Egon Erwin Kisch
China geheim
Egon Erwin Kisch

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Der Inder auf dem Verkehrsturm

schaltet abwechselnd rotes, gelbes und grünes Licht ein. Er hat einen roten, gelben oder grünen Turban um den Kopf gewickelt. Die Analogie mit den Lichtern der Verkehrsampel hört auf, wenn der Turban andersfarbig ist. An allen wichtigen Straßenkreuzungen des Internationalen Settlements regeln Inder den Verkehr.

Andere bewachen tagsüber und nachtsüber Banken, Warenhäuser und Bürohäuser. Beide Gruppen, Polizei und Wächter, stecken im hochgeschlossenen Uniformrock, der englisch ist, und haben einen Kamm unter dem Turban, ein Messer am Gurt, einen Reifen am Arm und kurze Leinenhosen – vier Vorschriften ihrer Religion, zu denen sich als fünfte gesellt, daß niemand und nichts, kein Messer und kein Barbier, nicht Gattin noch Kind den wildwachsenden Bart berühren darf.

Manche der privaten Wächter tragen einen schwarzen Turban, was ihren höher gestellten Kollegen von der Straßenecke verwehrt bleibt. Eigentlich ist der schwarze Turban auch den privaten Wächtern verboten, aber sie behaupten, er sei nicht schwarz, sondern (allerdings sehr!) dunkelblau, England läßt das gelten. England 39 läßt schwarz blau sein. England hat seine Erfahrungen mit dem schwarzen Turban.

Ob nun die indischen Wächter, die Sikhs, hell oder dunkel beturbant sind, mit Karabinern sind sie ausgerüstet. Ernst sind die Zeiten für die Internationale Siedlung, jeden Augenblick können sich die Ausgebeuteten in Asien gegen die Ausbeuter aus Europa auflehnen, Wächter allein genügen nicht, selbst wenn sie hünenhafte, bärtige Inder sind, sie müssen auch Feuergewehre haben.

Ohne Zweifel wirken die Sikhs höchst imposant. Weder der hagere Anamite mit dem Lampenschirm als Hut, der in der Franzosenstadt den Polizisten macht, noch der Chinese, der in der »Chinesischen Konzession« mit einem Stück Zuckerrohr den Verkehr regelt, läßt sich mit ihnen vergleichen. Wenn ein Sikh auf dem Turm steht, wagen es die Rikschakulis mitnichten, die Lichtbefehle zu mißachten. Wenn ein Sikh auf dem Fußsteig vor dem Zollamt patrouilliert, so macht jedermann einen Bogen, – niemand will in Verdacht geraten, einen Überfall zu beabsichtigen.

So hüten die braunen Titanen die Ordnung und das Geld ihrer Kolonialherren, walten rücksichtslos und brutal ihres Amtes, und deshalb haßt das Chinesenvolk Shanghais seine indischen Wächter.

Das Chinesenvolk Shanghais haßt sie auch aus einem andern Grund. Manche der Sikhs, infiziert vom Geist Shanghais, dem Geist der hemmungslosesten Ausbeutung, infiziert vom Geist der Gebäude, als deren Karyatiden sie hingestellt sind, entsagen eines Tages dem Wachberuf und widmen sich den Geschäften. Sie borgen 40 den Chinesen Geld zu hohen Zinsen. Schuldscheine in der Hand, bevölkern sie alltäglich den Gerichtssaal. Kettenhunde des Kolonialkapitals, Halsabschneider des Kolonialvolks.

Früher einmal haben auch diese Sikhs eine andere Rolle gespielt. Das war nicht hier, das war im nordwestlichen Indien, im Punjab. Dort leben sie, seitdem sie sich im 15. Jahrhundert gegen die Mohammedaner zusammengeschlossen haben, rings um den Goldenen Tempel von Amritsar in demokratischer Gemeinschaft, glauben an einen einzigen Gott, lehnen Kastenwesen und Seelenwanderung und Bilderverehrung und Witwenverbrennung ab. Jedem Ansturm der Feinde, die ihre Selbständigkeit brechen wollten, haben sie sich kühn widersetzt. Einst wurde einer der Gurus, ihrer Lehrer, gefangengenommen und vor den mohammedanischen König geführt. Außer dem Verbrechen, Führer der Ungläubigen zu sein, legte man ihm zur Last, sich bei seiner Eskortierung nach dem Harem seines Besiegers umgedreht zu haben. »Ich wandte mich um,« erwiderte der Guru dem feindlichen König, »nach dem Westen, woher die Weißen kommen werden über das Meer, um Euch und uns zu Sklaven zu machen, wenn wir nicht einig sind.«

