George Kennan
Zeltleben in Sibirien
George Kennan

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24. Kapitel.

Unser kurzer Aufenthalt in Schestakowa, während wir auf die Schlitten von Penschinsk warteten, war über alle Maßen gräßlich und einsam. Am Nachmittag des zwanzigsten erhob sich ein furchtbarer Sturm und wirbelte von der großen Steppe nördlich des Dorfes so schreckliche Schneemassen auf, daß es dunkel wurde, wie bei einer Sonnenfinsternis, und die Atmosphäre hundert Fuß hoch vom Boden buchstäblich mit einem weißen, schier undurchdringlichen Nebel von Schneeflocken erfüllt war. Ich wagte mich einmal an den Eingang des Kamines, wurde aber beinah weggeweht und vom Schnee erstickt, so daß ich schleunigst den Rückzug antrat und mir Glück wünschte, bei einem solchen Orkan mich nicht im Freien aufhalten zu müssen. Um uns vor dem eindringenden Schnee zu schützen, mußten wir das Feuer löschen und die Kaminöffnung mit einer Art hölzerner Fallthüre verschließen, so daß wir in der Kälte und vollständiger Dunkelheit saßen. Wir zündeten Lichter an, um wenigstens lesen zu können, aber es war so intensiv kalt, daß wir schließlich den Gedanken an litterarische Unterhaltung aufgaben, uns mit unseren dicksten Pelzanzügen bekleideten und in unsere Schlafsäcke krochen, um den herrlichen Tag zu verschlafen. Was blieb uns in dem halbunterirdischen, dunkeln Gefängnis bei zehn Grad unter Null anders übrig?

218 Mir ist es ein Rätsel, wie es möglich ist, daß menschliche Wesen in so abscheulichen, gräßlichen Häusern wie die der ansässigen Korjäken leben können! Ich konnte denselben auch nicht eine günstige Seite abgewinnen. Sie werden durch den Kamin betreten, beleuchtet und ventiliert; die Sonne scheint nur einmal im Jahr in dieselben, im Juni; im Winter sind sie kalt, im Sommer dumpfig und unbehaglich, zu jeder Zeit rauchig. Sie duften stets nach ranzigem Öl und faulem Fisch; die Balken derselben sind schwarz und fettig vom Rauch, und der Boden besteht aus einem unbeschreiblichen Gemisch von Renntierhaaren und trocknem, festgetretenem Kot. Hölzerne Gefäße mit Seehundsthran, in dem Moosfasern brennen, und schwarze, hölzerne Tröge, die bald als Schüsseln, bald als Sitze dienen, bilden das einzige Hausgerät. Das Los der Kinder, die in diesen Häusern geboren werden, ist überaus traurig. Sie kommen nie an die frische Luft, bis sie alt genug sind, selbst den Kamin hinauszuklettern.

Den Tag nach unserer Ankunft in Schestakowa wurde das Wetter viel besser, und unser Kosak Meroneff, der nach Tigiljsk zurückkehrte, verabschiedete sich und trat mit einigen Eingeborenen die Rückreise nach Kamensk an. Dodd und ich tranken, um die Zeit zu verkürzen, acht- bis zehnmal am Tage Thee, lasen von einem Cooper'schen Roman einen Band, den wir in Gischiginsk aufgelesen, und schweiften mit unseren Flinten auf dem hohen Ufer der Bucht umher, auf der Suche nach Füchsen. Bald nach Einbruch der Dunkelheit, als wir aus purer Verzweiflung zum siebentenmal Thee tranken, schlugen unsere Hunde, die außerhalb der Jurte angebunden waren, an, und Jagor glitt in aufgeregtem Zustande den Kamin herab und brachte die Kunde, es sei gerade ein russischer Kosak mit Briefen vom Major aus Petropawlowsk angekommen. Dodd sprang auf die Füße, warf den Theekessel um, ließ seine Tasse fallen und stürzte wie toll auf die Kaminleiter zu; aber noch ehe er sie erreichte, sahen wir jemandes Beine den Kamin besteigen, und einen Augenblick später erschien 219 eine große, in gefleckte Renntierfelle gekleidete Gestalt7 bekreuzte sich sorgfältig zwei- oder dreimal, offenbar als Dankeszoll für seine glückliche Ankunft, und wendete sich dann mit der russischen Begrüßung: »Zdrastwuitia,« an uns. – »At Kuda?« – woher, fragte Dodd schnell. »Von Petropawlowsk mit Briefen für den Major,« war die Antwort; »es sind drei Telegraphenschiffe dort gewesen, und ich überbringe wichtige Nachrichten von dem amerikanischen Netschalnik, ich bin von Petropawlowsk bis hierher neununddreißig Tage und Nächte unterwegs gewesen.« Das waren wichtige Neuigkeiteu. Oberst Bulkley hatte nach seiner Rückkehr von der Behringsstraße offenbar am Südende von Kamtschatka angelegt, und die vom Kurier überbrachten Briefe enthielten ohne Zweifel die Erklärung, weshalb er auf die Absicht, an der Anadyrmündung eine Abteilung landen zu lassen, verzichtet hatte. Ich war in großer Versuchung, die Briefe zu öffnen, aber da ich vermutete, daß sie meine Mission nicht beeinflussen würden, beschloß ich, dieselben ohne Aufschub nach Gischiginsk weiter zu schicken, in der schwachen Hoffnung, daß der Major noch nicht nach Ochotsk abgereist sei. Zwanzig Minuten später war der Kosak wieder unterwegs, und wir ergingen uns in Vermutungen über den Inhalt der Briefe und die Richtung, welche die von Oberst Bulkley an die Behringsstraße beförderten Abteilungen eingeschlagen haben könnten. Ich bereute hundertmal, daß ich die Briefe nicht geöffnet und mich vergewissert, daß die Anadyrabteilung nicht gelandet worden war. Aber jetzt war es zu spät, und wir konnten nur hoffen, daß der Kurier den Major noch vor seiner Abreise treffen, und dieser uns Botschaft nach Anadyrsk senden werde.

