Egon Erwin Kisch
China geheim
Egon Erwin Kisch

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Das Irrenhaus

Freunde, knallt mich nieder, wenn's mit mir so weit ist! Freunde, knallt mich nieder, wenn's mit mir so weit ist, und sollte man euch zur Verantwortung ziehen, so weist auf diesen Bericht und diese ausdrückliche Bitte hin, durch die sich eure Tat nur als mein Selbstmord von fremder Hand darstellt. Freunde, wenn's mit mir so weit ist, knallt mich nieder wie einen tollen Hund. »Wie einen tollen Hund . . .?« Ein toller Hund stellt noch eher ein Porträt seines früheren Selbst, seiner früheren Natur dar, als ein tollgewordener Mensch!

Warum das alles, warum? Quälend und unentrinnbar verfolgt dich dieses Wort »warum«, stellt sich dir in den Weg. Warum macht man nicht kurzen Prozeß mit Menschenleben, die keine mehr sind und keine mehr werden können, warum läßt man diese Wesen sich besudeln, sich verstümmeln, sich in Krämpfen winden, sich in unweckbaren Apathien verlieren, warum läßt man sie hungern, brüllen, um sich schlagen?

Dem, der europäische Irrenanstalten kennt mit ihren Korridoren der Tobsüchtigen, mit ihren Gummizellen, mag es unvorstellbar sein, daß es unter andern Himmelsstrichen schlimmer sein kann. Wer je ein Irrenhaus in 174 China sah, weiß es anders. Wenn ihr nicht wollt, müßt ihr nicht weiterlesen, dieses Buch hat Kapitel genug.

Wir waren im »Haus der Dämonen«. So nannten es die Leute, die wir in der Nähe des Pekinger Nordwesttors nach der Irrenanstalt fragten. Offiziell heißt sie Fong-Jen-Ju-Jüan und ist eine polizeiliche Gründung, ein Gewahrsam für gemeingefährliche Irre, der Anlage nach vom Pekinger Polizeigefängnis nicht unterschieden. Ein Yamen, ein geschlossener Komplex ebenerdiger, nach innen gerichteter Wohnhäuser umgibt die Höfe.

Ehemals war dieser Yamen an der Stadtmauer ein buddhistisches Kloster. Längst zerstört sind die holzgeschnitzten Zieraten, herausgebrochen die Fensterläden, weder Gitter noch Eisentore oder andere Schutzmaßnahmen wurden angebracht. Gegen Irrenhausflucht schützt man sich durch Wachen. In China ist der Mensch Auto und Kran und Maschine und Brücke und Telegrafendraht, warum sollte er nicht auch Schloß und Gitter und Tor und Alarmglocke sein? Menschen gibt es massenhaft in einem Reich, das überbevölkert ist, weil es unterbewirtschaftet ist. Wachen postieren das Tor und die Türen des wie ein Riegel querstehenden Verwaltungshauses.

Ein Regierungsarzt aus Europa darf eintreten durch die Sperre der uniformierten Mensch-Schlösser und uniformierten Mensch-Tore und uniformierten Mensch-Gitter. Mit den einem Regierungsarzt geziemenden Verbeugungen führt uns der Anstaltsleiter in sein Zimmer. Er ist kein Arzt, doch versteht er von der Psychiatrie ebensowenig wie ein Psychiater.

Über die Dämonen, nach denen wir zuvörderst fragen, 175 fühlt er sich zu lächeln bemüßigt. Gewiß, die Patienten und ihre Angehörigen bilden sich ein, ein böser Geist, gewöhnlich ein chu-li, ein Fuchs, sei in sie gefahren und hause nun in ihrem Leib, aber die heutigen Ärzte Chinas seien sich mit ihren europäischen Kollegen (höfliche Verbeugung) darin einig, daß solche Annahmen wissenschaftlich nicht beweisbar sind.

So weit allerdings (Verbeugung mit bedauerndem Ausbreiten der Arme), so weit können die chinesischen Ärzte nicht gehen, sich der europäischen Hypothese anzuschließen, Geisteskrankheiten hätten etwas mit dem Gehirn zu tun. Geisteskrankheiten sind von manchen Organen des menschlichen Körpers verursacht, insbesondere vom Magen, der Schleim- und Speichelabsonderung, vom inneren und äußeren Feuer(?), jedoch gerade der Kopf stehe keineswegs in irgendeiner Beziehung zum Irresein.

Vielleicht (leichtes Lächeln, Verbeugung) sei dies bei europäischen Patienten der Fall, chinesische Geisteskrankheiten stehen niemals mit dem Gehirn in Zusammenhang.

