Egon Erwin Kisch
China geheim
Egon Erwin Kisch

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Parallel zum chinesischen Theater

I. Handtücher, Symbolik und Handtücher

Wenn man über chinesisches Theater schreiben will, so muß man wohl oder übel mit den Handtüchern beginnen. Denn noch ehe das Spiel auf der Bühne beginnt, hat das Spiel der Handtücher begonnen; die Handtuchtränker werfen die frischgenäßten Handtücher vom Seitengang aus dem Handtuchverleiher im Mittelgang zu, der Verleiher wirft die benützten zurück, und so schwirren die leinenen Vögel vor und während der Aufführung durch das Haus.

Das Publikum im unverdunkelten Zuschauerraum fährt sich mit den heißen, dampfenden Tüchern über Stirn, Hals, Ohren und Augen (die Verbreitung der Trachoma und der Pocken wird dadurch sehr begünstigt), außerdem fächelt man sich, trinkt Tee, spricht mit dem Sitznachbar, knackt Sonnenblumenkerne, knackt Mohnblumenkerne, knackt Melonenkerne, raucht Zigaretten und kauft Schokolade oder Reispasteten von den Händlern, die ununterbrochen entlang der Sitzreihen hausieren,

Fürwahr, der europäische Schauspieler würde sich ein anderes Publikum wünschen, und fürwahr, der 248 europäische Schauspieler hätte recht. Hingegen gibt es für den chinesischen Schauspieler kein idealeres Publikum als das chinesische.

Es kennt das Drama Wort für Wort, Geste für Geste. Schon das würde keinem europäischen Theatermann gefallen. Wie sagte doch jener Theaterdirektor, dem sein Dramaturg vorschlug, zu Schillers Geburtstag das »Lied von der Glocke« mit verteilten Rollen aufzuführen: »Lassen Sie mich in Ruh' mit solchen Sachen! Mein Publikum kann es auswendig und meine Schauspieler müßten es erst lernen.«

In China: das Publikum kann die klassischen Stücke auswendig, aber der Schauspieler noch besser. Er kann sie auswendig, obwohl er zumeist nicht lesen kann (umgekehrt wie in Europa), er hat sie in seiner Kindheit vom Lehrer gelernt, der seinerseits keine schriftliche oder gar gedruckte Rolle besaß. So geht es seit tausend Jahren.

Publikum ist auch auf der Bühne, es füllt sie dergestalt, daß sich der Auftretende kaum hindurchzuquetschen vermag, da es ihm schließlich doch immer gelingt, so wüßten wir nicht, was gegen den Aufenthalt von Zuschauern auf der Szene ernstlich einzuwenden wäre.

Geradezu begrüßenswert aber ist der Aufenthalt breiter Massen von Schaulustigen hinter der Bühne. Begrüßenswert vom Standpunkt des Mimen aus, der das Glück empfinden darf, auch vor seinem Auftritt und nach seinem Abgang die Blicke der Menge auf sich gerichtet zu fühlen. Begrüßenswert vom Standpunkt dieser Menge aus, die, keinerlei Eintrittsgeld bezahlend, durch die Seitentür hereingeströmt ist und nun sowohl die auf der 249 Bühne gesprochenen Dialoge hört als auch zusehen kann, wie sich die Schauspieler zurechtmachen.

Dieses Parkett der kostenlos Begeisterten heißt »Ting-Tsang-Chi«, wobei Ting: hören, Tsang: Schmarotzer und Chi: Theater bedeutet. Keiner vom Ting-Tsang-Chi sitzt, keiner trinkt Tee, keiner fächelt sich und keiner kühlt sich vermöge eines heißen Handtuchs, keiner hat das Recht, verzückt »chao, chao« zu rufen, wenn einem Darsteller eine Stelle genau so glückt, wie man sie von dessen Vorgänger und Vorvorgänger zu hören gewohnt ist. Stundenlang steht stumm und lauschend die Schwarzhörerschaft hinter den Kulissen.

