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Zu sehr wirbelt alles durcheinander, was man da sieht, hört und vor allem riecht.
Rampen und flache Treppengänge verbinden die einzelnen Lagerhäuser zu einem Komplex. Kulis wanken schwerbeladen den Rampenweg herab. »Ley-la, hui-la,« singen die vorne Gehenden, »ich komme, tritt zur Seite.« »Hui-la, hang-la,« fallen die hinten Gehenden ein, »tritt zur Seite, lass' mich vorbei.«
Ley-la, hui-la | |
hui-la, hang-la. |
Diese Aufforderung gilt nicht etwa uns oder sonst wem, sie singen auch, wenn sie niemanden darauf aufmerksam machen wollen, daß sie kommen, niemanden auffordern wollen, beiseite zu treten, sie vorbei zu lassen. Immer stöhnen sie diese Melodie, ob sie nun mit trippelndem, schaukelndem Schritt Lasten tragen oder ob sie – charakteristisches Straßenbild Shanghais –, beladenen Karren vorgespannt, zu fünfen oder zehnen, windschief, ja horizontal die Last zerren. Immer die gleichen sechs Silben senken sich die Rampe herab. 210
Ley-la | ||
hui-la | ||
hang-la. |
Alle fünf Minuten wird dieses Kuli-Lied vom Schrillen einer Schiffssirene verschluckt, und gleichzeitig verschwinden die Träger in der aus dem Schiffskamin hervorstoßenden Rauchwolke, so zwar, daß man die Warnung gerade in jenem Augenblick nicht hört, wenn sie vonnöten wäre; dorthin, woher der Rauchstoß kommt, auf das Schiff, ziehen die Kulis.
Schiff und Speicher liegen Seite an Seite, am Broadway, in Jangtsepoo Road und in Pootung, auf der andern Seite des Whangpoo, wo die Grundstücke billiger sind als im Internationalen Settlement.
Der Speicher wird hier »Godown« genannt, das erweckt die Vorstellung von einem backenbärtigen Londoner Kaufmann aus der Dickens-Zeit, der seinen Lehrling in den Keller schickt, einen Ballen Schirting zu holen: »Go down – geh' hinunter.«
Aber der Shanghaier »Godown« hat mit den englischen Worten »go down« nichts zu tun, der Name stammt vom malaischen Wort »gadong«, man geht auch nicht hinunter in den Godown, sondern steigt ihn hinauf, er ist kein patriarchalisches Kellermagazin, sondern ein moderner Betonbau. Wenn etwas an die Dickens-Zeit erinnert, so sind es die Arbeitsverhältnisse; der Londoner Kaufmann in Shanghai hält die Arbeitsbedingungen aus der Dickens-Zeit aufrecht und sorgt dafür, daß sie sich nicht einmal so weit ändern, wie sie sich in England geändert haben. 211
Während über die Fabriken von Shanghai Statistiken und soziale Untersuchungen veröffentlicht worden sind, gibt es keinerlei Literatur über die Speicher, obwohl in China weit weniger fabriziert als für den Handel manipuliert wird, und alle diese Manipulationen in den Speicheranlagen vor sich gehen.
Manche Exportfirmen haben eigene Godowns, manche Godowns gehören den Grundstücks- und Schiffahrtsgesellschaften, die die Räume an Firmen der verschiedenen Branchen vermieten, so daß man bei einem Rundgang durch einen Speicherkomplex die Struktur fast des ganzen Außenhandels und viele Arbeitsmethoden kennenlernt.