»Hauptsächlich kommt die Krankheit davon, daß die Atmung in umgekehrter Richtung erfolgt, nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben. Demgemäß behandeln wir die Patienten vor allem durch Stechen.«

(Hier schalten wir eine Erklärung des Stechens ein, das wir in der Ordinationsstunde einer chinesischen Ärztin in Shanghai zu sehen Gelegenheit hatten. Ihr Instrumentarium bestand aus einer Reihe von stricknadellangen Nadeln, deren jede – Suggestionsmedizin – in ein besonderes, farbiges Stück Seide eingepackt war. Wir sahen die Behandlung eines achtjährigen Mädchens, das 176 an Erbrechen litt, und die eines jungen Mannes, der über das Schwinden seiner Sehkraft klagte. Die Ärztin starrte die Patienten fünf Minuten lang unverwandt an, dann wählte sie sorgsam die zugeeignete Nadel aus. Ohne sie zu sterilisieren oder überhaupt zu reinigen, stach sie mit sicherer Hand das Kind in den Nabel, den Mann in die Wange. Mindestens drei Zentimeter tief waren die Stiche, das Blut spritzte hervor.)

Diese Art der Accupunctation ist also auch das Um und Auf der chinesischen Psychiatrie. »Außerdem,« fährt der Anstaltsleiter in seiner Erklärung fort, »versuchen wir durch Pillen und Salben die Atmung von oben nach unten zu leiten, wie es sich für eine richtige Atmung gehört.«

Und der Erfolg? Der Anstaltsdirektor zwinkert uns – sind wir doch ein Regierungsarzt – ein Augurenlächeln zu, ein schmerzlich umflortes: »Erfolg gibt es bei uns ebensowenig wie bei euch.«

Wer weist die Kranken ein?

»Gewöhnlich sind sie von der Polizei aufgegriffen. Manchmal schickt sie das Gericht, oder die Familie bringt uns einen Angehörigen, weil sie ihn zu Hause nicht mehr zu überwältigen vermag. Wir haben meist arme Leute, die für ihre Verpflegung nicht aufkommen können.«

Wie hoch ist das Budget der Anstalt?

»Oh, es ist sehr klein. Wir bekommen 700 Silberdollar (Mark) monatlich für die ganze Anstalt mit 150 Patienten, 90 männlichen, 60 weiblichen.«

150 Kranke sollen mit 700 Dollar einen Monat lang verpflegt werden?

»Nein, Sie haben mich mißverstanden. Die 700 Dollar sind unser ganzes Budget. Gehälter für mich, die Ärzte 177 und die Pfleger. Was übrig bleibt, ist für die Verpflegung der Kranken.«

Das macht für den Patienten ungefähr?

»Das macht für den Patienten ungefähr sechs Cents (Pfennig) pro Tag.«

Sechs Cents! Und die Beamten?

»Wir sind sehr schlecht bezahlt und werden in der Anstalt verpflegt.«

Man kann sich denken, daß das Essen der armen Angestellten auf Kosten der armen Patienten geht, ihrer Sechs-Pfennig-Kost abgezwackt wird. Was bekommen die Patienten zu essen?

»Brot und Gemüse.«

Wir sehen später das »Brot« und das »Gemüse«: ein zitronengelbes, zitronenförmiges Stück gegorenen Maismehls und einen ungesalzenen Pflanzenstengel, wie ihn der Straßenhändler in den Abfall wirft.

»Was wollen Sie,« sagt der Chinese zu seinem stirnrunzelnden Kollegen aus Europa, während wir den Rundgang beginnen, »die Patienten sollen hier geheilt werden oder sterben. Aber sie werden weder geheilt, noch sterben sie. Ist es bei euch anders?«

Damit haben wir bereits den Hof des Männerpavillons betreten. Gestalten, erbarmungswürdige Mißgestalten . . . Freunde, knallt mich nieder, wenn's mit mir so weit ist!

Es ist hier, wer würde das für möglich halten, grauenhafter als in den Irrenanstalten Europas. Dort verzögert man die Erlösung des Kranken, verhindert, daß er, der keinen Geist mehr aufzugeben hat, ihn endlich aufgebe, verlängert die Qualen vermittels Humanität und läßt die Toten unter hygienischen Vorkehrungen unbeerdigt. Tote, 178 wie diese da. Im Westen schafft man der Marter, die man nicht zu beenden wagt, einen hygienischen und ästhetischen Rahmen.

Im Osten aber . . . Schäumend und lallend und nackt und gefesselt liegt ein Kranker rücklings auf dem Steinboden, seine Arme sind unter den Schenkeln durchgezogen, so daß die Beine in die Höhe gestreckt sind. Vielleicht fesselt man in Europa mit milderer Methode, vielleicht auch ist die gleiche vonnöten, doch wird sie dann in camera caritatis angewendet, nicht im freien Hof vor den übrigen Patienten.