Von Schlitten aus Penschinsk war immer noch keine Spur, und wir verbrachten eine weitere Nacht und einen weitern langen, trübseligen Tag in der rauchigen Jurte zu Schestakowa in der Erwartung von Transportmitteln. Am Abend des zweiundzwanzigsten Dezember kam Jagor, der als Schildwache diente, mit einer neuen Sensationsnachricht den Kamin herunter. Er hatte in der 220 Richtung von Penschinsk Hunde heulen hören. Wir begaben uns auf das Dach der Jurte und lauschten mehrere Minuten aufmerksam, da aber nichts als das Geräusch des Windes an unser Ohr drang, vermuteten wir, Jagor habe sich getäuscht oder das Geheul von Wölfen in der Nähe der Niederlassung gehört. Jagor hatte aber doch recht, denn zehn Minuten später hielten die lang erwarteten Schlitten unter allgemeinem Geschrei und Geheul vor unserer Jurte an. Im Laufe der Unterhaltung mit den neuen Ankömmlingen glaubte ich zu verstehen, daß einer der Leute aus Penschinsk etwas von einer Gesellschaft erzähle, die an der Mündung des Anadyr erschienen sei und daselbst ein Haus baue, als ob sie die Absicht hätte, den Winter dort zu verbringen. Ich verstand noch nicht russisch genug, vermutete aber, daß es sich um die vielbesprochene Anadyrabteilung handele, sprang ganz erregt auf und rief Dodd als Dolmetscher herbei. Nach dem, was wir in Erfahrung bringen konnten, schien es, daß zu Beginn des Winters eine kleine Gesellschaft von Amerikanern an der Anadyrmündung aufgetaucht war, und daß sie aus Treibholz und mitgebrachten Brettern ein Haus errichtet hatten. Niemand wußte, was sie wollten, wer sie waren, oder wie lange sie zu bleiben beabsichtigten, da die Kunde von wandernden Tschutschken herrührte, welche die Amerikaner auch nicht selbst gesehen, sondern durch andere von ihnen gehört hatten. Die Neuigkeit war aus einem Tschutschkenlager ins andere und endlich nach Penschinsk und von dort zu uns nach Schestakowa gelangt, mehr als fünfhundert Meilen von dem Ort, wo sich die Amerikaner aufhalten sollten. Wir hielten es kaum für möglich, daß Oberst Bulkley zu Beginn eines arktischen Winters eine Erforschungsgesellschaft in der trostlosen Region südlich der Behringsstraße gelandet habe; aber was hatten Amerikaner da zu schaffen, wenn sie nicht unserer Expedition angehörten? Es war kein Ort, den sich civilisierte Menschen zur Winterresidenz aussuchen, wenn sie nicht sehr gewichtige Gründe dafür haben. Die nächste Niederlassung, Anadyrsk, war fast 221 zweihundertundfünfzig Meilen entfernt. Die Gegend am unteren Anadyr sollte ganz ohne Holz und nur von herumziehenden Tschutschken bewohnt sein, und Amerikaner ohne Dolmetscher konnten nicht einmal mit diesen wilden, unabhängigen Eingeborenen in Beziehung treten oder sich Transportmittel verschaffen. Wer sie auch waren, sie mußten sich in sehr unangenehmer Lage befinden.

