Egon Erwin Kisch
China geheim
Egon Erwin Kisch

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Kurzer Prozeß

Aufgerufen, tritt der Angeklagte auf eine Stufe und nun werden Kopf und Oberkörper über der hölzernen Wand sichtbar, manchmal stehen vier, fünf lebende Büsten nebeneinander.

Die Vorstellung rollt ohne Anfang und ohne Ende ab, wie ein Puppenspiel auf dem Jahrmarkt. Nichts sieht das Publikum als den Rücken der Figuren, es könnte allenfalls die Worte verstehen, aber niemand interessiert sich für die Gesamthandlung des Stücks, jeder nur für einen einzigen Akt, eine einzige Rolle, eine einzige Episode, für die, an der er durch Verwandtschaft oder Freundschaft beteiligt ist.

Drei Richter sitzen auf der Empore, rechts und links unter ihnen sind Bänke für die Zeugen, für die Kläger, für den Berichterstatter der Munizipalität und für die Presse, die fast niemals vertreten ist. Werden doch nur Bagatellsachen verhandelt, Maximalstrafe: ein Jahr, – Alltag, Delikte um kleiner Beträge willen, tagaus, tagein, jahraus, jahrein sich wiederholende, also wohl in keiner Weise wichtige Fälle.

Um so mehr Detektive sind da. So viele, daß der ihnen zugewiesene Raum die Meute nicht fassen kann, weshalb 90 die Acht-Copper-Jungen plaudernd, spaßend im Saal herumlungern. Bei der Einvernahme stellen sie sich laut vor: »C. D. S. Nummer Soundso«. Einen andern Namen führen sie nicht als »Chinese Detektiv Sergeant Nummer Soundso«.

Auch Europäer schmücken das Spitzelparkett, die Engländer haben alle – konventionelle Regie! – rotes Haar, wie Judas auf den Abendmahlbildern des Cinquecento. Aus London oder Edinburgh kamen sie nach dem Fernen Osten, um aus dem Erwischen armer Verbrecherchen einen Lebensberuf zu machen. Sie treten an die Barre und legen Zeugnis ab wider ihr Opfer. Auf englisch.

Die gelbgeschnitzte Bühnenfigur schaut schief und groß das Wort an, das fremde Wort des Fremden. Die gelbgeschnitzte Bühnenfigur kann diesem verhängnisvollen Wort nicht begegnen, kann es nicht widerlegen und nicht unterbrechen. Die gelbgeschnitzte Bühnenfigur muß sich von diesem fremden Wort des Fremden ohne Gegenwehr ergreifen und ins Gefängnis werfen lassen.

Ein Dolmetsch übersetzt, wenn es chinesisch zugeht, dem internationalen Assessor jedes Wort ins Englische, die Spitzelaussage übersetzt er für den Richtertisch ins Chinesische. Der Schriftführer schreibt mit dem Pinsel von oben nach unten mit, was der berufsmäßige Belastungszeuge zu berichten weiß, das Protokoll dient gleich als Urteilsbegründung, die Richtigkeit der Aussage kann nicht bezweifelt werden, denn andere werden sie bestätigen; jeder Verhaftung eines Taschendiebs wohnen ein paar Nummern C. D. S. als Zeugen bei. («In Shanghai kommen auf jeden Bewohner fünf Spitzel,« pflegt 91 einer von ihnen zu sagen, seufzend über so viel Konkurrenz.)

Außerdem liegen die furchtbaren Corpora delicti unwiderleglich, unwiderleglich auf dem Tisch des Hauses: die zerschlissene Geldbörse, eine Reisschale mit zwei Würfeln und einigen Kupfermünzen.

Zu jeder Causa nimmt ein junger glattgescheitelter Chinese (schwarze Anwaltsrobe mit Silberborte über europäischem Anzug) als erster das Wort. Wir stellen mit Befriedigung fest, daß er die Sachverhalte nicht erst während der Verteidigung kennenlernt, wie dies anderswo bei Offizialverteidigern der Fall ist, und daß er sich der Sache mit Leidenschaft annimmt, wie dies anderswo bei Offizialverteidigern nicht der Fall ist. Aber unsere Befriedigung ist nur von kurzer Dauer. Bald merken wir, er ist kein Offizialverteidiger, vielmehr das Gegenteil eines Offizialverteidigers: ein Offizialankläger, kein Armenanwalt, vielmehr das Gegenteil eines Armenanwalts: ein Polizeianwalt, vom Stadtrat des Internationalen Settlements dazu bestimmt, gegen Chinesen öffentlich Anklage zu erheben.

