Egon Erwin Kisch
China geheim
Egon Erwin Kisch

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Tempel der Züchtigungen

Peking, 15. Juni 1932.

Mein lieber Sohn!

Hiermit möchte ich Dich eindringlich dazu auffordern, immerdar das Laster zu meiden.

Sicherlich wirst Du Dich wundern, plötzlich diesen engherzigen Rat zu vernehmen von mir, Deinem Vater, dessen Lebensweise, schon soweit sie Dir bekannt ist, keineswegs mit einer solchen moralischen Aufforderung in Einklang steht. Wohl, mein Sohn, ich weiß seit heute, welch fürchterliche Strafen meiner harren. Es ist für mich zu spät, ihnen zu entgehen, vielleicht wäre es nicht zu spät zur Reue, – zum Abgewöhnen mir liebgewordener Sünden ist's zu spät . . .

Du jedoch, mein lieber Sohn, Du sei gewarnt. Erfahre, was ich heute erfuhr: jede Sünde, die Du begangen, jeder Frevel, dem Du gefrönt, jedes Laster, dem Du gehuldigt, jede Schuld, die Du auf Dich geladen, jedes Gebot, das Du verletzt, jede Unzucht, die Du getrieben, findet ihre reichliche Vergeltung.

Ich erfuhr es heute durch bewegte Gruppen farbiger Skulpturen. Es waren keine Kunstwerke, – im Reich der 201 Mitte, wohin gierig die Fremden kommen, um unserer Kunstgegenstände willen, in unserem Land China, wo jeder Leuchter, jede Vase, jedes Spielzeug, kurzum alles, die Tradition der Ahnen und die Laune des Meisters atmet, sind gerade die Statuen, die ich heute starren Auges erblickte, ganz ohne Geschmack geformt. In vielen, vielen Tempeln bin ich zeit meines Lebens gewesen, um die Mönche und Diener zu bewegen, mir heilige Bildsäulen und Geräte zu überlassen, – bei meinem heutigen Besuch im Tempel Schö-Ba-Jü fand ich zum erstenmal kein für den Weiterverkauf geeignetes Stück.

Das, was die fremden Curio-Händler, zumeist wenn sie vor einem ungefälschten Kunstwerk stehen, als Kitsch bezeichnen, das sind die Statuen dieses Tempels wirklich. Nun hat in unserem vieltausendjährigen, besonderen Reich alles seine vieltausendjährige, besondere Bedeutung. Auch der Kitsch. Hier will er sagen: die Gruppen sind keines Künstlers Eigenwillen entsprungen, sie stellen die krasse, plumpe, unverschönte, ungemilderte Wahrheit dar.

Ja, mein Sohn, die Wahrheit. Noch pocht mein Herz, noch bebt meine Hand, noch schlottern meine Knie angesichts dessen, was ich heute geschaut, schon pocht mein Herz, schon schlottern meine Knie angesichts dessen, was mich morgen erwartet.

Ich bitte Dich, mein Sohn: meide die Sünde. Meide sie. Folge meinem ausnahmsweise väterlichen Rat, damit Du nicht jeden fehlen Tritt bezahlen mußt mit Zinsen und Zinseszinsen.

Wahr ist allerdings: es wird Dir einstmals in einer schwachen Stunde leid tun, daß Du meinen heutigen Rat 202 befolgt hast. Du wirst dann vielleicht mit Bedauern an Schulden zurückdenken, die Du überflüssigerweise beglichen hast, an Mädchen, die Du edlerweise unverführt ließest. »Ach, warum habe ich Genüsse ungenossen gelassen,« wirst Du unwillig ausrufen, »all das nur wegen jenes moralpaukenden Briefes, den mir mein Vater am 15. Juni 1932 schrieb! Hätte ich diesem Rat doch nimmermehr gefolgt!«

In jener Stunde, mein lieber Sohn, in jener künftigen Stunde, in der Du mich verfluchen wirst, mache Dich auf und gehe nach Peking, und überzeuge Dich, daß ich Dich in meinem Schreiben de dato 15. Juni 1932 mit Recht gewarnt habe, und empfinde auch Mitleid mit Deinem Vater, dessen posthumes Schicksal Dir dort plastisch vor Augen geführt wird.