Die Angelegenheit beschäftigte Dodd und mich bis gegen Mitternacht, und endlich beschlossen wir, bei unserer Ankunft in Anadyrsk mit einer Anzahl erfahrener Eingeborener und Vorräten für dreißig Tage auf Hundeschlitten an die Küste des stillen Ozeans zu reisen, um die mysteriösen Amerikaner aufzusuchen. Das Abenteuer war neu und gefährlich genug, um interessant zu sein, und wenn es uns gelang, die Mündung des Anadyr im Winter zu erreichen, so vollbrachten wir etwas, was noch niemand gelungen und erst einmal versucht worden war. Mit diesem Entschluß krochen wir in unsere Pelzsäcke und träumten, daß wir nach dem offenen Polarmeer abreisten, um Sir John Franklin aufzusuchen.

Sobald es am Morgen des dreiundzwanzigsten Dezember zum Sehen hell genug war, luden wir unseren Tabak, Thee, Zucker, unsere Vorräte und Tauschwaren auf die Schlitten aus Penschinsk und fuhren von der Schestakowabucht durch ein seichtes, mit Buschwerk bestandenes Thal in der Richtung einer Bergkette, eines Ausläufers des großen Stanowoigebirges, in welchem der Strom entspringt. Am frühen Nachmittag ging's in einer Höhe von tausend Fuß über die Berge; wir gelangten den nördlichen Abhang hinab in ein enges Thal, welches auf die großen Steppen am Flusse Aklan mündet. Das Wetter war klar und nicht sehr kalt, aber der Schnee im Thal weich und tief, so daß wir nur sehr langsam vorwärts kamen. Wir hatten gehofft, den Aklan noch bei Tage zu erreichen, aber der Tag war so kurz und die Straße so schlecht, daß wir noch fünf Stunden in der Dunkelheit fuhren und doch zehn Werst südlich vom Flusse übernachten mußten. Eine Befriedigung ward uns jedoch zuteil, nämlich zwei sehr schöne Nebenmonde 222 zu sehen und eine prachtvolle Gruppe kriechender Kiefern zu entdecken, die uns trockenes Holz zu einem herrlichen Lagerfeuer lieferten. Der merkwürdige Baum oder Busch, der den Russen als »Kedrewnik« bekannt ist und in der englischen Übersetzung von Wrangels Reisen als »kriechende Ceder« bezeichnet wird, ist eines der eigentümlichsten Produkte Sibiriens. Ich weiß kaum, ob ich es Baum, Busch oder Schlinggewächs benennen soll, denn es besitzt charakteristische Merkmale von allen dreien und sieht doch keinem ähnlich. Es gleicht am meisten einer Zwergkiefer mit einem besonders knorrigen, gekrümmten und gewundenen Stamm, der wie ein vernachlässigtes Schlinggewächs horizontal auf dem Boden hinkriecht und senkrechte Zweige durch den Schnee empor sendet. Es hat Nadeln und Zapfen wie die gemeine Kiefer, aber es steht nie aufrecht wie ein Baum und wächst in Gruppen von einigen Metern bis zu einem Hektar. Man könnte im Winter über eine weite, damit bewachsene Fläche hinschreiten, ohne etwas anderes davon zu erblicken, als einige scharfe, grüne Nadeln, die aus dem Schnee hervorragen. Die kriechende Kiefer wird auf den trostlosesten Steppen und felsigsten Bergen vom ochotskischen bis zum nördlichen Eismeere gefunden und scheint da, wo der Boden am unfruchtbarsten und die Stürme am ärgsten sind, am üppigsten zu gedeihen. Auf großen, ozeanartigen Ebenen, die aller Vegetation bar sind, wächst diese kriechende Kiefer unter dem Schnee und bedeckt an manchen Stellen den Boden mit einem förmlichen Netze von knorrigen, ineinander geschlungenen Stämmen. Aus irgend einem Grunde scheint sie in einem gewissen Alter abzusterben, und wo man ihre grünen, stacheligen Nadeln findet, entdeckt man auch trockene, weiße Stämme, die so leicht entzündbar sind wie Zunder. Sie liefert fast das einzige Brennholz für die nomadischen Korjäken und Tschutschken, und ohne dieselbe wären viele Teile Nordostsibiriens absolut unbewohnbar. Während unserer Erforschungsreise in Sibirien wären wir gar manche Nacht gezwungen gewesen, ohne Feuer, Wasser oder warme Nahrung zu kampieren, hätte die 223 Natur nicht überall für einen Überfluß von kriechender Kiefer gesorgt und dieselbe zum Gebrauch von Reisenden unter dem Schnee verborgen.