Einer, der jeder Vorstellung jedes Theaters beiwohnt, ist Tang-Min-Huang. Er sitzt in einem gläsernen Schrein hinter der Bühne, und man könnte ihn leicht für ein Versatzstück halten, insbesondere bevor man sich daran gewöhnt hat, daß die Versatzstücke in China nicht hinter der Bühne versteckt werden, vielmehr fein säuberlich auf einem Requisitentisch coram publico bereit liegen. Von dort nimmt sie der Bühnenarbeiter, wenn sie gebraucht werden. Bevor z. B. die Fürstin, von einer leidenschaftlichen Eingebung des Augenblicks überwältigt, sich vor ihrem Gemahl auf die Knie werfen will, hat der Kuli längst den grüngoldenen Teppich hingebreitet, als hätte er diesen Gefühlsausbruch schon immer geahnt. Und wenn die Heldin einen Wahnsinnsausbruch markiert, so kommt ihr Garderobier, unbekümmert um den anwesenden und vom Wahnsinnsanfall zu überraschenden Mandarin, in Zivil auf die Bühne und hilft seiner Herrin kundig dabei, sich die Haare zu raufen und die Kleider zu zerreißen und dennoch schön und gesittet dazustehen; um sie 250 zu überzeugen, daß diese Verwandlung ästhetisch geglückt ist, nimmt der Garderobier schließlich einen Spiegel vom Requisitentisch und die Heldin besieht sich zufrieden darin.

Ja, alle Requisiten und alle Versatzstücke liegen auf der Bühne, und infolgedessen kann Tang-Min-Huang, der hinter der Bühne und hinter gläsernen Wänden sitzt, kein Requisit und kein Versatzstück sein.

Er ist ein Gott, der Gott des Theaters. Das konnte er leicht werden, da er schon vorher Kaiser war. Als solcher hat er das Theaterspielen und Musikmachen erfunden, um seiner geliebten Schwiegertochter Yang-Kwei-Fei (er liebte sie so sehr, daß er sie seinem Harem einverleibte) eine Unterhaltung zu verschaffen. Die Mitwirkenden schulte er selbst und führte in einem Birnengarten die Regie, weswegen die chinesischen Schauspieler noch heute »Studenten des Birnengartens« genannt werden, und in keinem Theater, auch in dem Mei-Lan-Fangs nicht, die Statue von Tang-Min-Huang hinter der Bühne fehlen darf.

Auch in dem Theater Mei-Lan-Fangs nicht. Das muß ausdrücklich gesagt werden, denn Mei-Lan-Fang hat vor kurzem in Amerika gastiert, ist dort Ehrendoktor geworden und kehrte derart begeistert von der Bühnenkultur dieses kulturvollen Ländchens zurück, daß er sich, ein schmiegsamer Eklektiker, anschickt, das chinesische Theater zu reformieren. Nun ist gegen das altchinesische Theater manches einzuwenden, aber es reformieren heißt soviel, als würde man Oratorien für Jazzmusik bearbeiten oder das Forum romanum im Stil neuer Sachlichkeit wiederaufbauen. 251

Das altchinesische Theater ist eine höfisch-feudale Kunstform, es dient der Glorifizierung von Dynastie und Adel und Mandarinentugend, – ein Eiapopeia für das Volk. Dieses Theater ist konservativ, in einem Maße konservativ, daß es jeden Zusammenhang mit dem Leben, auch nur die geringste Wirkungsfähigkeit auf die Zeit verloren hat.

So betrachtet das Publikum die Figuren, die da oben im Falsett sprechen, wie es ja kein Mensch spricht, die da oben Gesichter tragen, wie sie ja kein Mensch trägt, überhaupt nicht als Menschen, sondern als Fabelwesen. Für die Menge ist es, als tauschten Löwe und Nachtigall Gespräche. Man freut sich, wenn Großmütterchen Fabeln erzählt, und wollte sie eine Änderung anbringen, dann wären die Kinder bitterböse. Sie wollen die gleichen Gesten, die gleiche Stimmlage, die gleichen Worte.

