beredsamkeit zum Schweigen gebracht worden; nur der Kljutschew spricht noch in den stillen Stunden der langen Winternächte zu seinen Gefährten, und die einzige Antwort, die er erhält, sind die fernen Echos seiner eigenen, mächtigen Stimme.

Am nächsten Morgen weckte mich die jubelnde Musik von »Oh, Susan–na–a–a, weine nicht um mich,« und als ich aus dem Zelte kroch, erblickte ich einen unserer kamtschadalischen Schiffer, der auf einer Bratpfanne trommelte und besagtes Lied dazu sang.

Ein komischer, in Tierfelle gekleideter Eingeborener im Herzen Kamtschatkas, der »Oh Susanna« sang und sich auf einer Bratpfanne dazu begleitete, das war zu viel für meinen Ernst; ich brach in ein homerisches Gelächter aus, das Dodd alsbald auf den Schauplatz brachte. Der Sänger, welcher sich unbelauscht geglaubt, hielt plötzlich inne und schaute so verlegen um sich, als wenn er fühle, daß er sich lächerlich gemacht habe.

»Ei, Andreas,« sagte Dodd, »ich wußte gar nicht, daß du englisch singen kannst.«

95 »Kann ich auch nicht, Bahrin,« lautete die Antwort, »aber amerikanisch kann ich ein wenig singen.«

Dodd und ich schüttelten uns von neuem vor Lachen, was den armen Andreas immer noch mehr verwirrte.

»Wo hast du's gelernt?« inquirierte Dodd.

»Von Matrosen eines Walfischbootes vor zwei Jahren in Petropawlowsk; ist es kein gutes Lied?« setzte er hinzu, offenbar im Gefühl, daß es unpassend sei.

»Ein famoses Lied,« erwiderte Dodd beruhigend: »kannst du noch mehr amerikanisch?«

»Ja, Euer Gnaden, aber ich weiß nicht, was die Wörter bedeuten.«

Seine amerikanische Bildung war sehr beschränkter und zweifelhafter Art; aber selbst Kardinal Mezzofanti konnte nicht stolzer auf seine vierzig Sprachen sein als der arme Andreas auf die zweifelhaften Kraftausdrücke, die ihm seine amerikanischen Kameraden beigebracht. Sollte er je nach Amerika, dem gesegneten Lande seiner Träume kommen, so würden ihm seine fragwürdigen Sätze als Freibrief für die erste Gesellschaft dienen.

Während wir mit Andreas plauderten, hatte Wuschin Feuer angezündet, das Frühstück bereitet, und gerade, als die Sonne ihre ersten Strahlen in das Thal sandte, saßen wir auf Bärenfellen um unsere Lichterkiste und aßen »Selanka« oder saure Suppe, auf deren Zubereitung sich Wuschin viel zu gute that, und tranken heißen Thee. »Selanka«, hartes Brot und Thee, gelegentlich eine am offenen Feuer gebratene Ente, das war unser gewöhnlicher Speisezettel, wenn wir im Freien übernachteten. Nur in den Niederlassungen gab es Luxusartikel, wie Milch, Butter, frisches Brot, eingemachte Rosenblätter und Fischpastete.

Nach dem Frühstück fuhren wir wieder in den Kähnen stromaufwärts, schossen gelegentlich nach fliegenden Enten und Schwänen und pflückten an überhängenden Zweigen wilde Kirschen. Gegen Mittag verließen wir die Boote, um mit einem eingeborenen Führer eine große Flußbiegung abzuschneiden und rascher nach Jelowka zu gelangen. Das Gras reichte uns bis an den 96 Gürtel, und der Spaziergang war infolge davon recht ermüdend, aber wir gelangten in das Dorf, lange ehe unsere Boote in Sicht kamen.

Jelowka, eine kleine kamtschadalische Niederlassung von etwa einem halben Dutzend Häusern, liegt zwischen Hügeln, welche der großen kamtschadalischen centralen Bergkette vorgelagert sind, unmittelbar unterhalb des Passes gleichen Namens und an der direkten Verbindungsstraße nach Tigiljsk und der Westküste. Es ist Kopfstation für die Kahnverbindung auf dem Jelowkafluß und der Ausgangspunkt für diejenigen; welche über die Berge wollen. Da der Major gefürchtet, es könnte in dem kleinen Dorfe an der zu unserem Bedarf erforderlichen Anzahl Pferde fehlen, hatte er von Kljutschewsk acht bis zehn auf dem Landwege vorausgesandt, und wir fanden sie bereits vor.