Früh am andern Morgen verließen wir unser Lager in dem Thale, fuhren über den großen, mit bewaldeten Ufern versehenen Fluß Aklán und in die weite Steppe hinaus, welche sich von seinem nördlichen Ufer in der Richtung von Anadyrsk hinzieht. Zwei Tage lang reisten wir über diese unfruchtbare Schneeebene, die nur gelegentlich an den Ufern von Flüßchen einige verkrüppelte Bäume oder Gruppen von kriechender Kiefer aufzuweisen hatte, und auf der das tierische Leben sich auf einige vereinzelte Raben und einen roten Fuchs beschränkte. Diese öde, traurige Landschaft läßt sich in zwei Worten beschreiben – Schnee und Himmel. Ich war mit dem vollen Glauben an den endgiltigen Erfolg der russisch-amerikanischen Telegraphenlinie nach Sibirien gekommen; aber je tiefer ich in das Land vordrang, je mehr ich diese vollständige Einöde kennen lernte, desto weniger zuversichtlich wurde ich. Seit wir Gischiginsk verlassen, hatten wir eine Strecke von dreihundert Werst zurückgelegt, nur vier Orte gefunden, wo wir uns Telegraphenstangen verschaffen konnten, und waren nur durch drei Niederlassungen gekommen. Wenn wir keine bessere Route, als die von uns bereiste, zu entdecken imstande waren, fürchtete ich, die sibirische Telegraphenlinie würde ein Mißerfolg sein.

Bis dato waren wir von außergewöhnlich gutem Wetter begünstigt gewesen, aber es war die Zeit im Jahre, da Stürme häufig sind, und so war ich denn auch nicht im geringsten überrascht, als ich in der Weihnachtsnacht vom Heulen des Windes und dem zischenden Laut des Schnees geweckt wurde, der durch unser unbedecktes Lager fegte und Hunde und Schlitten unter seiner Decke begrub. Es war ein kleiner Vorgeschmack von einer sibirischen »purga«. Das Gehölz an dem kleinen Fluß, an dem wir kampierten, schützte uns noch einigermaßen, aber auf der offenen Steppe mußte ein Orkan hausen. Wir erhoben uns wie 224 gewöhnlich, als der Tag graute, und machten einen Versuch, weiter zu reisen, aber kaum waren wir des Schutzes der Bäume beraubt, da wurden unsere Hunde ganz unbändig, und vom Schnee fast erstickt, kehrten wir in das eben verlassene Asyl zurück. Man konnte nicht fünfzehn Schritte weit sehen, und der Sturm war so heftig, daß unsere Hunde demselben nicht Trotz bieten wollten. Wir stellten unsere Schlitten als eine Art Brustwehr gegen den antreibenden Schnee aufeinander, breiteten unsere Pelzsäcke hinter denselben aus, krochen hinein, bedeckten unsere Köpfe mit Renntierfellen und Decken und machten uns mit dem Gedanken an eine lange, traurige Belagerung vertraut. Es giebt nichts Unbehaglicheres und Schrecklicheres als bei Sturm auf einer sibirischen Steppe zu kampieren. Der Wind weht mit solcher Gewalt, daß an Errichtung eines Zeltes nicht zu denken ist; das Feuer wird von dem Schneetreiben fast ausgelöscht und füllt einem, wenn es überhaupt brennt, die Augen mit Rauch und Asche; Unterhaltung wird durch das Heulen des Sturmes und den Schnee, der einem ins Gesicht schlägt, zur Unmöglichkeit; Bärenfelle, Kissen und Pelze werden von dem halbgeschmolzenen Hagel steif und mit Eis bedeckt, die Schlitten unter dem Schnee begraben, und dem unglücklichen Reisenden bleibt nichts anderes übrig, als in seinen Schlafsack zu kriechen, seinen Kopf zuzudecken und vor Frost zu zittern.

Wir lagen zwei Tage bei diesem Sturme meist in unseren Pelzsäcken auf dem Schnee und litten während der langen, dunkeln Nächte entsetzlich von der Kälte. Am 28. gegen vier Uhr des Morgens ließ der Sturm etwas nach, und um sechs hatten wir unsere Schlitten herausgeschaufelt und waren unterwegs. Ungefähr zehn Werst nördlich von unserem Lager befand sich ein niedriger Ausläufer des Stanowoigebirges, und unsere Leute versicherten, wenn es uns gelänge, vor Tagesanbruch denselben zu überschreiten, würden wir wahrscheinlich vor unserer Ankunft in Penschinsk kein schlechtes Wetter mehr bekommen. Unser Hundefutter war 225 aufgezehrt, und wir mußten innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden die Niederlassung zu erreichen suchen.