Nein, Dr. honoris causa amer. Mei-Lan-Fang, Sie können das altchinesische Theater nicht reformieren, es muß als historische Kategorie stehen und fallen. Sie sind ja selbst eine Subspecies dieser Kategorie, Sie, der Mann in Frauenrollen, Sie, der Mann, der mit der Ferse auftritt, die Fußspitzen hochgehoben (so schreiten keine irdischen Weiber!), Sie, der Mann mit Falsett in der Stimme und Silberblumen im Haar, Sie, Dr. Mei-Lan-Fang. Die Vorgänge auf Ihrer Bühne vertragen keine Transfusion von Yankeeblut, vertragen überhaupt keine Transfusion, denn sie haben ebensowenig Blut wie die chinesischen Gemälde Schatten haben, weil sie unwirklich sind.

Wollen Sie lebende Pferde auf die Bühne bringen, wenn alle Leute in Ihrem Theater in dem Mann, der einen Flederwisch schwingt, ohnehin einen Reiter 252 erkennen, viel deutlicher, als säße er leibhaftig auf leibhaftigem Pferd?

Soll der Mann, der getötet ward, nicht mehr nach seinem Tode von der Bühne eilen, sondern als blutende Leiche liegenbleiben? Wozu? Seine Frau, eben zur Witwe geworden, beugt sich über den unsichtbaren Toten, Galerie und Parkett sehen den Leichnam körperlich vor sich, genau dort, wo er zu liegen hat und nicht liegt.

Wozu einen Festgenommenen brutal am Wickel packen, – die symbolisch ausgestreckten Hände eines Balletts von Häschern ist als konventionelles Zeichen für Verhaftung allgemein bekannt.

Vollkommen genügt ein weißer Anstrich des Gesichts, um zu zeigen, daß dieser Mandarin sein hehres Amt mißbraucht, – wollen Sie ihm die Hollywoodmimik der Intriganten anschminken? Was braucht der Schalksnarr Pritsche und Schelle und zwiefarbige Livree, wenn ihn doch schon ein weißes Pflaster auf der Nase als Schalksnarren kenntlich macht?

Wozu die Gefechte, diese barbarisch wilden und akrobatisch eleganten Tänze parallel gefochtener und parallel gefuchtelter, gewirbelter und geschwungener Lanzen, wozu sie realistisch hieb- und stichfest machen? Wozu Massenszenen für das Schlachtgewoge, wenn der Schwerterschwung eines bärbeißigen Jongleurs, schlimmstenfalls der getanzte Zweikampf zweier Partner genügt?

Wozu Kulissen bauen, wenn Großväter und Enkel wissen, daß das graue Banner, unter dem der Schauspieler hindurchschreitet, das Stadttor ist?

Wozu Dämmerung auf der Bühne, wozu überhaupt ein Beleuchter, wenn durch den Rhythmus der Musik 253 eindringlich (für des Westlers Ohren: zu eindringlich) die Stunde angezeigt ist, die den Übergang vom Tag zur Nacht bedeutet? Wozu eine Sänfte, wenn's reichlich ausreicht, daß der Träger hinter dem »Getragenen« hergeht und zwei Bambusstäbe zu dessen Seiten hält? Wozu ein raffiniertes Versteck für den Lauscher aufbauen, wenn der sich doch einfach auf den Tisch stellen kann, um alles zu sehen, ohne – ein approbiertes Als-Ob – gesehen zu werden.

Wozu Bühnenmaler und Bühnenarchitekten, wenn jedem Galeriebesucher die Erfüllung des faustischen Wunsches vom Ahnen her vererbt ist: er nennt einen Zaubermantel sein, der trägt ihn in ferne Länder, sobald sich die Personen seines Interesses dorthin begeben haben. Jetzt hat der Prinz zwei meterlange Fasanenfedern an seinem Hinterkopf aufgesteckt, also sind wir im Barbarenland und unser Prinz ist gefangen. Er hebt den Fuß, dieweil er schreitet, – plastisch sehen wir die Treppe, die nicht da ist.