Der ganze Nachmittag ging fast darauf, die Pferde zu bepacken, so daß wir nur einige Werst vom Dorfe entfernt an einer kalten Bergquelle unser Nachtquartier nahmen. Das Wetter, das bisher klar und warm gewesen, schlug um, und wir brachen Dienstagmorgen den 19. bei einem kalten, aus Nordost kommenden Regensturm in die Berge auf. Die Straße, wenn überhaupt ein schlechter, zehn Zoll breiter Fußpfad diesen Namen verdient, war einfach abscheulich. Sie folgte dem Lauf eines angeschwollenen Bergstromes, der in rauschenden Wasserfällen in einer engen, dunkeln, steilen Schlucht niederfiel. Der Pfad zog sich dicht am Rande erst an der einen, dann an der andern Seite desselben hin, dann im Wasser, um kolossale vulkanische Felsblöcke, über steile Lavaabhänge, wo das Wasser wie eine Mühlrinne durch ein sich auf der Erde hinziehendes Fichtendickicht floß, über umgefallene Baumstämme und schmale Felsenriffe, wo ein Schaf kaum Fuß fassen konnte. Ich wollte mich verbürgen, mit zwanzig Mann diese Schlucht gegen die vereinigten Heere Europas zu behaupten. Unsere Lastpferde rollten die steilen Ufer hinunter in den Strom, ließen ihre Lasten an Baumstämmen hängen, stolperten, verletzten sich, stürzten über vulkanische Felsen, setzten in kühnem Sprunge über 97 brausende Wasserfälle und vollbrachten Kunststücke, die eine Kraft und Ausdauer erforderten, deren nur kamtschadalische Pferde fähig sind. Bei dem Versuch, über ein acht bis zehn Fuß breites Bergwasser zu setzen, wurde ich aus dem Sattel geworfen, und mein linker Fuß blieb im Steigbügel hängen. Das Pferd kletterte die andere Seite des Abhanges hinauf und eilte in erschrecktem Galopp die Schlucht entlang, indem es mich nachschleifte. Ich erinnere mich, einen verzweifelten Versuch gemacht zu haben, um meinen Kopf zu schützen, aber das Pferd versetzte mir einen Tritt in die Seite, und ich verlor die Besinnung. Als ich wieder zu mir kam, lag ich am Boden, den Fuß noch in dem zerrissenen Steigbügel; es war mein Glück gewesen, daß der Riemen nachgegeben, sonst wäre mir wohl der Schädel an den Felsen zerschmettert worden. Ich hatte arge Quetschungen davongetragen und fühlte mich sehr flau und schwindelig, konnte mich aber ohne Hilfe aufrichten. Bis dahin hatte der Major sein heftiges Temperament beherrscht, aber dies war zu viel, er schimpfte ganz entsetzlich auf den armen Nikolaus, der uns auf den gräßlichen Weg geführt, und bedrohte ihn mit der schrecklichsten Strafe, wenn wir nach Tigiljsk kämen. Vergeblich behauptete Nikolaus, es gäbe keinen anderen Paß; das wäre seine Sache, er hätte einen anderen auffinden müssen und nicht das Leben der ihm anvertrauten Menschen in Gefahr bringen dürfen, indem er sie in diese verwünschte Schlucht führte, die durch Bergstürze, umgefallene Baumstämme, Wasser, Lava und große vulkanische Felsblöcke versperrt sei. Sollte bei der verdammten Expedition einer der Gesellschaft zu Schaden kommen, schwor der Major, so werde er Nikolaus auf dem Fleck erschießen. Blaß und zitternd vor Schrecken, fing der arme Führer mein Pferd ein, besserte meinen Steigbügelriemen aus und ritt voraus, um zu zeigen, daß er sich nicht vor dem Wege fürchte, auf dem wir ihm folgen sollten. Ich glaube, daß wir während eines Aufstiegs von 2000 Fuß wenigstens fünfzigmal über den Bergstrom setzen mußten, um andere Hindernisse zu vermeiden. Eines unserer Lastpferde 98 war ganz dienstunfähig, mehrere andere beinah untauglich geworden, als wir endlich spät am Nachmittage auf der Höhe, 4000 Fuß über dem Meere, ankamen. Vor uns dehnte sich, halb von grauen Sturmwolken und Nebel verhüllt, ein weites Tafelland aus, das achtzehn Zoll tief mit einer weichen, dichten Decke arktischen Mooses überzogen war, welche das Wasser aufgesogen wie ein ungeheuer großer Schwamm. Kein Baum, keine Landmark irgend welcher Art so weit das Auge reichte, nichts wie Moos und jagende Wolken. Ein kalter, durchdringender Nordwind peitschte uns halbgefrorenen Regen ins Gesicht. Durch den neunstündigen Ritt im Sturm bis auf die Haut durchnäßt, müde und zerschlagen vom langen Klettern, mit Stiefeln voll eisigen Wassers und vor Kälte steifen und gefühllosen Händen, hielten wir einen Augenblick die Pferde an, um einen weiteren Entschluß zu fassen. Die Kälte und das Unbehagen waren derart, daß der reichlich verteilte Branntwein seinen belebenden Einfluß gar nicht zur Geltung bringen konnte. Der arme Starosta von Jelowka mit triefenden Kleidern, blauen Lippen, klappernden Zähnen und an seinen blassen Wangen klebendem, schwarzem Haar, war ganz erschöpft. Er griff gierig nach dem Branntwein, den ihm der Major reichte, aber jedes Glied an seinem Leibe zitterte krampfhaft, und er verschüttete mehr, als er zum Munde brachte.