Er, der die Polizei verteidigt, sitzt vor der Bühnenwand, zu seinen Häupten agieren die, die niemand verteidigt. Immer neue. Eine Kammer in der Ecke des Saals, eisentürverschlossen, stahlriegelgesichert, gucklochversehen, doppelpostenbewacht, läßt über ihre Bestimmung keinen Zweifel aufkommen. Dorthin wird jeder aus dem Ensemble des tragischen Puppentheaters geschmissen, bevor sein Auftritt kommt, geschmissen, nachdem sein Auftritt vorbei ist. Im Zwischenakt schnürt man die Figuren zu Bündeln und transportiert sie ab. 92

Hof – Treppenhaus – Korridore – Straße – alles voll von Eskorten. Fünf, sechs Gefangene, aneinandergebunden, zerrt man von der Zelle zur Verhandlung, von der Verhandlung zur Zelle, vom Richter zum Nachrichter, geradeaus und um die Ecke. Wird nur ein einzelner geführt, so ist's die Art, ihn am Genick zu halten und nach vorn zu kicken. Gilt es einem Herrn Beamten oder einer andern Eskorte auszuweichen, gibt der Polizist dem Gefangenen mit dem Fuß die richtige Richtung und geschwindere Geschwindigkeit.

Auf ähnliche Art wird auch im Verhandlungssaal der Angeklagte vor seinen Richter getreten. Er stolpert, vom Stoß beschleunigt, die Stufe hinauf, und schon ist er aus der Versenkung emporgetaucht, eine Bühnenfigur.

Kurzer Prozeß. Sung-Tsang und Wan-Bi-Lu, aneinandergefesselt. C. D. S. 184 macht die Aussage: die beiden waren gestern in der Werkstätte eines Beinschnitzers; während Wan-Bi-Lu nach dem Preis eines Petschafts fragte, versuchte Sung-Tsang ein Mahjongspiel zu stehlen. Wan-Bi-Lu wird freigesprochen, Sung-Tsang zu zwanzig Dollar Strafe verurteilt, das heißt: zu zwanzig Tagen Haft, denn hier hat kein Angeklagter Dollars übrig. Verurteilter und Freigesprochener werden voneinander losgekoppelt, Sung-Tsang ins eisern verschlossene Eckzimmer gestoßen.

Ein hohläugiger Kopf mit fahlem Haarkranz und ebensolchem Spitzbart hat den Passanten von Tsepu Road Gelegenheit zum Glücksspiel geboten. Ach, die Passanten von Tsepu Road brauchen ihn dazu! Ach, das Glücksspiel um halbe Pfennige! Was tut's, der Alte, 93 zumal er rückfällig ist, kriegt zehn Tage aufgedonnert. Man schiebt ihn in den Kotter.

Sechs auf einmal, sechs Gesichter aneinander gepreßt, sechs Körper aneinandergefesselt, eine Partie. Was kostet sie? Steht noch nicht fest, deshalb starren die sechs, alle unter zwanzig Jahre alt, aber sonst alle verschieden, mit aufgerissenen Schrägaugen nach vorn, wo ihr Schicksal entschieden wird.

Sie haben aus einem zerschossenen Haus in Tschapei die Waren eines Pfandleihers davongetragen. Das ist schon zwei Monate her. Der C. D. S. Nr. 76 fand bei einer Haussuchung einen Teil der gestohlenen Ware, und der Verhaftete gestand seine Komplizen ein. Einer leugnet ganz, einer leugnet halb, einer leugnet ein viertel, einer beschuldigt zwei, und alle sind sie aneinandergekettet, Verratene und Verräter, Geständige und Leugnende, Komplizen und Feinde.

C. D. S. Nr. 76 nennt sie einen »Gang«, eine Verbrecherbande, die Mitglieder nennt er »Gangsters«. Das ist, als ob jemand in Europa von »Großindustrie« sprechen und einen Klempnerladen meinen würde. Gangs sind in China eine ebenso große Macht wie die Großindustrie in Europa, Gangsters beherrschen die Regierung, beherrschen die Polizei, beherrschen den Opiumhandel, halten die Organisation des Menschenraubs und des Sklavenhandels in Händen, heben Lösegeld ein und legen Steuern auf.