»Ab durch die Mitte«, »Eintritt durch die Soffitte«, solcher Regieanweisungen bedarf es nicht; zwei Türen führen auf die Bühne, sie sind offen, nur mit einem Vorhang leicht verhängt. Durch die linke treten alle Schauspieler ein, durch die rechte treten sie ab. Außerdem gibt es überall Türen genug, man muß sie nur zu sehen gelernt haben. Wo immer jemand in ein Haus eintreten oder es verlassen will, braucht er bloß beide Hände auszustrecken, als schöbe er einen mächtigen Riegel zur Seite und stieße das Tor auf, ein stattliches Tor, deine Phantasie ist nicht imstande, sich ein stattlicheres auszudenken als gerade dieses. 254

Vermag man das alles zu ändern? Man vermag es nicht. Und der Reformismus – das ist ja sein Wesen – tastet auch das Fundament nicht an, er begnügt sich mit der Verschminkung von Symptomen. Was oben aufgezählt wurde, gehört zum Grundriß der höfisch-feudalistischen Bühnenkunst Chinas, und auch Mei-Lan-Fang kann daran nicht rühren. Wenn er dennoch modernisiert, verdirbt er nur. Er verbannt die Musikanten von der Bühne, er verbannt das Publikum von der Bühne und läßt nicht einmal hinter den Kulissen die wogende Menge der Schwarzhörer zu. In seinem Theater spielen Beleuchtungseffekte mit, er streicht die Handlung des Stückes zugunsten seiner Rolle zusammen und schreckt nicht davor zurück, sich in einer lyrischen Szene (im »Westzimmer«, dessen deutsche Übertragung Vinzenz Hundhausens Meisterwerk ist) mit plumpen Zoten Spezialerfolg zu holen.

So doktert der Doktor Mei-Lan-Fang, der im übrigen eine zarte und schöne Schauspielerin mit ergreifender Stimme ist, am altchinesischen Theater herum, ohne es retten und ohne es töten zu können.

Auch im Kai-Ming-Chi, in seinem Theater der Klarheit, verhindern es aller Glanz der Seide und alle Tricks der Regie keineswegs, daß im Zuschauerraum die Trachoma und Pocken verbreitenden Linnen durch die Luft schwirren, das Wurfspiel der Handtücher vor sich geht, mit denen man, wohl oder übel, beginnen und enden muß, wenn man über das chinesische Theater schreiben will. 255

 

II. Wir kaufen Kostüme ein

Er ist eine »Dan«, er spielt Frauenrollen, singt auf der Bühne mit sopraniger Kopfstimme, wandelt dort auf einer unsichtbaren, geraden Linie, als wäre er eine Seiltänzerin, und bewegt den Körper bei Geste und Gesang in der S-Linie. Im Privatleben ist er schwul. Heute geht er Kleider einkaufen, und ich darf ihn begleiten. (Honny soit qui mal y pense!)

Unsere Rikschas fuhren durch Tjen-Men-Da-Dje, die Straße des vorderen Tores in Peking, zu einem Laden, in dem es nur so wimmelte von Inhabern, Verkäufern, Lehrlingen, Kulis, die außerdem Brüder, Söhne, Neffen und weitläufige Verwandte voneinander sind. So geht es in den meisten Geschäften zu. Uns schien aber hier das Massenaufgebot von Personal um so fehler am Ort, als Theaterkostüme in China unmöglich ein Artikel sein können, der Andrang von Käufern erwarten ließe. Im Grunde untersteht jedes Drama, jedes Rollenfach und jeder Schauspieler einer strengen Uniformvorschrift. Wohl wird der Darsteller sein altes Gewand eines Tages gegen ein neues eintauschen, wohl wird er sein schönes Gewand eines Tages gegen ein noch schöneres eintauschen, aber da das altchinesische Theater ewig dieselben Stücke spielt, kann es keine Premieren-Ausstattungen, kann es keine Kostümsorgen geben. Oder doch?

Jedenfalls war im Nachbarladen der gleichen Branche nicht ein einziger Kunde anwesend, was daraus zu schließen war, daß der Inhaber mit Brüdern und Halbbrüdern, Kindeskindern und Geschwisterkindern, Vettern und Bauernvettern vor seiner Schwelle erschien, um neidisch 256 zuzusehen, wie wir uns aus unseren Rikschas schnurstracks in den Laden der Konkurrenz begaben.