Die Türen stehen offen, Ware kommt herein, baumelnd an Bambusstäben und Kulischultern. Mit Ballen von Baumwollkernen keuchen Kulis die Rampe aufwärts.
hang-la. | ||
hui-la | ||
Ley-la |
Sie haben schwer zu schaffen, doch die Arbeiter, denen sie die Ware bringen, nicht minder. Ununterbrochen treten sie die Lintermaschine, ununterbrochen schlagen die Baumwollkerne an Räder und fallen heraus. Zurück bleiben kleine Härchen, die bisher an den Samenkernen hafteten, das mindestwertige Baumwollmaterial und doch noch zur Verarbeitung geeignet. Härchen und Staub wirbeln durch die Luft. Schmutzige Stapel von Baumwolle, aus der die Kerne erst gelintert werden müssen, sind entlang der Wände hochgeschichtet und liegen auch sonst überall umher; auf diesen grauen Hügeln essen die 212 Arbeiter und spielen die Kinder, die so klein sind, daß sie noch nicht einmal arbeiten können.
Benachbart: die Baumwollkrempelei. Abfälle und Reste aus Webereien und Spinnereien, Wolle und Baumwolle, werden von Frauen und Kindern nach Farbe und Material geordnet, auseinandergerissen und in die Urbestandteile zerlegt, ähnlich den Lumpen in Papierfabriken.
Kulis steigen herauf mit den Ballen unsortierten Abfalls.
hang-la. | ||
hui-la | ||
Ley-la |
Kulis steigen hinab mit sortiertem Material.
Ley-la | ||
hui-la | ||
hang-la. |
Aus langen Hallen, darin man Felle von Ziegen, Rehen, Wieseln und Kaninchen verpackt, dringen die Gerüche von Aas und Naphthalin in alle Räume und alle Galerien aller Stockwerke, lagern auf den Rampen, mischen sich mit dem Staub der Baumwollabfälle und der Bettfedern, mit dem Geruch der Därme und der Ölpfützen im Hof und mit dem Rauch der vor dem Haus anlegenden Dampfer.
Auf Körben vor Körben sitzen Frauen und Kinder, sie klauben aus dem Abfall der Seidenspinnereien die Kokonreste heraus und zupfen sie für die Schappe-Fabriken zurecht. 213
Bettfedern sind ein großer Export-Artikel. Hunderttausende von Enten des Jangtsetales werden im Frühjahr geschlachtet; man rupft sie nicht, sondern zieht sie durch siedend heißes Wasser, so daß das Federwerk von selbst abgeht, oft werden allerdings auch Teile der Haut, der Schwimmhäutchen und des Schnabels abgestreift. Man trocknet die Federn an der Luft, wobei man sie unausgesetzt umwenden muß, damit sie in der Glut der chinesischen Sonne nicht verschmoren oder gar durch Selbsterhitzung Feuer fangen. Auf ihnen herumtrampelnd, stampft man sie fest und verpackt sie zu Ballen von anderthalb bis zwei Piculs (90 bis 120 Kilogramm), die Native Bales. Viele Enten gedeihen im tümpelreichen China, viele Händler, weiße und gelbe, lauern auf ihr Gefieder. Die Bank bevorschußt den Exporteur, der Exporteur den Agenten, der Agent den Einkäufer und der Einkäufer den Züchter. So läuft das Geld, in umgekehrter Richtung läuft die Ware.
Nun ist sie hier im Speicher. Flügel- und Schwanzfedern, die nur als Düngemittel gut sind, werden abgesondert; der Rest wird von Ballast und unabsichtlichen Unreinlichkeiten, Kalk, gemahlenen Muscheln und Sand, befreit, indem man die Federn auf geflochtenen Sieben reibt. Staub- und Federwolken steigen in kompakten Schwaden hoch, alle in der Schleißerei arbeitenden Männer, Frauen und Kinder tragen ein Tuch um den Mund, sonst müßten sie ersticken, – das moderne Betonhaus kennt keine Ventilation und keine Entstaubungsmaschinen.
Daunen und Federn werden hydraulich zu Ballen von drei Piculs (180 kg – Wert etwa 350 Dollar) gepreßt; 214 während sich die Platten der Presse gegeneinander bewegen, zieht die Maschine dem Gefieder einen enganliegenden Mantel über, Gürtel aus nassem Reisstroh und Eisenbänder schnüren es fest.