Er hatte richtig prophezeit. Die Engländer kamen über das Meer, um die Sikhs und die Hindus und die Mohammedaner zu Sklaven zu machen. Blut strömte durch den Punjab. Dreitausend Tote brachten die Sikhs den Engländern bei Feros-schahr bei, achttausend bei Feros-pur. Damals standen die Posten der Sikhs nicht auf Türmen und konnten das Dunkel des Dschungels nicht mit den elektrischen Scheinwerfern durchdringen, die sie 41 heute im Leuchtturm in der Nanking Road aufblitzen lassen, sie hantierten nicht mit den Sechsschuß-Karabinern, mit denen sie heute die englischen Banken vor Asien beschützen.

Die Sikhs wurden besiegt, wurden unterworfen, wurden Krieger Englands. Bald feuerten englische Sikh-Bataillone auf ihre aufständischen Landsleute, sie feuerten auf die Völker des Irak, Ägyptens und Birmas, und im Weltkrieg feuerten sie auf die europäischen Feinde ihrer Herren.

Noch aber glimmte der Unabhängigkeitsgedanke in den alten Siedlungen der Sikhs. Man mußte sie unter schärfere Kontrolle stellen, ihnen den letzten Rest der Selbständigkeit nehmen. Die Gurdwaras, ihre Tempel waren bisher von der Gemeinschaft verwaltet worden, – jetzt ernannte die indische Regierung die ihr genehmen Priester zu Tempelhütern, und diese schalteten alsbald selbstherrlich und korrupt in den Tempelgütern. Da standen 1919 die Sikhs von neuem auf. Sie kämpften um die Rückgabe der Gurdwaras an die Gemeinschaft, um die Wiederherstellung ihrer alten Demokratie, – um etwas, was man in den Kolonien keinesfalls dulden kann. Englische Maschinengewehre massakrierten bei Nankhana-Sahib und im Jallianwala Bagh, dem Park von Amritsar, Hunderte von Männern, Frauen und Kindern.

Der Intelligence Service, Englands weltumfassender Spitzeldienst, hatte herausgefunden, daß die Akali, eine Gruppe mit schwarzen Turbans, der fanatische Stoßtrupp der Sikhs sei, und das Tragen des schwarzen Turbans wurde bei Prügelstrafe verboten. 1922 kam es zu den Szenen von Guru-ka-Bagh, ein Epos von passiver 42 Hingabe und von aktiver Brutalität, wie es die Weltliteratur noch nicht geschrieben hat: täglich zogen Tausende von Sikhs mit eigens angelegtem schwarzem Turban, Greise, Männer, medaillengeschmückte Veteranen des Weltkriegs und Knaben, freiwillig aus Amritsar und andern Gemeinden des Punjab nach Guru-ka-Bagh, um sich prügeln zu lassen. Sie saßen in einer Reihe auf dem Boden und sangen, während sich die englische Soldateska auf sie warf, ihr Lied:

Wahiguru, Wahiguru, Wahiguru Ji
Satnam, Satnam, Satnam Ji . . .

Sie sangen, während die Hiebe auf sie niedersausten, sie sangen, während die Soldatenstiefel auf ihnen herumtraten, sie sangen, bis sie leblos umsanken.

Den Prügelszenen wohnten bei der Inspector-General, der Deputy-Inspector-General, der Deputy-Commissioner und etliche Superintendents of Police. Die Behörden Sr. britischen Majestät des Kaisers von Indien befahlen noch größere Strenge, sie hofften, dadurch die Rebellen einzuschüchtern. Man schlug die Sikhs auf die Augen und auf das Gesäß, man riß sie an den Ohren und an dem unberührbaren Bart, trat sie in die Geschlechtsteile. Ohnmächtig oder tot lagen die Sikhs umher, die Prügelsoldaten hatten geschwollene Arme und ihre Stöcke waren zerbrochen, aber immer noch marschierten Prozessionen der Opferbereiten von allen Seiten heran:

Wahiguru, Wahiguru, Wahiguru Ji
Satnam, Satnam, Satnam Ji . . .