In diesem trafen wir zwei Kunden. Der eine, meinem Freund bekannt, war Schauspieler wie dieser, aber von geradezu gegenteiliger Art: ein Djing. Ein Djing ist ein wilder Geselle, Räuberhäuptling oder Heerführer, furchtbar in seiner Kriegsbemalung; seine Augen sind verschminkt, die Theateraugen, die schreckenerregenden, über ihnen aufgemalt, er singt tief und schreitet breit. Hier im Laden, wo er in schlichtem Zivil war, um für einen seiner Schüler einzukaufen und daran zu verdienen, erblickten wir den Djing ohne zu schaudern, er erinnerte an einen Charakterspieler westlicherer Zonen.

Was den zweiten Kunden anbelangt, war er kein »Student aus dem Birnengarten«, sondern ein Geiger. Mein Freund behandelte ihn kühl. Die Verachtung galt dem Geiger als Geiger (obwohl der Schauspieler selbst auf einer sehr niedrigen Rangstufe, nämlich zwischen Krieger und Prostituierten steht), die Verachtung galt aber auch der Heterosexualität im allgemeinen und der Tatsache, daß sich diese Perversität im Theater einzubürgern beginnt.

Auf der chinesischen Bühne werden in neuerer Zeit Frauenrollen hie und da auch von Frauen verkörpert. Sie bedürfen, ebenso wie der männliche Darsteller, bei ihrem Spiel der ununterbrochenen Begleitung durch den Hu-Tschin, die zweisaitige Violine, die den Leibesrhythmus der handelnden Personen ausdrückt, ihr Lied untermalt. Noten gibt es nicht, die Musik muß durch monatelange oder jahrelange Zusammenarbeit auf die Darstellung abgepaßt sein, und der Schauspieler kann ohne 257 seinen Geiger gar nicht auftreten. Ist nun der Schauspieler eine Schauspielerin, so mißbraucht der Geiger oft seine vollkommene Unentbehrlichkeit, und droht mit Absage oder Kündigung, wenn die Partnerin nicht willens ist, ihm zu Willen zu sein.

Unser Mit-Kunde im Kostümladen, der Geiger, ist mit seiner Schauspielerin bereits so weit, daß er ihr Kostüme besorgen und die entsprechende Provision einstecken kann, welches Privileg früher nur der Lehrer des Schauspielers hatte.

»Mit den Frauen ist die Unzucht auf das Theater gekommen,« brummt mein Begleiter.

Ich schweige.

»Chinas Unglück ist die Nachahmung Europas.«

Ich senke mein Haupt.

»Ihr seid schuld!«

Ich bebe reuevoll. Zu meinem Glück werden wir von der Familie des Kostümeurs umzingelt und müssen unser Begehr nennen.

Wir bedürfen eines roten gestickten Röckchens und roter Hosen. Im dritten Akt des Stückes, das wir demnächst spielen werden, sollen wir unter dem Verdacht des Gattenmordes verhaftet werden, und auf dem Boden der altchinesischen Bühne darf keine auch noch so spontane, auch noch so überrumpelnde Verhaftung erfolgen, wenn die zu Arretierende nicht im roten Röckchen aufgetreten ist.

Ferner möchten wir eine hölzerne Halskrause erstehen, ein Brett, mit dem man im europäischen Mittelalter den Hals des Delinquenten umspannte, während in den beiden kleineren Löchern dieses Folterinstruments die 258 Handgelenke staken. In China gibt's das heute noch, sogar auf der Bühne, die sonst Realistik verschmäht, und sich mit symbolischen Gesten begnügt.

In dem Stück, in dessen Verlauf unsere Festnahme wegen Gattenmordes vorauszusehen ist, müssen wir das Halsbrett solange anbehalten, bis sich herausstellen wird, daß nicht wir, sondern die andere Gattin des Ermordeten die Missetat begangen hat.