Da wir fürchteten, die Dunkelheit werde uns überraschen, ehe wir ein Obdach erreichen könnten, machten wir uns nach einer verlassenen halbverfallenen »Jurte« auf, die nach Nikolaus' Aussage am westlichen Rande des Hochplateaus, etwa acht Werst entfernt lag. Unsere Pferde versanken bei jedem Schritt knietief in der weichen, schwammigen, nassen Moosdecke, so daß wir außerordentlich langsam vorwärts kamen; die acht Werst schienen endlos zu sein. Nach vier langen Stunden in bitter kaltem Nordwestwind und nassen, grauen Wolken bei einer Temperatur von gerade 32° Fahrenheit, kamen wir endlich halberfroren an unser Ziel. Die Jurte war eine niedrige, leere, fast viereckige Hütte aus 99 Baumstämmen verschiedener Größe errichtet, welche mit einer zwei bis drei Fuß dicken, mit Moos und Gras bewachsenen Erdschicht bedeckt waren. Die Hälfte der einen Seite war, vermutlich von wärmebedürftigen Reisenden, eingerissen worden, um als Brennholz zu dienen; der Boden war von dem durch das schadhafte Dach tröpfelnden Wasser naß und schlammig; Wind und Regen fanden durch das Kaminloch freien Zulaß, die Thür war verschwunden, und das Ganze bot ein trostloses Bild von Verfall. Der niemals verlegene Wuschin setzte, um sich Brennholz zu verschaffen, das angefangene Zerstörungswerk fort, machte Feuer, hing die Theekessel auf und brachte unsere Vorräte ins Trockene, soweit dies in der elenden Hütte möglich war. Ich konnte nie feststellen, woher Wuschin an diesem Abend das Theewasser nahm, denn innerhalb zehn Meilen war kein fließendes Wasser, und was vom Dach tröpfelte war schlammig, habe ihn aber stark im Verdacht, daß er das Moos der eingeweichten Tundra aufriß und ausdrückte. Dodd und ich entledigten uns unserer Stiefel, gossen wenigstens eine Pinte Schmutzwasser aus jedem, trockneten unsere Füße und fingen an, uns ganz behaglich zu fühlen, als der Dampf aus unseren nassen Kleidern aufstieg.

Wuschin war in vorzüglicher Laune. Er hatte freiwillig während des ganzen Tages für die Treiber gesorgt, war unermüdlich bei der Hand gewesen, gestrauchelten Pferden wieder auf die Beine zu helfen oder sie an gefährlichen Stellen zu führen, die mutlosen Kamtschadalen aufzuheitern, und jetzt drehte er das Wasser aus seinem Hemde, und drückte in der Zerstreutheit sein nasses Haar in einen Kessel voll Suppe aus mit einem von Heiterkeit strahlenden Antlitz, und dabei lachte er so herzlich, daß es geradezu unzulässig war, behaupten zu wollen, man sei ärgerlich, müde, kalt oder hungrig. Sein vergnügtes Gesicht in der rauchigen Atmosphäre der verfallenen Jurte, sein gutmütiges Lachen wirkten ansteckend; wir machten uns über unser Mißgeschick lustig und überzeugten uns gegenseitig, daß wir 100 gar nicht so schlimm daran seien. Nach einem spärlichen Nachtessen aus »Selanka«, getrocknetem Fisch, hartem Brot und Thee, streckten wir unsere müden Knochen in der seichtesten Pfütze, die wir finden konnten, aus, deckten uns mit wollenen Teppichen, Überröcken, Wachstuch und Bärenfellen zu und schliefen, trotz nasser Kleider und noch nässerer Betten friedlich ein. 101

 


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