Die Offiziere ließen trommeln, und, weißen Schaum vor dem Munde, dem Wahnsinn nahe, stürzten Englands 43 Büttel auf die neuankommenden, mit keiner Bewegung sich wehrenden Sikhs.

Krumm und eng sind die Straßen Shanghais, die Straßenbahn hat keine Schienen, die Autos flitzen an den Rikschas vorbei, ein Vorspann von zwölf Kulis zerrt einen Lastwagen, der eben die Autobuslinie kreuzt – verdammt aufpassen muß der Verkehrspolizist. Ernst und kriegerisch sind die Zeiten, die Japaner zerschießen die Stadt, der Völkerbund höhnt die Chinesen, Not und Erregung sind groß – verdammt aufpassen muß der Wächter. Gehen ihm manchmal der Trommelwirbel und die Stockschläge und das Lied

Wahiguru, Wahiguru, Wahiguru Ji
Satnam, Satnam, Satnam Ji . . .

durch den Kopf, indes die Wellen des Verkehrs zu seinen Füßen branden, indes er steif und fest dasteht, ganz Felseninsel, ganz England?

Man hört mancherlei von den Sikhs, sobald man sie außerhalb ihres Wachbezirks trifft, in Woochang Road, wo die Sikhs wohnen und die Firmentafeln in sanskritischen Buchstaben geschrieben sind. Dort erzählen sie dir zum Beispiel von einem Inspektor, der wirklich ganz Amt, ganz Polizei, ganz England war, und von den andern Sikhs deshalb als Verräter seines Volkes gehaßt wurde. Eines schönen Renntages 1929 wurde er auf dem Turfplatz erschossen. Den Täter nahm man fest. Mit allen möglichen Folterungen versuchte man, etwas über allfällige Freunde oder Auftraggeber herauszubringen. Man erfuhr nichts und hängte ihn. In einem philippinischen Revolutionär vermutete man den intellektuellen 44 Urheber des Attentats, aber da man genau wußte, man werde vor Gericht nichts beweisen können, überfielen ihn englische Detektivs nachts in seinem Haus und schlugen ihm in Keswick Road den Kopf ab. Tags darauf verhafteten die beamteten Mörder acht revolutionäre Sikhs »unter dem Verdacht, den Mord in Keswick Road begangen zu haben«. Durch eine Zeitungskampagne wurde das Manöver enthüllt, und so mußte die Hinrichtung der Unbequemen unterbleiben.

Manchmal ist das mächtige England machtlos gegen die Völker, die es unterdrückt. Die Gedanken unter dem Turban, mag er nun schwarz oder dunkelblau oder andersfarbig sein, kann das mächtige England nicht unterdrücken.

England kann nur Kolonialpolitik machen. Es läßt im Malaischen Staatenbund Zehntausende von chinesischen Kulis die Löhne drücken, wodurch Zehntausende von Malaien und Indern aus den Zinn-Minen, Teakholz-Sägereien und Reis-Plantagen in Arbeitslosigkeit und Hungertod getrieben werden. In den britischen Kronkolonien und Schutzgebieten gibt es auch etwas, was es in China fast nicht gibt: große chinesische Unternehmer. Sie sind Reeder, Reismühlenbesitzer, Hoteliers, Inhaber von Bordellen und beuten die einheimische Bevölkerung genau so aus, wie drüben in China die Europäer die einheimische Bevölkerung ausbeuten.

Deshalb hassen Inder und Malaien die Chinesen als Gelbe Teufel und die Chinesen in China hassen ihrerseits die Inder, die in Shanghai den Chinesen beaufsichtigen, prügeln und bewuchern.

Das ist die Kolonialpolitik. Man hält sie aufrecht, 45 indem man mit Spitzeln und Henkern jede internationale Verbindung zu verhindern sucht. Das Panpazifische Sekretariat der Gewerkschaften ist verboten, seine Funktionäre wurden hingerichtet oder zum Tode durch lebenslängliches Zuchthaus verurteilt.

Es besteht illegal. 46

 


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