Mehr als das. Wir müssen es – deutscher Theaterdirektor, schmunzle! – uns selbst kaufen. Wir wollen eines, das unserem Halse angemessen ist und in der Farbe zu unserem Gesichtchen paßt. Wir wollen es mit dunkelblauer Seide überzogen und mit Perlen bestickt, huch, nein. Nun ist aber in dem Lokal, das wir mit der Menge der Angestelltenverwandten, mit einem Studenten aus dem Birnengarten und einem Geiger teilen, weder das rote Gewand der Verhaftungsfähigkeit noch das zugehörige Halseisen aus Holz vorrätig. Wir sind hier sozusagen nur im Schaufenster, hier soll der Passant der Straße Tjen-Men-Da-Dje, gelockt von Seide und Farbe, einkehren, um für eine allfällige Liebhaberaufführung ein Kostüm zu erstehen, hier soll der Stammkunde eintreten, damit der benachbarte Konkurrent mitsamt Sippe vor Neid zerspringe, hier sollen Djing, der Wüterich, und Dan, die Schöne, und Tschau, der Komische, und Mo, der Begleiter, und Schen, der jugendliche Held, einander treffen und miteinander Tee trinken, bevor sie in die unterschiedlichen Kostümlager dieser fünf Rollenfächer geführt werden.

Unter vielköpfiger Eskorte gehen wir durch den Hinterausgang und durch das Gäßchen der 259 Sonnenschirmmacher zum Magazin der Frauenrollen. Lackierte Riesentruhen mit blitzblanken Schlössern bergen den Fundus instructus, feierlich und stückweise wird er hervorgeholt, feierlich und stückweise vor uns ausgebreitet, Brokate und Ornate. Mein Freund probiert Jacken, Röckchen und Höschen, er tut es schamhaft in einer dunklen Ecke.

Die Wahl ist, wie immer bei Damen im Modesalon, sehr schnell getroffen, die Farbe stand allerdings von vornherein fest, binnen zwei bis drei Stunden hat sich mein Freund für eine Toilette entschieden. Durchaus unser Geschmack sind die auf den roten Fond gestickten fliegenden Fische mit Mäulern von Pekinesenhündchen, durchaus unser Geschmack das kobaltblaue Futter. Die langen Ärmel, mehr Fittiche als Ärmel, werden mit weißer Seide so verlängert, daß sie fast bis zur Erde reichen. Ein weißseidener Rock gehört dazu, die Plisseestreifen sind durch Stiche in kleine Körbchen geteilt.

Innerhalb der wenigen, zur Auswahl und Anprobe des Kleides erforderlichen Stunden, wurde auch der Preis ausgehandelt (32 Silberdollar). Dann legte man uns verschiedene Tischdeckchen, Thronvorhänge und Kissen vor, Bühnengegenstände, die sich – deutscher Theaterdirektor, schmunzle! – der Schauspieler selbst kauft, damit sie zu seinem Kostüm passen.

Zeitraubender war die hölzerne Halskrause, obwohl alle hölzernen Halskrausen die gleiche Form, die eines stilisierten Fisches, haben, und diejenige, deren Lücken genau zum Hälschen und zu den Händchen meines Begleiters paßte, sich schnell herausfinden ließ. Die Farbe des Seidenbezuges und das Arrangement der Perlen 260 waren es, was uns die Wahl zur Qual machte. Schließlich wählten wir einen tiefdunklen Brokat und zeichneten das von uns gewünschte Ornament von Flitter und Perlen auf. Da wir aber unmöglich wissen können, ob das Folterinstrumentchen, wenn es fertig sein wird, zu unserm funkelnd roten Verhaftungskleide paßt, so ließen wir auch dieses unbezahlt zurück.

Nach kaum sechsstündigem Aufenthalt entfernten wir uns aus dem Magazin und kamen an dem Lager für Kriegerkostüme vorbei, wo unser schon vor uns eingetroffener Kollege, der Darsteller der Djing-Rollen, eine dreifache-dreieckige Flagge aussuchte, wie sie die rauhen Lenker der Schlachten am Rücken ihres Kostüms befestigt tragen; jedes Dreieck symbolisiert 10.000 Soldaten, ersetzt – amerikanischer Filmregisseur, schmunzle! – eine Komparserie von 10.000 Mann.

Wir verabschiedeten uns von unserm dreißigtausendfachen Kollegen, wobei er äußerte, er freue sich, uns morgen hier wiederzusehen, er werde auch da sein, um seine Auswahl zu beenden.

In den Büchern über chinesisches Theater steht übereinstimmend, daß alle Bühnenkostüme traditionsgebunden-feststehend sind, sich in den letzten neunhundert Jahren kaum geändert haben. 261

 


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