Und die Schar der Kulis hebt die schweren Federballen auf ihre Bambusstangen und bewegt sich in gebückten Kolonnen vom Speicher herab zur Landungsbrücke der Seedampfer, indes aus den Flußdampfern die plump vernähten Beutel mit den ungereinigten Federn den Godown hinaufgetragen werden. Auf der Rampe kreuzen sich die Wechselgesänge der Kulis.
Ley-la | hang-la. | |
hui-la | ||
Ley-la | hang-la. |
Auch das Darmgeschäft wohnt im Godown und beteiligt sich mit einigen Oktaven an der Klaviatur der unerträglichen Gerüche. In China werden keine Würste erzeugt, und so können alle Därme nach Europa geliefert werden. Aus dem Innern des Landes und des Borstenviehs kommen sie hierher und werden unter Wasserhähnen mit Wasser gefüllt, bis sie prall sind. An der Stelle, an der sich der Darm verdickt, wird er abgeschnitten, damit man Stücke von einheitlichem Kaliber hat. Die Arbeiter stehen in Holzpantinen auf Holzrosten, manchmal auch bis zu den Knien im Wasser, während sie die Därme messen, schneiden und in abgedichtete Fässer verstauen. Geschwängert ist die Luft vom Geruch tierischer Verwesung und dem des ursprünglichen Darminhalts. Hier arbeiten keine Kinder, wird doch selbst den Erwachsenen speiübel von dem 215 Gestank. Wir wissen nicht, ob das Schrillen der Schiffssirenen uns der Ohnmacht nahebringt oder vor der Ohnmacht bewahrt.
Gerüche, in den Londoner Dockbezirken auf ganze Straßenzüge verteilt, hier sind sie in einem Gebäude vereinigt. Dieses Gebäude ist moderner als die Dockyards in London, so glatt aufwärtsgeführte, granitgrau glänzende Fassaden gibt es nicht an den Hafenbecken der Themse und ebensowenig die gut zementierten Rampen. Dagegen bewegen sich überall in den Londoner Docks große, schwergezimmerte Lastenaufzüge, elektrische Hebekrane mit klirrenden Ketten, bis in die Magazinhallen fahrende Betriebsbahnen und ganze Züge von Lastautos. Nichts dergleichen am Ufer des Whangpoo. Selbst der Stützbalken für die Aufzugswinde, der in europäischen Häfen schon vor 500 Jahren aus dem Giebel der Fachwerkhäuser ragte, ist für die Großstadt Shanghai noch nicht erfunden.
Wohlfeiler als die wohlfeilste Maschine ist der chinesische Mensch, seine Hände sind der Elevator, seine Arme die Ketten, seine Schultern das Lastauto, seine Beine die Betriebsbahn – diese Maschinen brauchen keinen Mechaniker, kein Treiböl, und ein Defekt kostet den Unternehmern nichts, wenn seine Maschine ein Mensch ist.
Raubbau statt Wirtschaft, Waffen statt Arbeitsmaschinen, Opium statt Nahrung, Missionare statt Lehrer, Polizei statt Gewerkschaften, das sind Europens Brautgeschenke an China. Sehet, höret, riechet und fühlet das Leben in den Godowns, sehet die Kinder im Baumwollstaub und Federflug, höret den stöhnenden 216 Gesang der Träger, riechet die Därme und die Felle und fühlet, was die Zivilisation des Westens hier getan und was sie unterlassen hat.
Nur wo es sich um Nahrungsmittel handelt, sind die Godowns sauber. 100 Millionen Tassen Tee trinkt täglich England allein, alles Exportware aus China und Ceylon. Mit Sorgfalt wird in den Teespeichern, poröse Bauten mit Holzböden, die nicht schwitzen wie die aus Eisenbeton, hantiert. Mögen die Pflücker auf dem Feld – sie pflücken 15 Pfund Teeblätter im Tag für einen Lohn von 6 bis 8 Cents (Pfennige) – noch so rücksichtslos gegen die englischen Teetrinker gewesen sein, im Teespeicher sind feine Siebe und gewaschene Hände am Werk, um kein Sandkörnchen und kein Erdkrümelchen auf den zu verschiffenden Blättern zu lassen.