Für diese Deine späte Wallfahrt nach Peking muß ich Dir den Weg zum Tempel beschreiben, von dem ich eben – noch klappern meine Zähne wie ein Gong in der Hand eines Rasenden – zurückgekehrt bin.

Nicht gerne bringt Dich der Rikschakuli hin, er fürchtet die Tummelstätte der Höllengeister. Wohl zieht er Dich ostwärts durch das Tor Tschi-Dschö-Men, aber er macht auf der linken Straßenseite halt vor dem Tempel Tung-Juch-Miao.

Das ist nicht der richtige Tempel, – es sei denn, Du littest, was der Himmel verhüten möge, an einem Gebrechen. Nur wenn dem so wäre, dränge Dich durch die Menge im Schildkrötenhof, berühre das Bronzepferd an jener Stelle, an der Dein Leib krankt, und bete und opfere vor jener Nische, in der Deine Leidensgenossen, überlebensgroß aus Holz geschnitzt, beisammenhocken. 203 Ist's nur ein Furunkel, der Dich peinigt, so klebe ein Pflaster auf die entsprechende Stelle der entsprechenden Figur, Du erkennst die richtige sofort, sie ist ohnehin in ausgiebiger Weise auf Nase, Achselhöhlen, Nacken, Popo und Beinen mit Pflastern beklebt. Wenn Du Dir unterwegs Schnupfen oder Kolik geholt haben solltest oder eine Augenentzündung oder ein galantes Leiden (nein, das letztere kann nicht sein, denn Du kommst, obwohl Du nicht aus Holz bist, gerade wegen versäumter Freuden hierher), so begib Dich zur Gruppe Deiner Mitpatienten, die aus Holz sind. Berühre die Figuren dort, wo es Dich schmerzt, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Glied um Glied, es wird Dir besser werden.

Dann aber wandere von dannen. Wandere hundert Schritte östlich und kehre auf der rechten, der gegenüberliegenden Straßenseite ein. Den triefäugigen, aussätzigen Bettler mit der ausgestreckten Knochenhand, der Dir den Eintritt durch das enge Tor zu verkaufen sucht, schiebe beiseite, und Du bist im Tempel »Schö-Ba-Jü«, der achtzehn Teufelsprovinzen. Schon umringen sie Dich, umringeln sie Dich, umzingeln sie Dich, die Bezirks- und Unterbezirks-Funktionäre des Höllenreichs.

Ein quadratischer Hof. Seine Kontur ist ein Häuserkarree, vier langgestreckte, ebenerdige Gebäude mit achtzehn nach dem Hof zu offenen Räumlichkeiten. Bestien sind in den achtzehn Zwingern, und die Menge der Besucher staut sich vor ihnen. Doch sind die Bestien nicht lebendig, sondern aus geschnitztem, bemaltem Holz, und die Besucher nicht betrachtende Besucher einer Menagerie, sondern schaudernde Büßer. Du kannst erkennen, welcher Schuld sie sich schuldig fühlen, denn jeder steht 204 vor jenem Kotter, in dem die Strafe für sein Delikt veranschaulicht ist.

Er befürchtet nicht, sich durch seinen Platz zu verraten, und streift seine Nachbarn, die doch dadurch, daß sie als seine Mit-Beter und Mit-Opferer dastehen, sich auch als seine engeren Verbrecherkollegen, als Mit-Mörder, als Mit-Diebe oder als Schlimmeres offenbaren, mit keinem Blick. Sein Blick ist auf sein Schicksal im Jenseits gerichtet, ein entsetzter Blick.

Dein Blick aber, mein Sohn, braucht nicht entsetzt zu sein. Keines der Schicksale vor Dir harrt Deiner im Jenseits. Du bist ihnen entronnen durch die väterliche Warnung. Ich, Dein Vater, bin ihnen nicht entronnen, weil mich kein Vater auf diesen Tempel der abschreckenden Anschauung aufmerksam gemacht hat. Bedauerst Du noch immer, die Sünde vermieden zu haben?