Jedoch die sechs Köpfe über der Wand fühlen sich nicht geschmeichelt dadurch, daß man sie einen Gang nennt, und die drei Köpfe der Richter fühlen sich nicht geängstigt dadurch, daß man ihr Gegenüber einen Gang nennt. Die kleinen Gangsters hängt man, oder wenn sie 94 nur ganz, ganz klein sind, so werden sie – wie die sechs da – auf einige Monate ins Loch gesteckt.

Der Nächste! Der Nächste hat falsches Geld ausgegeben. Dazu muß man wissen, daß in China von je fünf Talerstücken mindestens eines falsch ist; alle Wechsler lösen es mit einem Abzug von zwanzig Cents anstandslos ein. Jeder bessere General, jeder Ortsgewaltige macht sich sein Geld selber. Wer die Stanze hat, schlägt die Münze, nur der arme Verschleißer muß es büßen.

Der Nächste ist ein schreiender Stotterer mit flachem Schädel, einäugig; er bewegt die Finger, als wollte er ihrem Schatten die Kontur von Tieren geben, hört nicht zu, wenn er angesprochen wird, offensichtlich ein Irrer. Deshalb ist auch die Angeklagtenwand, das »Dock«, von zwei Polizisten flankiert. Angeklagter ist Fischer, hat gestern einen Reishändler, von dem er sich betrogen glaubte, überfallen und durch Messerstiche schwer verletzt. Der Fall wird auf nächste Woche vertagt, da der Überfallene in Lebensgefahr schwebt. Stirbt er, so erspart der Richter das Urteil, Totschlag und Mord sind seiner Kompetenz entzogen.

Der Nächste, der Nächste . . . Mit jedem tauchen Sergeanten und Konstabler der Zivilpolizei auf, sie belasten jeden, ebenso wie der Polizeianwalt jeden belastet und überdies Belastungszeugen führt. Entlastungszeugen und Verteidiger gibt es in der Halle der Bagatellen nicht.

Die Polizei schnappt den Armensünder nicht nur, sie erhebt auch beredt Klage gegen ihn und schleppt ihre Detektiv-Konstabler und ihre Detektiv-Sergeanten und sonstigen Belastungszeugen heran, sie nimmt den schließlich Verknackten am Wickel, und selbst im chinesischen 95 Kerker gehört er noch der Settlementspolizei, denn sie hat die Aufsicht über das Männergefängnis im Special-District-Court.

Statt für soviel Fürsorge dankbar zu sein, verlangen die Chinesen, die Ausländer sollen sich damit zufrieden geben, daß sie weder als Angeklagte noch als Beklagte vor dieses Gericht zitiert werden dürfen. Die Chinesen wollen ihr im Settlement gelegenes Gericht der fremden Oberhoheit entzogen sehen. Das wäre ja noch schöner! Das wäre ja noch schöner, wenn man es diesem Kuligericht kontrollos überließe, die von englischen Polizisten ausgeforschten Diebe und Bettler nach Gutdünken zu verdonnern oder laufen zu lassen. Morgen würden die Gelben fordern, daß auch englische, französische oder amerikanische Verbrecher sich vor einem gelben Richter verantworten, so wie sich jetzt außer den Chinesen nur Deutsche, Österreicher, Tschechoslowaken, Türken, Russen und so weiter zu verantworten haben.

In den höheren Stockwerken des Gerichtsgebäudes geht es um Delikte, die den Ausländern wichtiger sind. Vor dem Zivil- und vor dem Vollstreckungsgericht streitet der fremde Gläubiger mit dem chinesischen Schuldner. Hier fungieren Rechtsanwälte, europäische, deren Worte dem Gerichtshof übersetzt werden, und chinesische. Hier bringt sowohl der Kläger als auch der Beklagte Zeugen mit. Die Zeugen schwören nicht, weshalb (auf nach China!) Meineidsprozesse nicht das Repertoire der Gerichte bilden, und ebensowenig werden Verwandte oder Angestellte der Parteien als Zeugen zugelassen, weil das Gericht von vornherein annimmt, daß sie zugunsten ihres Chefs oder Verwandten aussagen. 96

Wenn es ums Geld geht, kämpfen die Parteien wilder, als wenn es bloß ums Leben geht. Wenn es ums Geld geht, sind nicht sie allein beteiligt, auch der Richter ist es. Und jetzt, jetzt ist es hoch an der Zeit, das Wort zu nennen, das nicht im Baedeker steht und doch eine große Verbreitung und eine große Bedeutung in China hat. Das Wort: squeeze.

Squeeze ist das, was der Minister von der Rüstungsindustrie und den Banken bekommt.