Der Schnee war vom Winde ganz hart geworden, unsere Hunde waren nach zweitägiger Rast besonders flink; vor Tagesanbruch lag der Bergrücken hinter uns, und wir lagerten am nördlichen Abhang desselben in einem kleinen Thale, um Thee zu trinken. Wenn die sibirischen Eingeborenen gezwungen sind, die ganze Nacht zu reisen, pflegen sie gerade vor Sonnenaufgang Halt zu machen, um ihren Hunden einen Erholungsschlaf zu gestatten. Sie folgern, wenn ein Hund einschlafe, während es noch dunkel ist, und nach einer Stunde im Sonnenschein aufwache, bilde er sich ein, er habe eine volle Nachtruhe genossen und laufe dann den ganzen Tag, ohne an Ermüdung zu denken. Eine Stunde Rast zu jeder andern Zeit halten sie für nicht zweckdienlich. Sobald wir also meinten, unsere Hunde könnten sich einbilden, die ganze Nacht geschlafen zu haben, weckten wir sie und fuhren das Thal hinab in der Richtung eines Nebenflusses des Penschina, Uskanowa genannt. Das Wetter war klar und nicht sehr kalt, und wir alle freuten uns des angenehmen Wechsels und der zwei kurzen Stunden Sonnenschein, ehe das Tagesgestirn hinter den schneebedeckten Gipfeln des Stanowoigebirges hinabsank. Bei einbrechender Dunkelheit überschritten wir den Fluß Kondra, fünfzehn Meilen von Penschinsk, und zwei Stunden später irrten wir auf einer großen, ebenen Steppe, in zwei oder drei getrennten Partieen umher. Ich war, bald nachdem wir den Kondra passiert hatten, eingeschlafen und hatte nicht die geringste Ahnung, welche Fortschritte wir machten, oder in welcher Richtung wir vordrangen, bis Dodd mich plötzlich an der Schulter faßte und sagte: »Kennan, wir haben uns verirrt.« Jedenfalls eine angenehme Art, geweckt zu werden, aber da Dodd nicht sehr beunruhigt schien, versicherte ich ihm, daß es mir ganz einerlei sei, legte mich in mein Kissen zurück und schlief wieder ein, in der Zuversicht. daß es meinem Kutscher gelingen werde, im Laufe der Nacht nach Penschinsk zu kommen. –

226 Indem wir uns nach den Gestirnen richteten, schlugen Dodd, Gregorie und ich mit noch einem andern Schlitten, der bei uns geblieben, die östliche Richtung ein und gelangten gegen neun Uhr an den Penschina, etwas unterhalb der Niederlassung. Wir fuhren nun auf dem Eise desselben aufwärts und hatten erst eine kurze Strecke zurückgelegt, als uns einige Schlitten entgegenkamen. Überrascht, daß um diese Stunde der Nacht sich Schlitten vom Dorfe entfernten, riefen wir sie an: »Hallo!«

»Hallo!«

»Wohin des Weges?«

»Wir wollen nach Penschinsk; wer seid ihr?«

»Wir kommen von Gischiginsk und wollen auch nach Penschinsk; warum kommt ihr den Fluß herunter?«

»Wir suchen das verwünschte Dorf; wir sind die ganze Nacht gereist und können's nicht finden.«

Dodd fing laut an zu lachen, und als die geheimnisvollen Schlitten dicht bei uns waren, erkannten wir in den Kutschern drei unserer eigenen Leute, die sich bei einbrechender Dunkelheit von uns getrennt und Penschinsk zu erreichen suchten, indem sie flußabwärts, dem ochotskischen Meere zufuhren. Wir konnten sie kaum davon überzeugen, daß das Dorf nicht in dieser Richtung liege. Sie kehrten jedoch schließlich mit uns um, und bald nach Mitternacht hielten wir unseren Einzug in Penschinsk, weckten die schlafenden Bewohner mit lautem Geschrei, veranlaßten fünfzig oder sechzig Hunde, einen Heulprotest gegen diese unzeitige Störung anzustimmen, und brachten die ganze Niederlassung in Aufruhr.

Zehn Minuten später saßen wir auf Bärenfellen vor einem warmen Feuer in einem behaglichen russischen Hause, tranken eine Tasse duftenden Thees nach der andern und besprachen unsere nächtlichen Abenteuer. 227

 


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