Oder glaubst Du vielleicht, Du hättest sie unbemerkt begehen können? Jeder der achtzehn Statthalter hat zahllose Augen im Kopf, nicht die wagerechten, herausquellenden, also nichts sehenden Augen der fremden Teufel, sondern schiefe, geschlitzte, also scharf sehende Augen, er hat Augen auf den Hörnern, Augen im Haar und im Pelzkragen, den er um den Nacken geschwungen, ja, ich möchte wetten, er hat auch Augen auf der dem Beschauer abgekehrten Seite. Dieser Augenvielheit wäre nichts, was Du begangen, entgangen. Und alles ist notiert im großen Kontobuch an des Oberteufels Seite. Was sich nie und nirgends hat begeben, ist: daß je ein Debet einzutragen vergessen ward. Die Schuldner müssen zahlen mit ihren Qualen.

Höllenknechte, Scheusale mit Hundeschnauzen und 205 Krötenmäulern (wahrscheinlich ärmere Verwandte des höllischen Vizekönigs) vollstrecken die Exekution. Einem schneiden sie das Herz heraus, weil er, ein schlechter Diener, seinem Herrn entfloh, einem andern die Zunge, eine lügnerische, heuchlerische Zunge, was daran erkennbar ist, daß sie sich lang und schlangengleich in der Folterknechte Hände windet. Sieh den da! Sie zerren ihn an den Haaren zum Schafott, wo zwei andere knien; an ihnen hat der Henker sein Werk schon vollbracht, ihre Köpfe liegen zu ihren Füßen. Vielleicht waren es Weltverbesserer und Aufrührer? Dann geschieht ihnen recht!

Was aber, um aller achtzehn Teufel willen, was kann dieses kleine Kind begangen haben, das der hundeschnäuzige, krötenmäulige Büttel zwischen einer hölzernen Klammer zerquetscht? Nichts hat das Kind begangen, seine Zerquetschung ist nur eine Strafe für die Eltern, – hoffentlich wirst nicht auch Du, mein Sohn, für meine Schuld solch bestialische Marter erleiden. Ich würde das lebhaft bedauern. Besser aber ist es doch, im Kindesalter zu sterben, als sich – nächste Gruppe – die Haut vom Leibe schinden zu lassen, so zwar, daß das Antlitz mit Augen und Nase und Mund und Ohr vom gleichfalls bereits halbentblößten Arm herabhängt.

Pomadisiere Dein Haar nicht! Diesen Burschen hat man kopfabwärts an die Decke gehängt, damit all die Öle und Salben, mit denen er sich zeit seines Lebens gepflegt hat, herabrinnen. Wer nicht mit richtigem Maß verkauft, den biegen die Unterweltlümmel nach hinten, bis sich sein Hals an die Knöchel binden läßt, worauf er, an ein vom Plafond herabhängendes Seil geknüpft, baumelt wie ein Turner, der auf den Ringen das Nest macht. 206 Dabei ist er beschwert mit einem Gewicht; um soviel Taels er betrogen hat, soviel wiegt es, wehe mir!

Drei sind in und an eine glühende Röhre geschmiedet, die drinnen ist die Frau, die draußen die beiden Männer, mit denen sie es trieb, so und nicht anders ergeht es der Unzucht, wehe mir, wehe mir!

Hier steckt einer mit dem Kopf im Höllenkessel, dort wird einer, den man in einen klaffenden Baumstamm geklemmt hat, mitsamt dem Baumstamm zersägt. Hier müssen zwei ungetreue Frauen, eine blaugekleidete Gattin und eine rotgekleidete Konkubine, ihren Geliebten auffressen; ob solches für sie oder für ihn die Strafe sein soll, ist nicht ersichtlich, jedenfalls blicken die Frauen ausgesprochen unangenehm berührt drein, wogegen das Gesicht des Mannes schon verschlungen ist, und sein Ausdruck sich daher der Beurteilung des Beschauers entzieht. Wucherer und Meineidige werden Berge hinabgekollert, auf deren Hängen allüberall spitze, scharfe Messer klaffen, wehe mir, wehe mir!