Squeeze ist das, was der Compradore dafür bekommt, daß er die Geschäftsgeheimnisse an die Konkurrenz verrät.

Squeeze bekommt der Portier vom Taxivermieter, der Koch vom Gemüsehändler, der »Boy Nummer 1« vom Kohlenhändler, die Hauskulis von allen Läden in der Nachbarschaft, der Zolleinnehmer vom Chauffeur, der Chauffeur vom Zolleinnehmer, die Frau des Beamten vom Lieferanten.

Squeeze bekommt und bezahlt die Kuomintang.

Squeeze bekommt der General von seinem Gegner.

Squeeze bekommt der Detektiv von den wohlhabenden Verbrechern, squeeze bekommt . . . nun, jeder bekommt oder bezahlt squeeze.

Squeeze, die Bestechung, europäisch-euphemistisch gesagt, die Provision, ist eines der politischen Argumente für die Aufrechterhaltung der Kolonialherrschaft: die Chinesen können sich nicht selbst verwalten, denn sie seien korrupt, jeder nehme squeeze.

Aber das Wort ist ein englisches Wort, und der amerikanische Rechtsanwalt, der einem Fremden mit Entrüstung schilderte, in welchem Maß die chinesischen Richter bestechlich seien, erfuhr die Zwischenfrage: 97

»Da ist es also wie in Chicago?«

In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß ein Diehard, ein englischer Stockkonservativer eine ähnliche Antwort erhielt, als er die rassenmäßige Minderwertigkeit der Chinesen mit ihrem Mangel an Wohnkultur beweisen wollte.

»Haben Sie schon irgendwo derart grauenvolle Wohnverhältnisse angetroffen,« fragte er rhetorisch, »wie in der Chinesenstadt von Shanghai?«

»Yes, Sir,« antwortete ihm jemand, »in Whitechapel.«

Man sieht, andere antichinesische Argumente sind um nichts stichhaltiger als das Argument, daß der Chinese squeeze nimmt. Jedenfalls hat kaum ein Chinese oder eine chinesische Körperschaft jemals soviel squeeze bekommen wie die Behörden der französischen Konzession von den Opiumschmugglern, den Spielkasinos, den Opiumhöhlen, den Bordellen, den Gangs.

Ohne Zweifel ist China von squeeze zerfressen, die Gerichtsbarkeit mit. Wir wissen das, aber wir können während unserer Studiengänge im Special-District-Court nicht feststellen, welches Urteil unentgeltlich und welches gegen Bezahlung gefällt wird. Da müßte man schon sehr schlau sein und eingeweiht dazu. Wir denken uns nur, daß das Amt eines bestochenen Richters ein ganz vertracktes ist. So ein Gauner im Talar braucht mehr Ortskenntnis in den Winkelzügen der Paragraphen und mehr Verschlagenheit als ein simpler, unbestochener Richter, der urteilen kann wie er lustig ist. Die Jurisprudenz der Bestechlichkeit hat keinerlei Lehrbücher und keine gedruckte Kasuistik, der Richter muß das Unrecht »schöpfen«, so zwar, daß eine allenfalls 98 unbestochene höhere Instanz diesem Unrecht Recht zu geben nicht umhin kann. Auch hat er dabei das Gesicht zu wahren, das Publikum des Tribunals soll glauben, die Wage der Themis neige sich ganz von selbst nach der Seite, auf deren Schale die Bestechungssumme gelegt ward.

Bloß ein einziger Senat nimmt keine Rücksicht auf höhere Instanzen und auf das Publikum. Der Saal, in dem dieser Senat tagt, ist groß, damit die Öffentlichkeit hereinströmen könne, aber die Öffentlichkeit hütet sich, hereinzuströmen. Als wir eintreten wollen, flüstert uns unser Begleiter zu: »Kommen Sie, kommen Sie weg, sonst geraten Sie in den Verdacht, sich für solche Dinge zu interessieren.«

Hier werden die Staatsverbrecher verhandelt, die Kommunisten. Der Senat gehört zum Oberlandesgericht, er fällt das Urteil und ist gleichzeitig die höhere Instanz, die es bestätigt. Wer des Marxismus verdächtig ist, wird nicht nach Gesetz und squeeze behandelt. Zwanzig Jahre Kerker oder Tod durch Erschießen oder Enthaupten sind sein Los. In letzterem Fall wird an einer besonders frequentierten Straßenecke der Kopf des Chinesen ausgehängt, mit dem man solcherart kurzen Prozeß gemacht hat. 99

 


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