Ebenso schwingt in den Eieranlagen, hellen Prachtbauten amerikanischer Firmen, im Interesse der Ware, im Interesse ihres Kunden, im Interesse seines Magens die Hygiene ihr Szepter. Die Arbeiter tragen weiße Kittel, blitzblank sind die Tische, auf denen die Eier aufgeschlagen werden, und die Trockenräume, in denen man Eiweiß und Dotter sondert, um sie zu verschiffen für die Nudel-, Makkaroni- und Mayonnaise-Fabriken.
Aus den Gefrierräumen tragen die Kulis die gewichtigen Kisten mit dem zerbrechlichen Inhalt durch die Sommerglut des Kais in die eisigen Kühlräume des Schiffes hinab.
Ley-la | ||
hui-la | ||
hang-la. |
217 Jeder Träger bekommt, wenn er das Landungsbrett passiert, ein Bambusstäbchen, das er dem Partieführer abgibt; soviel Stöcke er abgegeben hat, soviel Kupfer zahlt ihm der Partieführer aus, der festen Lohn bezieht. In den Manipulationsräumen der Godowns ist das Bambusstöckchen mit dem Firmenstempel die Lohnmarke für einen Tag, gewöhnlich 70 Kupfer (etwa 25 Pfennige) für zwölf Stunden Arbeit.
Kantine ist der Chow-Shop, der Gasthof, der im gegenüberliegenden Hausflur oder auf den Schultern eines Straßenhändlers seinen Platz hat. Von dort wird das Mittagessen geholt: ein Schlag Reis in den Napf, ein paar Tropfen grüner und roter Sauce und ein Stück Mehlgebäck. Kostet zwölf Kupfer. Dazu trinkt man heißes Wasser, für das man im Chow-Shop einen Kupfer bezahlt, oder Ziegeltee, billigsten, zu einer Pille gepreßten Abfall von Tee.
Exemplare der indogermanisch-kaukasischen Menschenrasse, von der wir in der Schule gelernt haben, daß sie Europa bevölkert, weiße Hautfarbe, offene wagrechte Augen, eine starke Nase und größeren Körperwuchs hat, kommen in den Godowns nur sehr selten vor, und zwar als Rechnungs- und Kontrollbeamte; sie machen zwei Schichten innerhalb der Zeit, die für die Angehörigen der mongolisch-chinesischen Menschenrasse eine Schicht ist.
Wir sehen einen Kuli, Kameraden umstehen ihn, nach ihren Ratschlägen verbindet er sich zwei Finger, die ihm eben zerquetscht wurden, mit Baumwolle und einem Stück Jute.
Verbandkästen oder gar eine Unfallstation gibt es 218 nicht, wohl aber Feuerlöschvorkehrungen, sogar Sprinkler-Anlagen, Wasserleitungen mit Weichblei verlötet, das bei einer Feuersbrunst von selbst schmilzt und die Räume automatisch unter Wasser setzt.
Unten parken die einrädrigen Wheelbarrows und warten darauf, daß zwei bis vier Erwachsene oder sechs bis acht Kinder rechts und links vom Rad Platz nehmen und von einem einzigen Mann sich nach Hause ziehen lassen.
Die Köpfe dieser erwachsenen und kindlichen Passagiere schaukeln kraftlos über der Brust, kraftlos hängen die Arme herab, die Chinas Waren für Europa und Amerika versandbereit gemacht haben, Daunen für Kissen, Eidotter für Mayonnaisen, Därme für Würste, Seide für Kleider, Felle für Pelzmäntel. 219