Allerdings: wenn hier die andern Kranken durch den Anblick des Fesselungsaktes in Erregung geraten, so ist dennoch kein Massenwutausbruch zu befürchten. Alle an manischen Erregungszuständen Leidenden sind ja gleichfalls festgekettet, entweder mit dem Handgelenk an den Fußknöchel oder mit zwei Spangenpaaren, von denen das eine die Füße, das andere die Hände zusammenhält.

Als wüßten die Mücken, wer ihnen nicht zu Leibe kann, schmatzen sie in dichter Schar auf den wehrlos gemachten Gliedern. Zwei oder drei Gefesselte vollbringen es, ihren Fächer zu schwingen; mit welchen Schmerzen das bißchen Kühlung erreicht wird, sieht man an den blutunterlaufenen Gelenken, an denen sich die Handschellen bei jeder Fächerschwingung scheuern. Aus zahnlosem Mund gellt das Lachen eines Mannes, der sich selbst befriedigt.

Wer im Stupor dasitzt, den wecken keine Moskitos und kein eintretender Fremder aus dem Zustand regungsloser Verlorenheit, er fächelt sich nicht und kratzt sich nicht und schreit dem Besucher keine Schimpfworte 179 entgegen und spuckt nicht nach ihm. Freunde, knallt mich nieder!

Nur durch ein Tor von der Männerabteilung getrennt sind die Frauen. Was drüben beinahe wie zugehörig schien, Zerlumptheit der Kleidung oder völlige Nacktheit der Patientenschaft (Anstaltskleidung gibt es nicht), hier bei den Frauen wirkt es wie die Kostümierung einer Hexenwelt.

Eine Frau macht auf dem Hof unausgesetzt Kotau, ihre Stirn ist wund vom Auf-den-Boden-Schlagen, sie beklagt ihr Schicksal, ihr Mann habe eine Konkubine ins Haus genommen und lasse sie, die rechtmäßige Gattin, hungern, weil sie ihm keinen Erben geschenkt. Sie fleht um einen Sohn.

Mit wirrem Haar liegt ein Mädchen gefesselt auf der Steinbank der offenen Massenzelle. Hier wird ein Genrebild aus dem vorigen Jahrhundert zur Wirklichkeit: so zornfunkelnd blickte die schwarzlockige Jungfrau drein, die man in der eroberten Stadt erbeutet hat und nun auf öffentlichem Bazar als Sklavin feilbot.

Eine euphorische Kranke lädt uns in ihre Zelle ein, um uns Süßigkeiten zu verkaufen. Sie zeigt ihr Warenlager, das nicht da ist. Nachdem sie solcherart ihre dramatische Begabung bekundet hat, will sie uns auch beweisen, daß sie lesen und schreiben kann. Aus einem nicht vorhandenen Buch liest sie vor, mit einem nicht vorhandenen Bleistift macht sie Notizen, immer auf zierliche Haltung bedacht.

Andere umdrängen uns bedrohlich, sie schreien von ihrem Dämon, der eine grausame Wahnvorstellung, und von ihrem Hunger, der eine grausame Wirklichkeit ist. 180 Hunger brachte die meisten aus dem Häuschen in das Haus, nichts nützte die Flucht in den Wahnsinn, auch in seinem Haus müssen sie hungern.

Hinter der Zahl der von der materiellen Not hierher Eingewiesenen bleibt Kategorie zwei, die hereditär Belasteten, Kategorie drei, die von Rauschgift, insbesondere Heroin, Zerrütteten, stark zurück.

Auch die seelischen Motive sind in der materiellen Not verwurzelt. Das ewige Bemühen des Chinesen, sein Dekorum, das »Gesicht« zu wahren, und eine Rolle in der Familie zu spielen, wird ihm durch die Armut unmöglich gemacht. Wird einem Rikschakuli der Wagen gestohlen, so fühlt er sich erniedrigt, wagt sich nicht mehr nach Hause und flüchtet in den Wahnsinn, wenn er nicht imstande ist, einen neuen Wagen zu kaufen. Hat eine Frau durch eine Fehlgeburt die Hoffnung der Familie auf einen männlichen Erben betrogen, so ist sie um so verzweifelter, je geschwächter ihr Körper von schwerer Arbeit ist. Sie wird verrückt bei dem Gedanken an ihre Zukunft, als eine unnütze Gattin verachtet zu sein und deshalb der Konkubine ihres Mannes dienen zu müssen. Ehre verloren, alles verloren, und der Arme verliert eben seine Ehre leichter als der Reiche. Das ist in China wie anderswo.

Wer durch sein Irresein Familie und Passanten nicht allzusehr behelligt, der kann ungestört durch Haus und Straße schlenkern. Wer aber einverleibt wird diesem infernalischen Orchester . . .

Freunde, knallt mich nieder, wenn's mit mir so weit ist, auch nur so weit, wie mit dem gutartigsten der Fälle, die wir heute gesehen. 181

 


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