Wer seine Rechnungen bei Lebzeiten nicht bezahlt, der glaube nur ja nicht, sich durch den Tod seinen Verpflichtungen zu entziehen. Jeder Pfennig gilt ein Körperglied, das ist die Valuta der Hölle. Und reichen die Gliedmaßen nicht aus, um die Schuldscheine einzulösen, dann muß man das Defizit beim nächsten Lebenswandel begleichen, indem man als Krüppel auf die Welt kommt. Hier knien zwei Schuldenmacher, neben ihnen präsentiert der Gläubiger dem Teufelsrichter die längst fälligen, doch nicht verfallenen Wechsel, und gierig strecken die Höllenhunde – Gerichtsvollzieher in ihrer wahren Gestalt! – die Zangen nach sämtlichen pfändbaren Körperteilen aus. 207

Ein frevelndes Paar. Es liegt im Bett, wie es oft gelegen. Doch ist es diesmal kein weicher Pfühl, kein »Kang« mit schwellenden Steppdecken, vielmehr eine Eisenplatte, auf der die zwei geschmort, gesotten und paniert werden, daß ihnen Hören und Sehen und auch Fühlen vergeht.

Fürchterliches, Lähmendes, Greuliches ist in Nummer achtzehn los, der Hölle aller Höllen. Dort thront der Teufelsoberste, Szepter und Saldokonto in Händen, und mißt jedem der Vorgeführten die Rolle zu, die er auf der nächsten Station seiner Seelenwanderung zu spielen haben wird.

Infernalisch grinsend, hohnfletschend händigen die Büttel einem Sünder sein Urteil ein, einen Fetzen zottiger Kamelhaut, das bedeutet, daß er das nächste Mal als Kamel auf Erden wandeln muß. Über den andern wird die anstrengende und nicht ungefährliche Existenz eines Tigers verhängt. Einem dritten überreicht man ein Stück Fischhaut als Muster seines Anzugs für die kommende Saison. Auch in der Haut des vierten möchtest Du nicht stecken, es ist die eines Hasen.

An der äußersten Linken aber steht einer, dem wird das Fell einer räudigen Ratte, – nein, kein Fell, die kahle, haarlose, mit Geschwüren bedeckte Haut einer großen Ratte wird ihm schadenfroh entgegengestreckt, denn er hat sich aufgelehnt gegen Herrscher und Obrigkeit und Priesterschaft.

Du siehst, die Strafen, die man im Diesseits Chinas dafür erleidet, wenn man gegen das Regime kämpft – neulich wurden fünf zwanzigjährige Dichter bei lebendigem Leibe begraben – sind noch human gegen die, die 208 im Jenseits Chinas für dieses Delikt gang und gäbe sind.

Um aller Götter und aller Teufel willen, mein Sohn, gehorche dem Herrscher und gehorche der Obrigkeit und gehorche den Priestern, mucke niemals auf gegen sie, auf daß Du wieder als Bürger und Steuerzahler zur Erde zurückkehren kannst, nachdem Du tot warst.

Dann kannst Du Dich, wenn irgendwo, irgendwann eine räudige, ratzekahle Ratte über Deinen Weg huscht, mit ruhigem Gewissen daran beteiligen, dieses Gezücht zu hetzen und zu schlagen, denn Du bist stets ein frommer Diener der jeweils Herrschenden gewesen, folgend dem Rate Deines

Dich herzlich grüßenden

Vaters Pa-Lo-Jü,      

Compradore in Shanghai.

NB.: Solltest Du als Folge der von Dir lebenslänglich unterlassenen Genüsse, beim Anblick der Greuel Wollust empfinden (wie einige junge Leute, die heute gleichzeitig mit mir diesen Tempel der Strafen besuchten), so braucht Dich das nicht zu bekümmern. Sadismus scheint kein strafbares Delikt zu sein, im Gegenteil: offen frönen ihm alle Teufel, und vielleicht behandeln sie gerade die so veranlagten Klienten wohlwollender.

Der Obige. 209

 


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